Autorschaft von Clemens von Alexandria
Die linguistische Analyse weist deutlich darauf hin, dass es sich um einen echten Brief des Clemens von Alexandria handelt. Andererseits haben verschiedene Autoren inhaltliche Diskrepanzen zum sonstigen Werk des Clemens festgestellt. Die meisten Autoren nehmen aufgrund der linguistischen Analyse an, dass der Brief echt ist.
Einordnung des geheimen Markus-Evangeliums
Gemäß den Zitaten im Clemens-Brief handelt es sich bei dem geheimen Markus-Evangelium um eine erweiterte Form des kanonischen Evangeliums.
Dass es eine erweiterte Version gegeben hat, ist heute ziemlich unbestritten. Ob es sich bei diesem geheimen Markus-Evangelium um eine ältere oder jüngere Fassung des kanonischen Evangeliums handelt, ist bis heute offen, und in diesem Punkt sind die Meinungen sehr unterschiedlich.
Aus der Echtheit des Briefs kann allerdings nur sicher geschlossen werden, dass um 170 n. Chr. in einer Bibliothek in Alexandria eine verglichen mit dem heutigen Text expandierte Version des Markus-Evangeliums existierte, von der eine vermutlich weitere Variante existierte, die von Karpokrates falsch ausgelegt und in seinem Sinn ergänzt worden war.
Jede Einordnung des geheimen Markus-Evangeliums kann von daher nur hypothetisch sein und ist praktisch überall nicht nur durch im Dokument inhärente Argumente, sondern auch durch die sonstige Sicht der frühchristlichen Literatur des Autors bestimmt.
Hypothesen
Eine gnostische Erweiterung des kanonischen Evangeliums
Die Mehrheit der Neutestamentler geht davon aus, dass es sich bei dem geheimen Evangelium um eine spätere Version des kanonischen Evangeliums handelt, das bereits in gnostischer Richtung erweitert wurde (Robert H. Gundry, 1993, N.T. Wright, 1996). Gerd Theissen schreibt in "Der historische Jesus" (2001): "Die Mehrheit der Ausleger sieht das geheime Evangelium als eine gnostische Revision des kanonischen Markus, die im zweiten Jahrhundert verfasst wurde. Dies wird unterstützt durch die Betonung ihres 'geheimen' Charakters und seinen Gebrauch in karpokratischen Kreisen, die es offensichtlich verwendeten, um bestimmte liturgische Gebräuche zu legitimieren." Klaus Berger in "Das Neue Testament und die frühchristlichen Schriften" datiert das geheime Evangelium auf etwa 130.
Begründet wird das durch die Bezeugung des Texts einzig in diesem einen Brief (auch beispielsweise nicht vom Clemens-Schüler Origenes, von dessen Schriften sehr viele erhalten sind) von einem Autor, dessen historische Genauigkeit bezüglich frühchristlicher Texte nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Auch wenn es glaubhaft ist, dass Clemens ein entschiedener Gegner der gnostischen Ketzer und selbst von der Echtheit dieses geheimen Markus-Evangeliums überzeugt war, stellt sich die Frage, wie weit man sich da auf sein Urteil verlassen kann. Bei anderen Texten hat sich Clemens nach heutigem Wissen sehr getäuscht, beispielsweise sagt er die apokryphischen "Predigten von Petrus" und die "Apokalypse des Petrus" seien von Petrus selbst geschrieben und erklärt auch andere apokryphische Texte für authentisch, die zeitgenössische Theologen als nicht-kanonisch ablehnen. Seine übrigen Schriften zeigen auch, dass er sehr viel für Geheimnisse, esoterische Lehren und mystische Erfahrungen übrig hatte.
Kritik: Die These von der nachträglichen Expansion verzichtet auf eine mögliche Erklärung für den jungen Mann in Mk 14,50-52. Sie liefert auch keine Erklärung für die Lücke in Mk 10,46, die bereits vor der Entdeckung des geheimen Evangeliums bekannt war. Auch wenn es in der theologischen Literatur alternative Erklärungen für diese beiden Punkte gibt, müsste den Autoren der gnostischen Erweiterung unterstellt werden, die sprachlichen Inkonsistenzen im Markus-Evangelium ebenfalls wahrgenommen und auf hochkomplexe Weise gelöst zu haben.
Eine Urform des Evangeliums
Eine kleine Gruppe geht davon aus, dass das geheime Markus-Evangelium älter ist als das kanonische Evangelium, welches eine gekürzte Form des geheimen Evangeliums darstellt: Helmut Koester beispielsweise hat zwei Studien publiziert, die argumentieren, dass sich Markus nach und nach entwickelt habe. Zuerst der Ur-Markus, den Matthäus und Lukas verwendet hätten. Danach sei der Original-Markus publiziert worden, die Version, die die alexandrinische Kirche besessen hätte (und aus dieser dann die gnostifizierte Version von Karpokrates). Bald darauf oder gleichzeitig sei eine gekürzte Version von Markus weithin publiziert und zum kanonische Markus-Evangelium geworden. Der Ur-Markus sei, ebenso wie die Logienquelle Q, nicht erhalten geblieben. Dominic Crossan in The Historical Jesus: "Die zweite Version von Markus strich diese Stellen, ließ aber ihre textlichen Überreste, die im Text verstreut waren, bestehen. Das dürfte etwa am Ende der 70er geschehen sein."
Diese These beruft sich auf zwei Stellen im kanonischen Markus-Evangelium. So heißt es dort anlässlich der Festnahme von Jesus Christus durch die Hohepriester:
"Ein junger Mann aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte [Jesus] nachgehen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon." (Mk 14,50-52)