Liebe Nithaiah,
Nithaiah schrieb:
ich gebe zu, dass ich dir hier nicht ganz folgen kann...
Möglicherweise hab ich's zu verkürzt und zu unklar formuliert.
Nithaiah schrieb:
Ich möchte meinen, dass wir keine Menschen mehr wären, wenn ein Grauen dieses Ausmaßes keine Emotionen auslösen würden.
Und zwar in ihrer ganzen Bandbreite, also auch mit allem ohnmächtigen Zorn, der sich hier einstellt.
das stelle ich keineswegs in Abrede, und darum ging es mir nicht, abzulehnen oder anzuprangern, daß wir schockiert sind, aufgewühlt, uns ohnmächtig, hilflos, wütend fühlen.
ich habe versucht anzudeuten, daß es mir ja auch so geht. ich habs aber nicht ausgewalzt, weil es nicht der zentrale Punkt meiner beiträge in diesem thread war, meinen entsprechenden Emotionen freien Lauf zu lassen.
Es ging mir stattdessen darum, warum wir uns so fühlen und warum es an dem punkt dann bei den meisten aber auch endet. Wo unser sonst so schnell und so oft beschworenes Mitgefühl hinverschwindet - in solch einem Fall.
warum das "verstehen wollen" kaum noch wirklich gefragt ist (und wenn, dann vielleicht noch aus -oberflächlicher- Neugier, aber nicht aus der Intention des wirklichen Verstehens, d.h.dem Ziel, vielleicht auch mitgefühl für die täter entwickeln zu können), sondern nur nach Vergeltung, Rache, Bestrafung gerufen wird. je härter desto besser.
(und vielleicht noch allenfalls versucht wird, behörden und reale oder vermeintliche "mittäter" ins visier zu nehmen und vielleicht noch was an maßnahmen zu (er)finden, um künftig sowas zu verhindern - auf behördlicher ebene.)
das meinte ich mit "Volksseele hochkocht". es ist dann sehr schnell eine Lynchstimmung da. Ohne Gefängnisse, Polizei, Justiz - was meinst du, wäre mit den Eltern passiert nach der Veröffentlichung der ersten Details des Falles?
Hintergründe werden da im Handumdrehen zur Randfrage, auch hier in diesem Thread klingt das oft explizit oder implizit an, obwohl sie m.E. die zentrale Frage dabei sind. nicht nur fürs Verstehen des Falles, sondern auch dafür, ob und inwieweit sich mensch ein Urteil über die Eltern anmaßt.
Nithaiah schrieb:
Ich glaube nicht, dass es sich um eine Geisteskrankheit handelt in ihrer vom medizinischen Standpunkt definierten Form. Ich denke hierbei an Sadismus in seiner übelsten und stärkst möglichen Ausprägung.
Versteh's nicht falsch, liebe Nithaiah, es soll kein Vorwurf sein, nur eine Beobachtung: du sortierst es beispielsweise gleich in die Rubrik "Sadismus" ein. Vielleicht ist das das Bild, das sich dir bietet, aufgrund deiner Informationen (vielleicht hast du ja andere und detailliertere als ich) und deiner Empfindungen dazu. Vielleicht ist das auch gerechtfertigt.
Vielleicht hat es aber auch gar nichts zu tun mit Sadismus?
Was wissen wir hier wirklich über die Hintergründe?
Nithaiah schrieb:
Warum ist die Forderung nach härteren Strafen hier anmaßend?
siehe oben. Gerichtsurteil und Strafmaß und Gesamtumstände der Tat müssen schon korrespondieren. Wozu aber eben gehört, daß die Gesamtumstände auch zutage gefördert und gewürdigt werden. Es hat mich irgendwie irritiert, daß dazu so wenig und allenfalls Andeutungen zu hören und zu lesen waren. Was gleichwohl etliche hier nicht davon abhält, trotzdem schon mal zu urteilen, daß die Strafen noch viel zu milde sind.
Zur "Vergeltung gleiches mit gleichem" siehe auch die Passage zur Entrüstung weiter unten
Nithaiah schrieb:
Du weißt, dass ich gegen die Todesstrafe bin und dabei bleibe ich auch.
Darüberhinaus kann die Strafe aber für solch ein Verbrechen nicht hoch genug sein.
Siehe voriger Absatz. Worauf stützt du dieses Urteil? Auf das Martyrium des Kindes und seinen Zustand am Ende seines Leidenswegs, nehme ich an. Worauf noch?
Nithaiah schrieb:
Wieso sollte es keine Rolle spielen, ob die Eltern für 5 oder für 50 Jahre ins Gefängnis gehen?
Natürlich spielt das eine Rolle, ich habe das offenbar mißverständlich formuliert, aber m.E. in nachfolgenden postings gegenüber camajan schon klargestellt. Deswegen will ich mich hier nicht wiederholen damit.
Ich wollte lediglich die beiden Eebenen auseinanderhalten und aufzeigen, die da für mich bestehen: die juristische (gesellschaftliche) und die menschlich-seelische...
Nithaiah schrieb:
Unbeteiligter Empörter? Na ich weiß nicht...
Sollte es nicht normal sein, dass Menschen in der Lage sind, mitzufühlen und sich auch zu empören über etwas, was Empörung verdient?
ich zähle dich nicht zu jenen, das mal gleich vorweg.
empfindest du das aber generell als zu harte kategorisierung meinerseits?
ich wollte deutlich machen damit, daß unser mitgefühl
nicht der familie gilt, sondern beim toten kind bereits endet, beim opfer. Unbeteiligt meint hier, in keiner Weise zur Tat und den Umständen zugehörig. Es meint nicht "emotional unbeteiligt", im gegenteil, genau das ist das Thema: die emotionale Beteiligung faktisch/ursächlich Unbeteiligter. "Empörte" und deren Entrüstung meint dabei folgendes - es ist ein Text, der mir seit seiner ersten Lektüre hier irgendwo im Forum fest im Gedächtnis haften geblieben ist (und ja, jessica ist tot, für die Haarspalter unter uns; die folgenden Aussagen behalten m.E. trotzdem ihre prinzipielle Gültigkeit, schon gar im Hinblick auf den Entrüsteten und dessen eigene Dynamik). Hervorhebungen sind von mir.
Die Entrüstung
Wenn sich jemand über etwas Schlimmes entrüstet, dann scheint er auf der Seite des Guten zu stehen und gegen das Böse, auf der Seite des Rechts und gegen das Unrecht. Er tritt zwischen die Täter und Opfer, um weiterem Schlimmen zu wehren. Doch er könnte auch mit Liebe zwischen sie treten, und das sicherlich besser. Was also will der Entrüstete? Und was macht er wirklich?
Der Entrüstete verhält sich, als sei er ein Opfer, ohne es selber zu sein. Er nimmt für sich das Recht in Anspruch, von den Tätern Genugtuung zu fordern, ohne dass ihm selber ein Unrecht geschah. Er macht sich zum Anwalt der Opfer, als hätten sie ihm das Recht übertragen, sie zu vertreten, und lässt sie dann rechtlos zurück.
Und was macht der Entrüstete mit diesem Anspruch? Er nimmt sich die Freiheit, den Tätern Böses zu tun ohne die Furcht vor schlimmen persönlichen Folgen; denn da sein böses Tun im Licht des Guten erscheint, braucht er keine Strafe zu fürchten.
Damit die Entrüstung gerechtfertigt bleibt, dramatisiert der Entrüstete sowohl das erlittene Unrecht als auch die Folgen der Schuld. Er schüchtert die Opfer ein, das Unrecht im gleichen schlimmen Licht zu sehen wie er. Sonst machen auch sie sich in seinen Augen verdächtig und müssen fürchten, selber Opfer seiner Entrüstung zu werden, so als wären sie Täter.
Im Angesicht eines Entrüsteten können die Opfer ihr Leid und die Täter die Folgen der Schuld nur schwer hinter sich lassen. Bliebe es den Opfern und Tätern selbst überlassen, den Ausgleich und die Versöhnung zu suchen, könnten sie sich gegenseitig einen neuen Anfang gestatten. Doch vor Entrüsteten gelingt das nur schwer, denn Entrüstete sind in der Regel nicht eher befriedigt, bis sie die Täter vernichtet und gedemütigt haben, selbst wenn es die Leiden der Opfer verschlimmert.
Die Entrüstung ist in erster Linie moralisch. Das heißt, es geht hier nicht um Hilfe für jemanden, sondern um die Durchsetzung eines Anspruchs, als dessen Vollstrecker sich der Entrüstete darstellt und fühlt. Daher kennt er im Gegensatz zu jemandem, der liebt, kein Mitleid und kein Maß...."
Quelle:
http://www.hellinger.com/deutsch/vi...nger/beitraege_zur_homepage/entruestung.shtml
Nithaiah schrieb:
Stephan, ich habe mich eingehend mit der Geschichte von einigen Serienmördern auseinandergesetzt, ich wollte verstehen können, was sie zu diesen Taten getrieben hat.
Das erwähne ich nur, um deutlich zu machen, dass ich durchaus versuche, immer beide Seiten zu verstehen. Bedeutet das aber auch, dass ich gefühlsmäßig unbeteiligt sein muss, ob des unsäglichen Leides eines anderen Menschen, eines Kindes noch dazu?
Selbstverständlich bedeutet es das nicht! Sollte es so herübergekommen sein in meinen Beiträgen, bitte ich um Entschuldigung.
Und: ich weiß, das
du versuchst, beide Seiten zu verstehen. Insofern antworte ich hier in diesem beitrag zwar
dir - aber die Antworten gelten
nicht immer
deiner person, falls du verstehst, was ich damit sagen möchte.
Das, was diese Eltern getan haben, schlägt das Repertoire von vielen prominenten Psychopathen noch um Längen.
siehst du, hier sind wir schon wieder mittendrin im potentiellen Urteilen: "schlimmer als die schlimmsten psychopathen"...
Nithaiah schrieb:
Nein, wie gesagt. Ich bin und bleibe ein Gegner der Todesstrafe.
ja, ich weiß. ich habs ja auch nur als gedankenspiel angeregt und niemandem ein ergebnis dieser überlegungen untergejubelt.
Das kann ich dir sagen: Weil hier nicht im Affekt gehandelt wurde, sondern mit einer langandauernden, unvorstellbaren Grausamkeit.
Es gehört doch einiges dazu, einen Menschen über Jahre hinweg wie in einem Kerker gefangen zu halten, um ihn langsam sterben zu lassen.
Noch dazu ein Kind und noch dazu das eigene Kind....
Wie kann man in seiner Wohnung leben, wenn man weiß, dass das eigene Kind im Zimmer nebenan qualvoll dahinsiecht und immer mehr zu einem noch lebenden Skelett wird?
ja, wie? wie geht das, warum, wie wird eine Mutter und ein Vater dazu - das genau ist die Frage!
Nithaiah schrieb:
Mein Mitgefühl geht hier nur soweit, als dass ich sagen kann, dass diese Eltern am Menschsein völlig vorbeigegangen sind.
den satz verstehe ich nicht. sind's keine menschen? was aber dann?
liebe Grüße
Stephan