"Denn eines Menschen Einsicht
leiht keinem anderen ihre
Schwingen.
Und so muss auch jeder von euch
allein sein in seiner Gotterkenntnis
und seinem Verständnis der Welt."
Khalil Gibran
Stella erwachte am frühen Morgen und stellte fest, dass sie allein war. Die wenigen Möbel im Raum konnte sie kaum sehen. Erst ganz allmählich fiel mehr Licht durch die Vorhänge.
Stella fühlte sich besser und blickte neugierig umher.
Das Doppelbett, in dem sie lag, war ein einfaches Messinggestell. Am Fenster standen ein Tisch und zwei Stühle, an der Wand ein Kleiderschrank. Rechts und links führte je eine Tür nach draußen.
Da dachte sie an jenen ersten Tag zurück, als sie mit Mahoud in dieses Haus
eintrat.
Komm mit mir nach oben, hörte sie ihn sagen.
Ich glaube, ich brauche ein Bad. Sie drehte sich um und lächelte schwach. Mir ist kalt.
Du wirst gleich dein Bad nehmen. Komm, Stella.
Mahoud stieg die Treppenstufen hoch. Auch hier waren die Wände weiß gestrichen. Kleine, in die Wand eingelassene Punktstrahler beleuchteten von oben und unten die Treppe und sorgten so für eine ungewöhnlich anmutende Beleuchtung.
Die obere Galerie mit schmiedeeisernem Geländer führte um alle Seiten des Patio, unterbrochen von Stützsäulen, auf denen Pflanzen in Terrakotta-Töpfen standen.
Mahoud bog oben rechts ab und führte Stella zu einer kleinen Halle, an deren Ende wieder Treppen waren, die diesmal nach oben und nach unten führten. Ein großer, blauer Perserteppich schmückte den Boden, darauf stand ein Tischchen mit niedrigen Sesseln.
Mahoud öffnete eine der Türen, schritt durch den Rundbogen und verkündete grinsend:
Mein Schlafzimmer.
Stella betraten den großen Raum, ausgestattet mit Terrakottaplatten und hellen Berberteppichen. An der linken Wand stand ein Doppelbett, drapiert mit einer bodenlangen, beigefarbenen Seidendecke und zahlreichen Kissen.
Wir sind hier genau über dem Wohnraum und haben so die Wärme vom Kamin. Du brauchst bei mir nicht zu frieren, mein Vögelein, meinte er fürsorglich.
Gegenüber vom Bett führten Glastüren hinaus zum Patio. Durch die luftigen Vorhänge fiel weiches Licht herein, durchflutete den Raum.
Stella war ein wenig befangen.
Mahoud bemerkte es und witzelte: Das Schlafzimmer meines Bruders ist nebenan und sieht ein wenig anders aus.
Da mussten beide lachen.
Mohamed mag es, wie du ja bereits gesehen hast, etwas pompöser.
Sie lachten wieder.
Morgen zeige ich es dir, aber jetzt sollst du dein wohlverdientes Bad nehmen.
Das Badezimmer war eine weitere Überraschung. Eine derartige Ausstattung hatte Stella noch nie gesehen. Wände und Fußboden waren mit türkisblauem Mosaik ausgelegt. Wenn man genau hinsah, bemerkte man kleine, glänzende Steinsplitter, die dem Türkis einen goldfarbenen Schimmer verliehen.
Es ist wunderschön!, sagte Stella leise.
Ich habe die gleiche Farbe gewählt, die auch die Kuppel der Moschee von Samarkand hat. Samarkand? Führte da nicht einmal die Seidenstrasse vorbei?
Mahoud nickte.
Das Badebecken war viereckig und in den Boden eingelassen. An der linken Wand blickte man durch große Glasfenster. Davor standen Farne auf stufenförmig angeordneten Marmorsäulen, die teilweise bis zum Boden herab wuchsen. Die hintere Ecke füllte eine große Palme aus. Sie erweckten den Eindruck, als befinde man sich in einem tropischen Garten.
Draußen erklärte Mahoud, dass die Treppen nach unten direkt zum Wohnraum führten.
Und die Treppen nach oben?, wollte Stella wissen. Was ist im oberen Stockwerk?
Zwei Gästezimmer mit Bädern, mein Büro und eine große Aussichtsterrasse. Morgen schauen wir alles übrige an.
Gut. Aber nicht vergessen. Ich bin manchmal neugierig.
Du wolltest doch baden. Mahoud gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging hinunter.
Während das Badewasser einlief, hängte sie ihre Kleider in den Schrank. Als sie damit fertig war, wählte sie ein weißes, schlicht geschnittenes Kleid für den Abend aus. Dazu einen gleichfarbigen, bestickten Voileschal. Sie legte beides auf das Bett und ging ins Badezimmer.
Auf dem Beckenrand standen Flakons mit Duftölen und ein Schälchen mit frisch gepflückten Rosenblüten. Sie schnupperte an den verschiedenen Fläschchen und entschied sich für Rosenduft, gab einige Tropfen davon in das Badewasser, streute Rosenblüten dazu und stieg in die Wanne. Entspannt lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.
Da kam ihr Miguel Angelo in den Sinn. Wie aufgeregt er gestern am Telefon war, dachte sie. Aber er hat es ja so gewollt. Das sagte ich ihm auch zum Abschied am Flughafen in Lissabon. Ja, er war viele Jahre lang der Mann meiner Träume. Ich habe ihn geliebt. Immer wieder neu gehofft. Ich blieb so lange bei ihm, weil alles einmal so schön begonnen hatte.
Sie blickte zurück auf die Zeit damals, als sie ihren Urlaub auf der Ilha Bela verbrachten. Eine traumhafte Insel im Atlantik, zwischen Rio de Janeiro und Santos. Die Ilha Bela, die schöne Insel...
Cristina war damals gerade zwei Jahre alt und ich muss zweiundzwanzig gewesen sein. Vier Wochen lebten wir im Paradies. In einem Bungalow oben auf dem Hügel. Man sah auf die Bucht hinunter, bis hin zum fernen Festland, umgeben von tropischer Vegetation. Es roch nach Erde und vor allem nach Urwald, der gleich hinter den Hügeln begann. Und es roch nach dem nahen Meer. Dazu der Duft überreifer Mangos vom Baum, und den Duft der Jasminsträucher.
Stella musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie morgens vom Kreischen der kleinen Papageien geweckt wurden, die in den Bäumen saßen. Wenn dann im Laufe des Tages die Hitze anstieg, begann wie auf Verabredung der Lärm der Grillen und Zikaden. Wir verbrachten die meiste Zeit an einem kleinen Strand im Süden der Insel. Dort speisten wir mittags in einer Hütte, frisch gefangenen Fisch gab es. Moqueca de Peixe, nennt man das Gericht. Dort wird der Fisch zusammen mit Tomaten, roter Paprika, Zwiebeln und Kokosmilch im Ofen gegart.
Ja, dachte sie. Ich nehme endgültig Abschied von dir, Miguel Angelo. Doch die schönen Erinnerungen will ich in meinem Herzen bewahren. Wir waren glücklich und du sagtest, deine Liebe zu mir sei so groß wie der Ozean.
Einmal sind wir nachts zum Strand gelaufen. An die Praia da Feiticeira. Der Himmel war sternenklar. Das Kreuz des Südens und die Sterne des Argonautenschiffes funkelten über dem Wasser. Der Wind blies sanft in den Palmen. Wir liebten uns im Sand und dachten, es würde für immer so bleiben.
Später gingen wir Schwimmen im Meer. Das Meer war warm und wir ließen das Wasser spritzen. Es leuchtete phosphoreszierend und wir spielten wie Kinder. Vertrauten unserer Liebe, die nie enden sollte.
Unsere Liebe ist aber zu Ende, Miguel Angelo, wie ein Duft hat sie sich verflüchtigt. Vielleicht existiert ein Ort in diesem Universum, wohin jenes flüchtige, so vergängliche Gefühl entschwindet? Nichts geht verloren in der Welt, es verwandelt sich nur. Lebe wohl, Miguel Angelo. Ich liebe einen anderen Mann.
Sie stieg aus dem Wasser und trocknete sich ab. Ging dann nackt hinüber zum Schlafzimmer. Im Flur zögerte sie und beschloss, die Treppe in den oberen Stock hinauf zu gehen. Oben war eine Tür. Stella musste aber enttäuscht feststellen, dass sie verschlossen war. Unverrichteter Dinge ging sie wieder hinunter und zog sich an.
Stella musste wieder eingeschlafen sein, denn als sie die Augen aufschlug, war Nadja im Zimmer und öffnete die Vorhänge.
Stella blickte auf die schmalen, hohen Fenster.
Da kann man nicht heraus, dachte sie, das wird der Begrenzungsraum sein, von dem Mahoud sprach. Einer der verschlossenen Räume im obersten Stockwerk des Hauses, die er mir zeigen wollte. Aber dazu kam es ja nie...
Ihr schauderte.
Nadja brachte eine Schüssel mit warmem Wasser und wusch Stella. Dann zog Nadja ihr ein frisches Nachthemd an Als sie die junge Frau nach Mahoud fragte, schüttelte Nadja nur verneinend den Kopf und verschwand.
Im Raum war es inzwischen heller geworden. Die Strahlen der Vormittagssonne fielen durch die Butzenscheiben und tauchten das Gefängnis in goldenes Licht. Stella fragte sich, wie lange Mahoud vor habe, sie als Gefangene zu halten.
Nadja kam zurück, brachte eine kräftige Hühnersuppe und fütterte Stella. Sie aß hungrig alles auf. Dann verließ Nadja das Zimmer wieder.
Stella war wieder allein mit sich. Ihre Gedanken wanderten zu jenem letzten Samstag im Dezember. Miguel Angelo wollte mit mir reden, weil das Ganze ein Missverständnis gewesen sei. Helga, meine Freundin, meinte es gut mit mir und hatte das Gespräch vermittelt. Sie sagte, Miguel bereue alles und wolle zu mir zurück, ich solle ihm eine Chance geben.
Ich willigte ein.
Miguel Angelo kam und war sehr lieb, er küsste mich. Dann tranken wir eine Flasche Rotwein und unterhielten uns. Wir liebten uns auf dem Teppich im Wohnzimmer. Später, irgendwann, sagte ich, er müsse Farbe bekennen. Er solle sich entscheiden, mit wem er leben wolle.
Da begann Miguel Angelo sich herauszureden. Jetzt bin ich erst mal bei dir, meinte er.
Ich sagte ihm in aller Ruhe, dass ich kein gutes Gefühl dabei hätte. Auf diese Art wolle ich ihn nicht zurück haben. Sei einmal in deinem Leben ehrlich, bat ich. Hier gibt es keine Kompromisse, Miguel Angelo. Nicht auf die Art, dass du zu mir zurückkommst, um mir einen Gefallen zu tun. Auch nicht, um mich als Reserve an der Hand zu haben.
Was willst du denn von mir, fragte er.
Ich erwarte, dass du sofort fährst und bei Clara deine Sachen abholst. Anders geht es nicht.
Er stand auf. Also gut. Wenn es das ist, was du willst.
Ich begleitete ihn zum Auto.
Dann bis später, sagte er noch zum Abschied.
Das war das Schlimmste, was du mir bisher je angetan hast, Miguel Angelo. Ich konnte es nicht verstehen. Wir haben uns an diesem letzten Samsatagabend doch geliebt, oder nicht? Du warst bei mir, warst tief in mir, Miguel Angelo. Tief - und ich vertraute dir. Sex ist kein abreagieren oder vermischen von Körpersäften. Im Sperma ist der genetische Code der Evolution enthalten, und damit spielt man nicht. Es war beschämend für mich. Ich war sicher, du würdest wirklich kommen und wartete die ganze Nacht. Dann rief ich an, doch dein Telefon war ausgeschaltet. Es war alles so entehrend für mich. Betrogen von jenem Menschen, dem ich so viele Jahre am nächsten stand. So behandelt man niemanden. Ich werde es nie vergessen können. Das war charakterlos und feige von dir.
Stella sah traurig zum Fenster hinüber. Das Licht war nun von starker Helligkeit. Es musste um die Mittagszeit sein. Sie beschloss, ins Bad zu gehen und stand langsam auf. Ihr wurde schwindlig. Da hielt sie sich am Nachttisch fest und stützte sich ab.
Als es besser wurde, wankte sie zu der Tür, hinter der sie das Badezimmer vermutete. Beim Blick in den Spiegel erschrak über ihr eigenes Bild. Fremd sah sie aus.
Auf dem Rückweg probierte sie, die anderen Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen.
Man hat mich tatsächlich eingesperrt, dachte sie, als sie endlich wieder im Bett lag.
Erschöpft schlief Stella ein.
Text von Karuna
