astrologie..

erst mal danke für den link auf weidner, rita... das erspart mir viele und für die meisten sicher langweilig zu lesende zeilen. also nur ein paar anmerkungen: erstens stelle ich in abrede, dass es "die" astrologie gibt. wenn das alles in einen topf geworfen wird, die tageszeitungshoroskope, die questico-blitzdeuter, die sowohl von ihrem erkenntnistheoretischen hintergrund als von ihren praktischen verfahren äußerst divergenten astrologischen schulen, die intuitiven bauchdeuter und die verbissenen regelbefolger, die redlichen praktiker und die salbadernden wichtigtuer, die beflissenen mit dem helfer-syndrom und die ätherischen mit dem weihevollen tiefblick ... wenn das alles zu einem querschnitt verdichtet und dann einem beweisverfahren im kreuzverhör unterzogen wird, dann kommt erstens etwas raus wie das déja vu dieses threads und zweitens eine verhärtung von scheuklappen, die den gegnern und den befürwortern der astrologie das leben nicht gerade erleichtern.

was die statistiken anlangt, so empfehle ich die lektüre des buches "das 1 x 1 der skepsis" von gerd gigerenzer, wissenschaftsbuch des jahres 2002. gigerenzer zeigt an vielen beispielen auf, wie hinterfragbar die beweiskraft statistischer aussagen selbst im wissenschafltichen bereich ist. nur ein netter kleiner hinweis: ärzte verschreiben medikamente ... also wissenschaftlich ausgebildete ärzte, die eine disziplin studiert haben, deren wissenschafltiche grundlagen weithin unbestritten sind, und die therapieverfahren einsetzen, die auf ebenso wissenschaftlicher basis beruhen. da hat nun die WHO einen statistischen kennwert zur beurteilung von medikamenten etabliert, den NNT (number of needed therapies), der aussagt, wie viele behandlungen notwendig sind, um einen (!) patienten zu heilen bzw. den angestrebten heilungserfolg zu erzielen. und da sieht die welt auf einmal anders aus ... da gibt es NNT-werte von 100 und mehr, und das scheint durchaus geläufig zu sein: 100 patienten nehmen irgendein mittel, und bei einem wirkt es. wenn nun ein neues mittel auf den markt kommt, das einen NNT-wert von 50 aufweist, werden schon zwei von 100 patienten geheilt. in der nach außen publizierten statistik der marketing-abteilung des pharma-unternehmens heißt es dann: wir haben einen wirkstoff entwickelt, der heilungschancen bei krankheit xy um 100 % steigert ... und das ist eine aussage, die ebenso wahr wie verlogen ist. welches interesse besteht an solchen - scheinbar - wissenschafltichen wahrheiten?

ich frage mich auch, was eine charakterdeutung sein sollte bzw. welchen wissenschaftlichen wert der begriff charakter überhaupt haben könnte. schon daran erweisen entsprechende versuchsanordnungen ihre fragwürdigkeit, wobei ich nicht entscheiden mag, ob die designer solcher tests den astrologen, die dumm (oder eitel?) genug sind, an solchen veranstaltungen teilzunehmen, eine falle stellen wollen oder ob sie selbst ihre zugänge zur gewinnung von empirischem material für rationale wissenschaft halten.

ich breche sehr gern eine lanze für die wissenschaft - vor allem auch als astrologe - und wundere mich immer wieder, wie tief verankert das bedürfnis nach gläubigkeit gerade bei jenen menschen ist, die besonders laut nach beweisen der wissenschaft rufen. sooo oft dieses missverständnis, die wissenschaft könne erklären, wie die welt funktioniert. oder: wissenschaftliche aussagen wären wahr. wissenschaft tut nichts anderes, als mögliche beschreibungen von zusammenhängen zu formulieren, und wenn solche beschreibungen zu vorhersag- und reproduzierbaren ergebnissen führen bzw. eine hinreichend sinnvolle verallgemeinerung vorgenommen werden kann, dann sind damit (stark vereinfacht formuliert) die hinreichenden kriterien für eine gültige theorie erfüllt. dazu kommen dann noch diverse rituale im wissenschaftsbetrieb wie die publikation der theorie in anerkannten medien etc. - was in manchen fällen eine größere hürde darzustellen scheint als der vatikanischen glaubenskongregation den gebrauch der pille abzuluchsen. heute anerkannte pioniere neuer wissenschaftlicher ansätze wie edward lorenz brauchten bis zu zehn jahre, um einen artikel in einer fachzeitschrift zu lancieren. was nachvollziehbar ist: wer mental und ökonomisch von seiner eigenen etablierten theorie lebt, hat wenig interesse daran, eine theorie zu unterstützen, die das eigene gebäude obsolet macht. auf diese weise sind die strukturen des wissenschaftsbetriebs durchaus auch wissenschaftsfeindlich, aber das wissen die eh selber, und das wird ja auch intensiv diskutiert.

eine dieser diskussionen, auch schon ein paar jahrzehnte alt, ist jene, die thomas s. kuhn mit "paradigmenwechsel" beschrieben hat. zahlreiche wissenschaftliche disziplinen bewegen sich dort, wo sie ohne scheuklappen und falsch verstandenem kniefall vor etablierten lehrgebäuden forschen, in grenzgebiete, die zu neuen beschreibungen von phänomenen und theorien führen, die durchaus auch von anderen wissenschaftlern über lange zeit für völligen unsinn gehalten werden. und speziell in den bereichen der komplexitätswissenschaften, die sich in der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts entwickelt haben (systemtheorie, chaostheorie, neue ansätze in kosmologie, neurologie und und und...) kommt es vermehrt zu theoriebildungen, für die das denkmuster des falsifikationsprinzips nicht mehr anwendbar ist. wenn eine theorie zum beispiel postuliert, dass in selbstreferenziellen, komplexen systemen exakte prognosen nicht möglich sind, wie soll das falsifiziert werden? dennoch scheint das eine tauglichere beschreibung von welt zu sein als die ältere annahme, dass die verhältnisse von laborexperimenten auf die welt übertragbar wären, wenn sich nur alle störenden einflüsse ausschließen ließen.

und da befindet sich nun astrologie zunehmend in guter gesellschaft mit anderen nach konservativer einschätzung ebenso wenig beweisbaren disziplinen. es steht ja auch meines wissens noch der wissenschaftliche nachweis der psychoanalyse aus ... nicht einmal das funktionieren derselben wäre ein argument, denn die erfolgsquoten der klassischen analytiker sprechen nicht gerade für die plausibilität der theorie. nichtsdestoweniger ist sie allgemein anerkannt und offensichtlich ja auch geeignet, zusammenhänge zu beschreiben (nicht erklären ... das wäre etwas anderes), die ein rundes gesamtbild ergeben. dass damit ein kausalzusammenhang hergestellt wäre, ist schlichter aberglaube - darauf hat ja wittgenstein schon vor einiger zeit hingewiesen, und der durfte immerhin in oxford lehren...

zurück zur "charakterdeutung" ... jede form von deutung ist konstruktion - schon der begriff besagt ja, dass etwas an sich nicht greifbares durch deutung so beschrieben werden soll, dass es kommunizierbar wird. es ist leicht nachzuvollziehen, dass solche deutungen mit erheblichen unterschieden ausfallen können - das hängt von dem vokabular ab, das ich zur verfügung habe, das hängt von dem fokus ab, mit dem die zu deutende struktur/gestalt betrachte, das hängt vor allem auch von dem kommunikationseffekt ab, dass beim hörenden der deutung ein anderes verständnis bewirkt wird als jenes, das beim deutenden vorhanden ist. steve de shazer: "wir können einander nur missverstehen - und uns bemühen, dass diese missverständnisse konstruktiv wirken". versuchsreihen, die auf charakterdeutung beruhen, können nur in die hose gehen. wir bewegn uns hier ja auch im dilemma-bereich der diagnose, die im therapiesektor immer umstrittener wird: es ist auch eine form der deutung, wenn ich jemanden als depressiv oder schizophren oder krebskrank kategorisiere, und es hilft administrativ und in der täglichen problembewältigungsroutine, auf solche schemata zurückzugreifen. für den, der von solcher diagnose betroffen wird, ist es ein urteil, ein stempel, und es gibt zahlreiche hinweise, dass diagnosen jene krankheiten zumindest mitauslösen und verfestigen, die sie beschreiben. ach ja, wir bewegen uns hier nicht im bereich von astrologischen, sondern von wissenschaftlich fundierten befunden, die für wahr gehalten werden...

selbstverständlich haben viele astrologInnen ein erhebliches interesse daran, dass ihre arbeit auch mit nachvollziehbaren nachweisen untermauert wird. und es gibt durchaus ansätze dafür: ein wenig davon ist im "meridian" mai/juni 2005 beschrieben (weidner, voltmer, vetter u.a.). und es sind durchaus versuchsanordnungen konzipierbar, die zwar nicht "die astrologie" beweisen (was ebenso unsinnig ist wie "die medizin" beweisen zu wollen), die aber durchaus die schlüssigkeit ganz konkreter astrologischer beschreibungsmodelle belegen können. ein beispiel (das ich aus der erinnerung rekonstruiere und das nicht von mir stammt): nehmen wir ein genügend großes sample von menschen, von denen eine unbestimmte zahl innerhalb der vergangenen 10 jahre einen wohnsitzwechsel vorgenommen hat. die geburtsdaten dieser personen werden einer zahl von astrologen übermittelt, die die personen nicht kennen. es soll ausschließlich aus dem horoskop festgestellt werden, welche dieser personen die umzügler waren. ein solcher test wäre mehrstufig anzulegen - erst einmal müsste die validität des tests ermittelt werden, dann müsste definiert werden, mit hilfe welcher statistischer verfahren ausgeschlossen werden kann, dass hier nicht die qualität einzelner astrologen auf dem prüfstand steht, sondern dass es um die untersuchung der aussagekraft einer astrologischen methode geht. das ist alles schon ein erheblicher aufwand, der zudem in einem unverdächtigen, anerkannten rahmen stattfinden müsste - und es hätte eine versuchsanordnung zu sein, die möglichst frei von interessen wäre. die allermeisten bisherigen versuche kranken ja daran, dass von vornherein entweder widerlegt oder bewiesen werden sollte, und das verfälscht jeden test. wo gibt es einen "wissenschaftlichen" kontext, der a) die mittel bei der hand hat und b) sich nicht scheut, sich möglicherweise mit einem nachweis der schlüssigkeit von astrologie zu exponieren? ich weiß, dass noch viele weitere fragen, auch seitens der astrologie, im zusammenhang eines solchen tests zu klären wären ... will ja nicht ausufernd werden...

das wäre ein experiment, in dem es um klar verifizierbare bzw. falsifizierbare aussagen ginge, um reine empirie. keine "charakterdeutung", auch - bitte nicht missverstehen - keine deterministische zuschreibung. die metagnostische vermutung über das zutreffen eines bestimmten ereignisses für eine bestimmte konstellation ist etwas völlig anderes als die ereignisprognose! es ginge schlicht um den nachweis der evidenz einer präzise umrissenen teilaussage.

solche evidenzen erlebe ich in der astrologischen arbeit praktisch täglich. das mag bei anderen selbstverständlich den verdacht erwecken, ich erläge da meinen projektionen. auch das wird immer wieder mal der fall sein, gebe ich gern zu und auch, dass ich etwas wie eine supervisionskultur der astrologischen arbeit schmerzlich vermisse. in vielen fällen erlebe ich - und meine auch, dass es menschen, mit denen ich zu tun habe, es so erleben -, dass astrologie nützlich sein kann. dafür brauche ich keine legitimation wie "königin der wissenschaften" oder ähnliche kultur-imperialistische konnotationen. daneben habe ich aber auch großes interesse - und null berührungsängste - an der untersuchung von astrologie mit wissenschaftlichen zugängen. dann aber mit einem wissenschaftsverständnis, das möglichst frei von aberglauben und parteilichkeit ist und einigermaßen dem aktuellen stand von wissenschafts- und erkenntnistheorie(n) entspricht. da wird es wirklich spannend...

alles liebe,
jake
 
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Danke GreenTara - für deinen hilfreichen Beitrag und den Link !

Danke Jake - für deinen hochinterssanten, ausführlichen Beitrag !

Liebe Grüße :liebe1:
Energeia
 
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Ob Hellseherei oder wissenschaftliche Ecke, wenn ich mich so durch diverse astrologische Foren lese kommt mir immer der Gehirnchirurg in den Sinn, der sagte:" Jetzt habe ich schon hunderte Gehirne bis ins Kleinste seziert, aber den Geist habe ich in keinem gefunden.........".......:)



L.G. Holly
 
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