Yetis und paranormale Fähigkeiten. Oder: Wie man eine Legende pflegt.
Gerne wird in Tibet auch das Klischee von Yetis und übernatürlichen Fähigkeiten aufrecht erhalten. So kursieren immer wieder Gerüchte um die Yetis, die in den schneebedeckten Bergen Tibets zu Hause sind, durch die Medien. Als der Bergsteiger Reinhold Messner monatelang im voraus ankündigte, er werde Photographien des Yeti veröffentlichen und als er dann einen Bären zeigte, da protestierten viele Exiltibeter dagegen, er habe sich arrogant über altes tibetisches Volkswissen lustig gemacht.
Ebenso gerne verweist man auch auf die übernatürlichen Fähigkeiten, die man den tibetischen Yogis nachsagt. Zu den wichtigsten übernatürlichen Kräften der tibetischen Yogis sollen folgende gehören: das weitgehende Unabhängigwerden von Nahrungsaufnahme, die Kunst sich unsichtbar zu machen, sich zu vervielfältigen und gleichzeitig an mehreren Orten zu sein, die Kraft, geistgeschaffene Wesen, sogenannte Tulpas zu erzeugen; der übernatürliche Schnellauf und eine Reihe anderer Wunderkräfte.
Wenn wir einen Blick auf die in den Tantras genannten Zaubergegenstände werfen, mit denen ein Maha Siddhi, also ein Yogi mit übernatürlichen Fähigkeiten, ausgerüstet ist, so erinnern auch diese uns an die wunderträchtigen Dinge, mit denen nur Märchenhelden ausgestattet sind: Ein magisches Schwert verleiht Sieg und Macht über alle nur denkbaren Feinde; eine Augensalbe lässt verborgene Schätze entdecken; eine Art Siebenmeilenstiefel befähigt den Adepten, auf der Erde und durch die Luft jeden Ort der Welt in kürzester Zeit zu erreichen; es gibt ein Elixier, das nach alchemistischer Manier unedle Metalle in pures Gold verwandelt; ein Wundertrank schenkt ewige Jugend und ein Allheilmittel schützt vor Krankheit und Tod; Pillen verleihen die Fähigkeit, jede Gestalt anzunehmen; eine Tarnkappe macht den Zauberer unsichtbar. Er hat die Möglichkeit, in verschiedenen Personen gleichzeitig zu erscheinen, die Schwerkraft aufzuheben und die Gedanken der Menschen zu lesen. Er kennt seine früheren Inkarnationen, beherrscht alle Formen der Meditation; er kann zu einem Atom zusammenschrumpfen und seinen Körper bis zu den Sternen hin ausdehnen. Er ist mit dem göttlichen Auge und göttlichen Ohr ausgestattet. Kurz, er hat die Macht, alles nach seinen Vorstellungen zu bestimmen.
David Snellgrove, einer der bedeutendsten Tibetforscher und besten Kenner des Tantrismus, über die Benutzung von "Zaubersprüchen" (Mantras) in der lamaistischen Kultur: "Ich bin mir bewusst, dass moderne westliche Buddhisten, vor allem diejenigen, die der tibetischen Tradition folgen, den Gebrauch dieses englischen Wortes Zauberspruch für Mantra wegen seiner Assoziation mit vulgärer Magie nicht schätzen. Man muss leider antworten, ob man es mag oder nicht, dass sich der größte Teil der Tantras (der heiligen Texte des tibetischen Buddhismus) genau mit vulgärer Magie beschäftigt, denn daran sind die meisten Leute interessiert.
Der Verfasser von "Das Dritte Auge", Lobsang Rampa, hatte sich als ein tibetischer Lama ausgegeben, wurde dann aber als der Brite Cyril Henry Hoskins entlarvt. Sein Buch spricht ausführlich von zahlreichen paranormalen Phänomenen, wie der Entfachung der inneren Lebenskraft, von Hellsichtigkeit, Astralwanderungen, Telepathie, sich unsichtbar machen, personeller Verdoppelung u.s.w.. Dieses Buch setzte eine endlosen Kette von Büchern über das Paranormale in Gang, die Tibet und seine Lamas zum Thema haben. Diese Kette scheint nicht mehr abzureißen und die vom Autor gezeigten Klischees gehören längst zur popular culture des Westens.
Dass Lobsang Rampa, der Verfasser von "Das Dritte Auge", ein Engländer und kein Lama war, hat, nachdem sein Pseudonym bekannt wurde, wenige gestört. Sein Buch ist weiterhin ein Bestseller und ein führender amerikanischer Tibetologe (Donald S. Lopez) empfiehlt es sogar als Einführungsliteratur für seine Studenten. Weshalb? Weil es die phantastische Welt der tibetischen Imagination sehr gut in eine westliche Sprache übersetzt. Interessanterweise empfanden die angehenden Akademiker, die bereits Standardwerke zur tibetischen Geschichte und Religion gelesen hatten "Das dritte Auge" als glaubwürdig und ansprechend, ja fanden, es sei sogar realistischer als alles andere, was sie über Tibet gelesen hatten.
aus:
Traumwelt Tibet
Alles Liebe. Gerrit