Ich glaube, dass der Magersucht vergleichbare psychische Konflikte zugrundeliegen können wie bei der Esssucht. Auch hier ist vermutlich in vielen Fällen eine enorme Selbstwertstörung oder ein gewaltiger Minderwertigkeitskomplex präsent, der die anorektische Symptomatik von Magersüchtigen auslöst.
.... Nur in der Erfüllung dieses idealisierten Leistungsdenkens konnten sie sich selber wertschätzen, annehmen und gleichzeitig auch über andere Menschen erheben, die vermeintlich schwächer und weniger leistungsbereit sind. Auf diese Weise wird sowohl ein demolierter Selbstwert balsamiert als auch ein innewohnendes Minderwertigkeitsgefühl durch die Selbsterhebung kompensiert. Das halte ich für eine mögliche psychologische Ursache.
Es gibt Leute, welche weibliche Seiten im Menschen geringschätzen. Dazu gehören beispielsweise Emotionalität, Empathie, Fruchtbarkeit, Fürsorge, Hingabe. Maskuline Aspekte werden dagegen gelobt: Leistungsdenken, Durchsetzungsvermögen, Härte, Kampfgeist. Im Zuge dieser Entwicklung kann es vielleicht kommen, dass das Mädchen ihre femininen Seiten nicht ausreichend entwickelt und sich daher auch nicht hinreichend mit ihnen identifizieren kann. So findet sie kaum eine Selbstachtung in ihrer Weiblichkeit. Mit der Negation oder Degradierung der weiblichen Persönlichkeitsanteile kommt es zugleich zu einer Verherrlichung männlicher Anteile, was sich auch im enormen intellektuellen Leistungsbestreben widerspiegelt.
Magersüchtige Menschen sind häufig von einer disziplinarischen Mentalität durchzogen, die auch den kognitiven Bereich einbezieht. Sie begannen einst, sich und ihren Wert nur noch über Leistung zu definieren, weil sie andere wunderbare Facetten ihrer Identität - die oben genannten, positiven Eigenschaften - nicht als geschätzt und ehrbar erfahren.
Schlussendlich spielt unser perverses gesellschaftliches Wertesystem eine Rolle, in welcher Attraktivität, Schönheit, Intelligenz und Reichtum hoch im Ansehen stehen. Viele Eltern vermitteln ihren Kindern - sei es verbal oder nonverbal - bereits sehr früh, welche Werte in unserer Kultur von Bedeutung sind. Mit Stolz präsentieren Mütter ihre begabten oder hübschen Kinder. Die Reaktionen der Anderen sind dementsprechend. Doch für ein eher unattraktives, primitives Kind schämen sich einige. Es wird geringgeachtet und steht im Schatten der vermeintlich Besseren und Talentierteren. Wenn Menschen ohne stabiles Selbstbewusstsein und -wertgefühl dieses asoziale Wertessystem verinnerlichen, mögen sie dazu tendieren, sich ebenfalls über die durch das Hungern erreichte optische Schönheit wertvoll und (gesellschaftlich) anerkannt zu fühlen.
Außerdem kann Magersucht sehr wohl eine weitere Form der Autoaggressivität sein, denn schließlich fügt man jedem menschlichen Organismus einen erheblichen Schaden zu, wenn man ihm die Nahrung zu lange und zu oft entzieht. Das eigene Selbst ist damit Projektionsfläche für den Hass und die Wut geworden, welche ursprünglich jemand anderem gelten (identitätsvernichtenden, vernachlässigenden oder missbrauchenden Elternfiguren z. B.).