Ratloses Entsetzen

Camajan schrieb:
Hallo Naivchen,

das kannst du gerne fordern, wie ein gewisser Prozentsatz der
Bevölkerung dies nach schweren Verbrechen nunmal lautstark
fordert. Emotional vielleicht verständlich, aber in keinem Rechtsstaat
zu verwirklichen. Im Gegenteil, das wäre der Bankrott des
Rechtsstaates.

Rechtsstaat???


Du kannst dich gerne empören, das ich richtig. Das Strafmass
liegt im Rahmen der Verfassung aber meist so, dass die allermeisten
es als "gerecht" empfinden, das Strafbedürfnis befriedigt wird
und der Rechtsfrieden wieder hergestellt ist. Dass dein Bedürfnis
nicht befriedigt wird, nimmt man halt am Rande zur Kenntnis.

Wie ich schon gepostet hab, geht es bei mir hier nicht bloß um den "Fall" Jessica...
es geht um all das Keid der Unschuldigen und Wehrlosen - sorry, wenn ich mich wiederholen muß....

...dann muß man halt die Verfassung ändern

es kann doch nicht sein, das ein kleiner Steuerzahlsäumer hinter Gitter muß und irgendjemand, der Tötet - ach, wie grausam - eine schlechte Kindheit hatte, oder "krank" ist - mit ner "kleinen Strafe davonkommt.
Das hat doch nichts mehr mit Rechtsstaat zu tun.

Ich hab jetzt garnicht geguckt, woher du bist, ich rede hier von Deutschland.

Es geht auch nicht gegen dich, oder deine Meinung, aber ich kann es, sorry, nicht anders vertreten.

liebe Grüße Naivchen
 
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@Naivchen

sei mir nicht böse, aber ich denke, Rachsucht ist eines der schlimmsten Übel der Menschheitsgeschichte.

LG
 
Naivchen schrieb:
...dann muß man halt die Verfassung ändern
Hi Naivchen,

Keine ordentliche Verfassung der Welt wird dahingehend
geändert, dass ein Strafzweck namens "Blutrache" etabliert
würde.

Das anzunehmen wäre reichlich naiv, Naivchen.

Naivchen schrieb:
" Stell dir vor, es ist Krieg und niemand geht hin"
Nur am Rande, weisst du eigentlich, wie dieser strunzdumme
Sponti-Spruch eigentlich weitergeht? Dann pass auf:

Stell Dir vor, es kommt Krieg und keiner geht hin - dann kommt der Krieg zu euch!

Na, das Weglassen des zweiten Teils verzerrt doch komplett den Sinn , gelle?

Stell Dir vor, es kommt Krieg und keiner geht hin - dann kommt der Krieg zu euch
Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und lässt andere kämpfen für seine Sache,
der muss sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will:
Denn es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.


(Mutter Courage, Bertie Brecht)

Wenn jemand dir den Krieg erklärt, und du trittst nicht an
um dich zu verteidigen, wirst du überrollt.

Wenn jemand deinem Freund den Krieg erklärt und du trittst nicht an
um ihn zu verteidigen, machst du mit dem Feind gemeinsame Sache.

DAS wollte Brecht sagen. Recht hat er.

Gruss
Camajan
 
Kinnaree schrieb:
Weil keine Strafe der Welt das Leid des Kindes ungeschehen machen kann.
Hallo Kinnaree,

klar, Strafe hat offenbar auch nicht den Zweck, Tote wiederzubeleben.

Kinnaree schrieb:
Weil aber andererseits, hätte irgendjemand ein Auge drauf gehabt, daß ein geistig behinderter Mann und eine sonderbare Frau nach der Wegnahme eines Kindes noch ein Kind in die Welt setzen, dieses Elend zu verhindern gewesen wäre.
Eine sehr gute Analyse der behördlichen Abläufe in diesem Fall
finde ich hier:

Behörden versagten

Aber wie dort schon geschrieben steht:

es ist jawohl das mindeste, dass die Behörden ihre Abläufe
so anpassen, dass kein weiteres Kind mehr unter den gleichen
Umständen verrecken muss.

Aber das ist ja nicht alles. Die Mörder hatten doch Familie,
Nachbarn, Freunde. Das soziale Netz hat hier genauso
katastrophal versagt.

Meine derzeite Schlussfolgerung ist, das der Staat diesem
zerbröckelnden Netz nicht trauen sollte, wenn es um das Wohl
eines Kindes geht. Da muss sich grundsätzlich was ändern.

Gruss
Camajan
 
Liebe Nithaiah,
Nithaiah schrieb:
ich gebe zu, dass ich dir hier nicht ganz folgen kann...
Möglicherweise hab ich's zu verkürzt und zu unklar formuliert.
Nithaiah schrieb:
Ich möchte meinen, dass wir keine Menschen mehr wären, wenn ein Grauen dieses Ausmaßes keine Emotionen auslösen würden.
Und zwar in ihrer ganzen Bandbreite, also auch mit allem ohnmächtigen Zorn, der sich hier einstellt.
das stelle ich keineswegs in Abrede, und darum ging es mir nicht, abzulehnen oder anzuprangern, daß wir schockiert sind, aufgewühlt, uns ohnmächtig, hilflos, wütend fühlen.
ich habe versucht anzudeuten, daß es mir ja auch so geht. ich habs aber nicht ausgewalzt, weil es nicht der zentrale Punkt meiner beiträge in diesem thread war, meinen entsprechenden Emotionen freien Lauf zu lassen.
Es ging mir stattdessen darum, warum wir uns so fühlen und warum es an dem punkt dann bei den meisten aber auch endet. Wo unser sonst so schnell und so oft beschworenes Mitgefühl hinverschwindet - in solch einem Fall.

warum das "verstehen wollen" kaum noch wirklich gefragt ist (und wenn, dann vielleicht noch aus -oberflächlicher- Neugier, aber nicht aus der Intention des wirklichen Verstehens, d.h.dem Ziel, vielleicht auch mitgefühl für die täter entwickeln zu können), sondern nur nach Vergeltung, Rache, Bestrafung gerufen wird. je härter desto besser.
(und vielleicht noch allenfalls versucht wird, behörden und reale oder vermeintliche "mittäter" ins visier zu nehmen und vielleicht noch was an maßnahmen zu (er)finden, um künftig sowas zu verhindern - auf behördlicher ebene.)

das meinte ich mit "Volksseele hochkocht". es ist dann sehr schnell eine Lynchstimmung da. Ohne Gefängnisse, Polizei, Justiz - was meinst du, wäre mit den Eltern passiert nach der Veröffentlichung der ersten Details des Falles?
Hintergründe werden da im Handumdrehen zur Randfrage, auch hier in diesem Thread klingt das oft explizit oder implizit an, obwohl sie m.E. die zentrale Frage dabei sind. nicht nur fürs Verstehen des Falles, sondern auch dafür, ob und inwieweit sich mensch ein Urteil über die Eltern anmaßt.
Nithaiah schrieb:
Ich glaube nicht, dass es sich um eine Geisteskrankheit handelt in ihrer vom medizinischen Standpunkt definierten Form. Ich denke hierbei an Sadismus in seiner übelsten und stärkst möglichen Ausprägung.
Versteh's nicht falsch, liebe Nithaiah, es soll kein Vorwurf sein, nur eine Beobachtung: du sortierst es beispielsweise gleich in die Rubrik "Sadismus" ein. Vielleicht ist das das Bild, das sich dir bietet, aufgrund deiner Informationen (vielleicht hast du ja andere und detailliertere als ich) und deiner Empfindungen dazu. Vielleicht ist das auch gerechtfertigt.
Vielleicht hat es aber auch gar nichts zu tun mit Sadismus?
Was wissen wir hier wirklich über die Hintergründe?
Nithaiah schrieb:
Warum ist die Forderung nach härteren Strafen hier anmaßend?
siehe oben. Gerichtsurteil und Strafmaß und Gesamtumstände der Tat müssen schon korrespondieren. Wozu aber eben gehört, daß die Gesamtumstände auch zutage gefördert und gewürdigt werden. Es hat mich irgendwie irritiert, daß dazu so wenig und allenfalls Andeutungen zu hören und zu lesen waren. Was gleichwohl etliche hier nicht davon abhält, trotzdem schon mal zu urteilen, daß die Strafen noch viel zu milde sind.
Zur "Vergeltung gleiches mit gleichem" siehe auch die Passage zur Entrüstung weiter unten
Nithaiah schrieb:
Du weißt, dass ich gegen die Todesstrafe bin und dabei bleibe ich auch.
Darüberhinaus kann die Strafe aber für solch ein Verbrechen nicht hoch genug sein.
Siehe voriger Absatz. Worauf stützt du dieses Urteil? Auf das Martyrium des Kindes und seinen Zustand am Ende seines Leidenswegs, nehme ich an. Worauf noch?
Nithaiah schrieb:
Wieso sollte es keine Rolle spielen, ob die Eltern für 5 oder für 50 Jahre ins Gefängnis gehen?
Natürlich spielt das eine Rolle, ich habe das offenbar mißverständlich formuliert, aber m.E. in nachfolgenden postings gegenüber camajan schon klargestellt. Deswegen will ich mich hier nicht wiederholen damit.
Ich wollte lediglich die beiden Eebenen auseinanderhalten und aufzeigen, die da für mich bestehen: die juristische (gesellschaftliche) und die menschlich-seelische...

Nithaiah schrieb:
Unbeteiligter Empörter? Na ich weiß nicht...
Sollte es nicht normal sein, dass Menschen in der Lage sind, mitzufühlen und sich auch zu empören über etwas, was Empörung verdient?
ich zähle dich nicht zu jenen, das mal gleich vorweg.
empfindest du das aber generell als zu harte kategorisierung meinerseits?
ich wollte deutlich machen damit, daß unser mitgefühl nicht der familie gilt, sondern beim toten kind bereits endet, beim opfer. Unbeteiligt meint hier, in keiner Weise zur Tat und den Umständen zugehörig. Es meint nicht "emotional unbeteiligt", im gegenteil, genau das ist das Thema: die emotionale Beteiligung faktisch/ursächlich Unbeteiligter. "Empörte" und deren Entrüstung meint dabei folgendes - es ist ein Text, der mir seit seiner ersten Lektüre hier irgendwo im Forum fest im Gedächtnis haften geblieben ist (und ja, jessica ist tot, für die Haarspalter unter uns; die folgenden Aussagen behalten m.E. trotzdem ihre prinzipielle Gültigkeit, schon gar im Hinblick auf den Entrüsteten und dessen eigene Dynamik). Hervorhebungen sind von mir.
Die Entrüstung

Wenn sich jemand über etwas Schlimmes entrüstet, dann scheint er auf der Seite des Guten zu stehen und gegen das Böse, auf der Seite des Rechts und gegen das Unrecht. Er tritt zwischen die Täter und Opfer, um weiterem Schlimmen zu wehren. Doch er könnte auch mit Liebe zwischen sie treten, und das sicherlich besser. Was also will der Entrüstete? Und was macht er wirklich?

Der Entrüstete verhält sich, als sei er ein Opfer, ohne es selber zu sein. Er nimmt für sich das Recht in Anspruch, von den Tätern Genugtuung zu fordern, ohne dass ihm selber ein Unrecht geschah. Er macht sich zum Anwalt der Opfer, als hätten sie ihm das Recht übertragen, sie zu vertreten, und lässt sie dann rechtlos zurück.

Und was macht der Entrüstete mit diesem Anspruch? Er nimmt sich die Freiheit, den Tätern Böses zu tun ohne die Furcht vor schlimmen persönlichen Folgen; denn da sein böses Tun im Licht des Guten erscheint, braucht er keine Strafe zu fürchten.

Damit die Entrüstung gerechtfertigt bleibt, dramatisiert der Entrüstete sowohl das erlittene Unrecht als auch die Folgen der Schuld. Er schüchtert die Opfer ein, das Unrecht im gleichen schlimmen Licht zu sehen wie er. Sonst machen auch sie sich in seinen Augen verdächtig und müssen fürchten, selber Opfer seiner Entrüstung zu werden, so als wären sie Täter.

Im Angesicht eines Entrüsteten können die Opfer ihr Leid und die Täter die Folgen der Schuld nur schwer hinter sich lassen. Bliebe es den Opfern und Tätern selbst überlassen, den Ausgleich und die Versöhnung zu suchen, könnten sie sich gegenseitig einen neuen Anfang gestatten. Doch vor Entrüsteten gelingt das nur schwer, denn Entrüstete sind in der Regel nicht eher befriedigt, bis sie die Täter vernichtet und gedemütigt haben, selbst wenn es die Leiden der Opfer verschlimmert.

Die Entrüstung ist in erster Linie moralisch. Das heißt, es geht hier nicht um Hilfe für jemanden, sondern um die Durchsetzung eines Anspruchs, als dessen Vollstrecker sich der Entrüstete darstellt und fühlt. Daher kennt er im Gegensatz zu jemandem, der liebt, kein Mitleid und kein Maß...."
Quelle:http://www.hellinger.com/deutsch/vi...nger/beitraege_zur_homepage/entruestung.shtml

Nithaiah schrieb:
Stephan, ich habe mich eingehend mit der Geschichte von einigen Serienmördern auseinandergesetzt, ich wollte verstehen können, was sie zu diesen Taten getrieben hat.
Das erwähne ich nur, um deutlich zu machen, dass ich durchaus versuche, immer beide Seiten zu verstehen. Bedeutet das aber auch, dass ich gefühlsmäßig unbeteiligt sein muss, ob des unsäglichen Leides eines anderen Menschen, eines Kindes noch dazu?
Selbstverständlich bedeutet es das nicht! Sollte es so herübergekommen sein in meinen Beiträgen, bitte ich um Entschuldigung.
Und: ich weiß, das du versuchst, beide Seiten zu verstehen. Insofern antworte ich hier in diesem beitrag zwar dir - aber die Antworten gelten nicht immer deiner person, falls du verstehst, was ich damit sagen möchte.
Das, was diese Eltern getan haben, schlägt das Repertoire von vielen prominenten Psychopathen noch um Längen.
siehst du, hier sind wir schon wieder mittendrin im potentiellen Urteilen: "schlimmer als die schlimmsten psychopathen"...
Nithaiah schrieb:
Nein, wie gesagt. Ich bin und bleibe ein Gegner der Todesstrafe.
ja, ich weiß. ich habs ja auch nur als gedankenspiel angeregt und niemandem ein ergebnis dieser überlegungen untergejubelt.
Das kann ich dir sagen: Weil hier nicht im Affekt gehandelt wurde, sondern mit einer langandauernden, unvorstellbaren Grausamkeit.
Es gehört doch einiges dazu, einen Menschen über Jahre hinweg wie in einem Kerker gefangen zu halten, um ihn langsam sterben zu lassen.
Noch dazu ein Kind und noch dazu das eigene Kind....
Wie kann man in seiner Wohnung leben, wenn man weiß, dass das eigene Kind im Zimmer nebenan qualvoll dahinsiecht und immer mehr zu einem noch lebenden Skelett wird?
ja, wie? wie geht das, warum, wie wird eine Mutter und ein Vater dazu - das genau ist die Frage!
Nithaiah schrieb:
Mein Mitgefühl geht hier nur soweit, als dass ich sagen kann, dass diese Eltern am Menschsein völlig vorbeigegangen sind.
den satz verstehe ich nicht. sind's keine menschen? was aber dann?

liebe Grüße
Stephan
 
Ich empfehle, für diejenigen, die Hintergründe und Umstände wirklich interessieren, sich die folgende Datei mal anzuhören:
6 Minuten Interview als abspielbare und auch als downloadbare Audiodatei (mp3) von Gisela Friedrichsen ,einer Gerichtsreporterin - dem Vernehmen nach, die, oder eine der besten, in Deutschland:

zum abspielen:
http://www.inforadio.de/media/real/3031022X_4CF54562B61645A4B9CFC9FE0DD64812.RAM
zum download (als mp3):
http://www.inforadio.de/media/mp3/3031022X_4CF54562B61645A4B9CFC9FE0DD64812.MP3

liebe Grüße
Stephan
 
Nithaiah schrieb:
Hallo an alle,

kann mir jemand vielleicht sagen, welche Gründe vorlagen, den Eltern das erste Kind wegzunehmen? Hat das jemand verfolgt und weiß vielleicht mehr?

Liebe Grüße, Nithaiah
vielleicht bringt das ein klitzeklein wenig Licht ins Dunkel - habs gerade gefunden im www:
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,372232,00.html
spiegel-online schrieb:
FALL JESSICA

Der halböffentliche Prozess

Von Gisela Friedrichsen

Marlies S. hat im Gerichtssaal Schreckliches gestanden: "Alles", so die Mutter der verhungerten Jessica, habe sie falsch gemacht. Dem qualvollen Tod ihrer Tochter sah sie tatenlos zu. Warum? Die Öffentlichkeit kriegt von der Aussage nur Teile mit. Und der Richter findet das gut so.

Hamburg - Es ist nicht zu begreifen: Die meisten Kinder, so die bedrückende Statistik, die durch ein Gewaltverbrechen zu Tode kommen, sterben durch die Hand ihrer Eltern. Sie werden getreten, geschlagen, gequält, bis sie nicht mehr weiterleben können. Jessica, das siebenjährige Mädchen aus Hamburg-Jenfeld, das rund fünf Jahre seines kleinen Lebens in einem kalten, verdunkelten Kinderzimmer-Kerker dahinvegetieren musste, starb am 1. März, abgemagert auf 9,6 Kilogramm - und die ganze Stadt, ja das ganze Land waren entsetzt.

Wie kann so etwas mitten unter uns geschehen? Wieso hat niemand in der Millionenstadt etwas bemerkt? Wem sind welche Versäumnisse anzulasten? Wie können solche Untaten verhindert werden? Und vor allem: Was sind das für Menschen, diese Eltern? Wer tut so etwas? Wer ist diese "Horror-Mutter"?

Der Tod von Jessica verstört. Er wühlt auf. Rachegefühle und Gewaltphantasien kommen auf. Das Verhalten von Menschen, ohnehin oft schwer verständlich, entzieht sich hier jeder schnellen, oberflächlichen Erklärung, es schreit nach böser Vergeltung. Nur in der langsamen, vorsichtigen Annäherung aber an Täter und Tat kann ein Bild gelingen, das Marlies S., 36, und Burkhard M., 49, gerecht wird und das der Vernunft Einblick gewährt in das Unbegreifliche: dass Menschen dem Sterben ihres Kindes untätig, gleichgültig, bisweilen vielleicht auch mit Hass gegen die eigene Tochter erfüllt zusehen können - ohne Bestien zu sein.

Die Öffentlichkeit hat Anspruch darauf zu erfahren, wie sich eine solche, jedermann aufwühlende Tat ereignen konnte, weil Jessicas Tod nicht nur Sache ihrer Eltern und deren Richtern ist. Er geht jeden Bürger dieses Landes an, der auch ein Recht hat zu erfahren, wie der Staat darauf reagiert. Doch nirgendwo, so scheint es, ist das so schwierig wie in Hamburg.

Daher ist die Öffentlichkeit zunächst einmal über die Hamburger Justiz zu informieren und darüber, dass es im Schwurgerichtssaal der Hansestadt nur 15 feste Plätze für Journalisten gibt. Nur wem es möglich ist, spätestens von 7 Uhr an vor dem Saal herumzulungern, ergattert einen davon. Der Rest hat sich hinter einer dicken Glaswand zu versammeln, wo selbst den Hellhörigsten nur Bruchteile von Wortfetzen erreichen.

"Kein Recht, alles zu verstehen"

Es ist auch darüber zu informieren, dass die Justizbehörden seit Jahren nicht in der Lage sind, in diesem Saal eine halbwegs ausreichende Mikrofonanlage zu installieren, ja, dass der Gedanke, ein paar Stühle mehr vor die Scheibe zu stellen, als undenkbar gilt. Für die Unterrichtung der Öffentlichkeit bedeutet dies, dass der Berichterstatter hinter der Scheibe entweder bei den Kollegen auf den Plätzen "in der ersten Klasse" abzuschreiben gezwungen ist - oder dass er sich etwas zusammenreimt, was einigermaßen authentisch klingt. "Die Öffentlichkeit", so der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg auf den Protest der akustisch ausgeschlossenen Zuhörer hin, "hat kein Recht darauf, alles zu verstehen und zu begreifen".

Hamburg rühmt sich, Medienhauptstadt Deutschlands zu sein. Nun ja. Und die Justiz beschwert sich gern über unzutreffende Berichterstattung und kritisiert die Veröffentlichung von Akteninhalten vor Prozessbeginn. Nun ja, da erfährt man wenigstens, worum es geht.

Marlies S. redet sehr leise. Etwas anderes war nicht zu erwarten. Welcher Angeklagte sagt schon mit fester Stimme: Ja, ich habe mein Kind verhungern lassen, ich habe mich nicht darum gekümmert, es war mir egal, ob es zugrunde geht. Dass sich der Vorsitzende im Lauf der Sitzung immer mehr den leisen Worten anpasst und das Mikrofon meidet - ebenfalls verständlich. Denn wie soll er sonst mit dieser von Weinen und Zagen geschüttelten Frau ins Gespräch kommen?

Ich hätte ihr gern zugehört, als sie von ihrer eigenen Mutter berichtete, die offenbar dem Alkohol verfallen war und fremde Männer ins Haus brachte. Die offensichtlich von ihrer Tochter nichts wissen wollte, dafür aber der "Onkel", von dem sich Marlies S. über zwei Jahre hinweg "betatscht" fühlte. Was war mit dem Vater? Und den Mitschülern, die vom Lebenswandel der Mutter offenbar wussten?

Geheime Schwangerschaft

Wie wuchs Marlies S. auf? Besaß sie Spielzeug? Puppen? Etwas, das sie als schön empfand? Sie schüttelt den Kopf. Mit 13 kam sie zu einer Tante. Mit deren Kindern habe sie sich nicht verstanden. Warum nicht? Dann die erste Schwangerschaft, ungewollt, mit 21. Bis vier Wochen vor der Geburt hielt sie sie geheim. Der erste via Mikrofon verständliche Satz: "Ich wollte nicht wissen, dass ich schwanger bin." Deshalb sei sie auch spät erst zum Arzt gegangen.

Vier Kinder hat Marlies S. zur Welt gebracht, alle ungewollt. Mit keinem Kind konnte sie etwas anfangen. Warum hat sie nicht verhütet, nicht abgetrieben? Warum sperrte sie offenbar schon das erste Kind in einen dunklen Raum, was die Tante als beängstigend empfand? Wie kam es zur Adoption? Dann wieder ein verständlicher Satz: "Die haben immer angerufen und gefragt, wie es dem Kind geht. Nie fragte einer, wie es mir geht."

Sie bemüht sich zu antworten. Das Sorgerecht für den Sohn und die Tochter aus ihrer Ehe mit Herrn S. bekam der Vater zugesprochen, obwohl es Bedenken gab wegen dessen Befähigung zur Kindererziehung. Wie hat sie reagiert? Hat sie sich gewehrt?

Dann die Scheidung. Die Geburt Jessicas. Sie hatte auf eigene Faust versucht abzutreiben. "Ging schief." Immer wieder: "Keine Erinnerung." Der Vorsitzende fragt, ob für sie bedeutungslos werde, was längere Zeit zurückliege. "Ist schwer zusammenzufügen", die Antwort. Wortfetzen: Jessica "wollte nicht raus" an die frische Luft. "Sie hat sich quergestellt." Hat sie sich Gedanken gemacht, warum das Kind so reagierte? Nein. Sie sei mit dem Kind im Jahr 2000 ins Freie gegangen, "bis der Sommer begann aufzuhören".

Der Vorsitzende fragt, was ihr wichtiger gewesen sei: dass Jessica immer in der Nähe war oder dass sie, die Mutter, auch mal einige Stunden für sich hatte? "Ich war nicht in der Lage loszulassen", sagt Marlies S.

"Alles falsch gemacht"

Die Nachrichtenagenturen berichten weitere Details: Die Mutter sei mit dem Kind nicht zum Arzt, nicht zu einer Erziehungsberatungsstelle gegangen: "Es war mir nicht möglich, ich habe es nicht geschafft." Jessica war auch nicht im Kindergarten. "Weil es mit der Sprache immer schlimmer wurde, wollte ich sie auch nicht in der Schule anmelden."

Das Kind habe sich zurückgezogen und wieder in die Hose gemacht. "Richtig trocken war sie nie." Als die Beziehung zum Vater Jessicas in eine Krise geriet, habe sie das Kind auch allein gelassen, um in eine Kneipe zu gehen. In der letzten Zeit habe Jessica jegliche Nahrung zurückgewiesen. "Was, glauben Sie, haben Sie falsch gemacht", fragt der Vorsitzende. "Alles."

Nur die Installation einer Stromfalle im Kinderzimmer, die Jessica das Leben hätte kosten können, weist Marlies S. zurück. Das Kind habe den Schalter selbst kaputtgemacht, und von einem unter Strom stehenden Kupferdraht wisse sie nichts. "Es fällt mir schwer, Ihnen das zu Glauben", sagt der Vorsitzende.

Ich hätte gern mehr über diese Angeklagte berichtet. Ich hätte gern versucht, ihr zuzuhören. Ich hätte gern ein wenig die Not dieser am Pranger des Abscheus stehenden Frau beschrieben und um Verständnis geworben, soweit dies überhaupt möglich ist. Denn ich glaube nicht, dass Marlies S. eine Bestie ist. Doch leider gehörte ich zu jenen, die kein Recht haben, "alles zu begreifen".
 
Danke, Stephan, für die umfassenden Informationen.

Wohin immer ich in diesem Fall schaue, ich sehe nur tiefstes Elend. Irgendwie so still mitten in den Menschenmassen der Großstadt völlig einsames, isoliertes Elend. Das mich nur nachdenklich macht. Genugtuung ist hier ein völlig falscher Begriff, paßt nicht. Es ist nicht genug getan worden, das ist es.
Eine KRANKE Frau (psychisch, geistig) hätte Hilfe gebraucht - und es kam nicht dazu. Ich kenne genügend zerstörte Seelen persönlich, um zu wissen, welch eine massive, jahrelange Intensivbetreuung da nötig gewesen wäre. Drum sagte ich als allererstes, hier gehts um eine Krankheit (über Definition dieses Wortes läßt sich streiten, aber eine Form von Krankheit liegt vor.) Ich weiß in diesem Fall halt, wovon ich spreche. Es ist kein angenehmes Wissen.

Wir sind nicht hier, um Steine zu werfen.
 
Kinnaree schrieb:
Wohin immer ich in diesem Fall schaue, ich sehe nur tiefstes Elend. Irgendwie so still mitten in den Menschenmassen der Großstadt völlig einsames, isoliertes Elend. Das mich nur nachdenklich macht. Genugtuung ist hier ein völlig falscher Begriff, paßt nicht.
Hallo Kinnaree,ja, so empfinde ich es auch.

Ich habe noch etwas gefunden (leider ist der komplette Spiegel-Artikel nicht frei abrufbar). Das Fazit, das Frau Friedrichsen da bereits zu Beginn des Prozesses zieht, es spricht sehr gut das aus, was ich auch empfinde und die ganze Zeit -mehr oder minder geglückt- versuche, auszudrücken:
Eltern, die mit Kindern so umgehen, wirken verstörend. Sie flößen Furcht ein, dass Menschen so sein können. Sie lösen bitterböse, erbarmungslose Emotionen aus. Doch wenn sie je erkennen sollten, welche Schuld sie auf sich geladen haben - der Strafprozess kann dabei ein erster Schritt sein -, gibt es keinen Grund mehr für Verdammungsurteile. Dann bleibt nur noch Erbarmen mit Menschen, die sich die Hölle selbst geschaffen haben.
http://www.20six.de/kielanwalt/archive/2005/08/25/1jpp8q34op12u.htm

liebe Grüße
Stephan
 
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Kinnaree schrieb:
Und genau hier hat in diesem Fall das System versagt. Ein Kind muß eingeschult werden, das geschieht nicht, und NIEMANDEM fällt es auf? Keinem Schuldirektor, keinem Stadtschulrat (oder wie auch immer das in Deutschland heißt), keinem Jugendamt? Aber wehe, du willst mit deinem Kind 2 Tage länger Urlaub machen als die offiziellen Ferien dauern, da sind sie sofort da zum Strafe kassieren? Und zum Schwierigkeiten machen?

Und aus genau diesem Grund kritisiere ich in diesem Fall das System. Das nicht dazu da ist, uns einzelne von unserer Verantwortung zu befreien, da gebe ich dir vollkommen recht. Das aber dazu da sein sollte, die Schwächsten zu beschützen.

Für mich persönlich wirft dieser Fall mehr Fragen auf als ein Richterurteil beantworten kann.

Hallo Kinnaree

Auch hier sehe ich kein Systemversagen. Das System würde erst dann versagen wenn es auf solche Vorkommnisse nicht vorbereitet wäre.
Doch das ist es ja. Es gibt Mittel und Wege zum Schutz des Kindes.
Aber wenn MENSCHEN ( Sachbearbeiter der Behörden u.s.w) zu faul oder nicht gewillt sind sie durchzusetzen, dann versagt nicht das System, sondern der Mensch.
Und ich hoffe (wenn ich es auch nicht glaube) das diese Menschen die durch Nichtstun zu Tätern wurden auch zur Verantwortung gezogen werden.

Liebe Grüße
Galahad
 
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