1983 verfasste Hans-Peter Martin gemeinsam mit Kurt Langbein, Hans Weiss und Peter Sichrovsky die erste Ausgabe des Medikamentenratgebers Bitteren Pillen. Es wurde der größte und langfristigste Bucherfolg im deutschsprachigen Raum mit inzwischen mehr als 2,7 Millionen verkauften Exemplaren. Über 3 Jahre fand sich das Buch auf Platz eins der Bestsellerliste wieder. 78 weitere Auflagen erschienen, zuletzt die Jubiläumsausgabe im Jahr 2008 zum 25 jährigen Bestehen. Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel schrieb in seiner Ausgabe vom 28. Oktober 1985: Die bitteren Pillen ist die Übersetzung der Bibel. Das österreichische Nachrichtenmagazin Profil widmete dem Buch in seiner Ausgabe vom 19. September 1983 die Titelgeschichte: Nie zuvor wurden Medikamente sowie die Praktiken der Pharmaunternehmen unerschrockener und kritischer aufs Korn genommen als in diesem Werk. Das Buch schrieb Medizingeschichte.
Der Weg dort hin war mühsam für Hans-Peter Martin und seine Wiener Autorenkollegen. Damals so wie heute gab es in deutschen Apotheken etwa 50.000 verschiedene Arzneimittel. Sollten die alle nach Nutzen und Risiken bewertet werden? Unmöglich, denn das wäre ein Buch mit 10.000 Seiten geworden. Also verfielen die Autoren auf die Idee, nur die häufig verwendeten Medikamente in das Buch aufzunehmen. Sie suchten erfolglos nach entsprechenden Daten.
Es war schließlich die Pharmaindustrie selbst, die ihnen, ungewollt natürlich, aus der Patsche half. Die Pharmaindustrie verfügt streng vertraulich, versteht sich über sehr detaillierte Daten zum Verbrauch ihrer Produkte. Es gehört jedoch zum Job von Journalisten, sich auch solche vertraulichen Informationen zu besorgen, und eines Tages lagen die notwendigen Daten vor. Es wurden also 2.300 Medikamente ausgewählt, die wissenschaftlich zu bewerten waren.
Als auch sehr schwierig erwies sich der Zugang zu wissenschaftlichen Unterlagen für die Bewertung von Nutzen und Risiken der Arzneimittel. Anfang der 80er Jahre war der Großteil der medizinischen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum in einem erbärmlichen Zustand. Es gab noch kein Internet, keine Suchmaschinen und keine elektronischen Datenbanken.
Hans-Peter Martin und seine Kollegen waren gezwungen, Bibliotheken und Buchhandlungen in Amsterdam, London und New York aufzusuchen. Texte wurden noch mit Schreibmaschinen getippt und Korrekturen und Ergänzungen mit Schere und Klebstoff angebracht.
Nach einem viermonatigen Gewaltakt in einer Wiener Wohnung, in der rund um die Uhr in Tag- und Nachtschichten gearbeitet wurde, knallten die Sektkorken über einem fertigen Manuskript von 850 Seiten. Jedenfalls dachten die Autoren, dass es fertig sei. Einer von ihnen reiste höchstpersönlich nach Köln und übergab es dem damaligen Verlagschef Reinhold Neven DuMont.
Der reichte die heiße Kartoffel sofort an seine Juristen weiter sie waren die ersten Leser des Buches. Ihre schnörkellose Empfehlung: Abzuraten. Auf keinen Fall veröffentlichen!
Sie waren der Meinung, das juristische Risiko sei zu hoch: Da fast 60 Prozent aller Medikamente als Abzuraten oder Wenig zweckmäßig eingestuft wurden, mussten sowohl der Verlag als auch die Autoren mit dem totalen Ruin rechnen. In drastischen Worten schilderten die Juristen, was es bedeutet, wenn 100 oder mehr Pharmafirmen klagen, mit einem Streitwert von jeweils 100.000 Mark und mehr. Mit diesem Buch hatten wir uns Gegner ausgesucht, die über nahezu unbegrenzte Geldmittel verfügen.
Aber Hans-Peter Martin und seine Kollegen schlugen den Rat der Juristen in den Wind. Auch der damalige Verlagschef hatte einen Ruf zu verteidigen immerhin hatten Heinrich Böll und Günter Wallraff bei Kiepenheuer & Witsch publiziert und erklärte trotzig: Wir machen das trotzdem!
Das Buch wurde in einen knallblauen Umschlag verpackt, mit dem von Hans Weiss erfundenen Titel »Bittere Pillen« versehen und im Herbst 1983 an alle deutschsprachigen Buchhandlungen geliefert.
Die Juristen behielten nur teilweise Recht. Sofort nach Erscheinen des Buches drohten mehr als drei Dutzend Firmen mit einer Klage, bei einem Streitwert von insgesamt mehr als 5 Millionen Euro. Unverblümt forderte man Textänderungen: Die Empfehlungen Abzuraten sollten in Therapeutisch zweckmäßig verändert werden.
Die Autoren und der Verlag ließen sich aber nicht einschüchtern. Eine der Firmen machte ihre Drohungen wahr und zog vor Gericht. Autoren und Experten konnten jedoch gute Gründe für die Abwertung vorlegen und die Richter überzeugen. Es wurde ein Sieg für Bittere Pillen.
Im Lauf der vergangenen 27 Jahre haben rund 70 Pharmakonzerne versucht, das Buch mit juristischen Drohungen kleinzukriegen ohne Erfolg. Immer noch wird jedes Jahr ein bis zwei Mal mit einem Gerichtsverfahren gedroht. Verlag und Autoren versprechen den Lesern, dass sie auch in Zukunft ihre unabhängige, kritische Haltung bewahren und der Pharmaindustrie Jahr für Jahr neue Anlässe für juristische Schritte liefern werden.
Bittere Pillen entfaltete bis heute eine enorme gesundheitspolitische Wirkung. Nicht nur die Pharmaindustrie, auch die Götter in Weiß, die bis dahin als unantastbar gegolten hatten, verloren ein paar Federn. Im Kielwasser von Bittere Pillen erschienen in den folgenden Jahren zahlreiche medizinkritische Bücher. Der kritische, mündige Patient ist inzwischen zum Schlagwort geworden.
Das österreichische Nachrichtenmagazin Profil schrieb in seiner Ausgabe vom 15. September 2008: Das Buch führte zu einer nachhaltigen Veränderung des Medikamentenmarktes sowie einem sorgsameren Umgang mit Pharmazeutika. Dass heutige Beipacktexte genaue Informationen und Warnhinweise enthalten, ist der Verdienst der Buchautoren.