Guten Morgen,
ich habe eine Frage an alle, die in den 60igern und 70igern geboren sind. Es war damals normal, dass man kranke Kinder, auch ganz kleine, die ins Krankenhaus mußten, dort abgeben hat und dass man sie dort ohne Elternkontakt auch wochenlang ließ. Bei mir selbst war das so und auch in meinem Bekanntenkreis haben das viele erlebt. Es hieß damals, es würde den Gesundungsprozeß verzögern, wenn man die Eltern zu ihren Kindern ließ. Dass das so ist, bzw. war und dass ich von solchen Erlebnissen, wo ich einfach alleine gelassen wurde, eine ordentliche Macke davon getragen habe, das habe ich immer als gottgegeben genommen. Es war halt damals einfach so. Man habe sich auch als Vater und Mutter gar nicht getraut, den Göttern in Weiß Widerstand entgegen zubringen. Was die sagten, war Gesetz.
Aber war das wirklich bei allen so? Gibt es unter Euch welche, die erlebt haben, dass sie von ihren Eltern nicht alleine gelassen worden sind? Meine Eltern , die heute selbst sehr erstaunt sind über ihr damaliges Verhalten, haben mich nicht nur mehrmals ins Krankenhaus und ein Heim gegeben, die sind auch ganz unbedarft abends weggegangen und haben mich und meine kleine Schwester als ganz kleine Wurschtels einfach alleine gelassen, voller Gottvertrauen, dass wir sicher schlafen würden. Das war damals halt so, - sagen sie.
War das bei Euch allen so? Wißt Ihr noch etwas aus der Zeit?
Viele Grüße
Tanita
Liebe Tanita,
ich bin Jahrgang 1959 und habe Vergleichbares erlebt. Damals war das tatsächlich "normal" und das ist das eigentlich Beklemmende daran, und erschwert die Heilung weil die Schadensfeststellung schwierig ist.
Es ist heute, aufgrund der Bindungsforschung, klar, dass Trennungen, insbesondere von der Mutter, für Kinder traumatische Erfahrungen sind. Um so schwerer, je jünger das Kind ist.
Seelisch gesunde Mütter sind Mütter mit Mitgefühl, die die Not ihres Kindes wahrnehmen können und angemessen für dessen Bedürfnisse sorgen.
Seelisch gesund waren die Menschen, die zur damaligen Zeit Eltern wurde, aber höchstens in seltenen Ausnahmefällen, da sie mehr oder weniger stark selbst vom Krieg und seinen Begleiterscheinungen betroffen, ihrerseits von traumatisierten Erwachsenen zwangsläufig seelisch im Stich gelassen waren.
Das soll nun nicht den Schmerz und den erlittenen Schaden durch Trennungstraumen bagatellisieren - im Gegenteil.
Ohne den Eltern einen Vorwurf zu machen ist es auch möglich, die eigene Wunde als solche wahrzunehmen und sich Heilung und Hilfe zur Heilung wert zu sein.
Es ist eher ein Problem, dass das eben als auf breiter Ebene anerkannte und als passend empfundene Behandlung von Kindern galt und die Selbstwahrnehmung als erschüttertes Kind mit der Selbstverständlichkeit kollidiert, mit der Eltern nicht nur entsprechende Regeln in Krankenhäusern akzeptierten, sondern die Kinder auch selbst in Fremdunterbringung gaben.
De facto sind das Doppelbotschaften von wirklich liebenden und fürsorglichen Eltern und zugleich mitleidlosen Eltern, die so gar kein Sensorium für die Not ihres Kindes hatten.
Vielleicht kennen viele den Satz: "Du weisst ja gar nicht, wie gut du es hast...." und seine Mund stopfende Wirkung.
So ging es uns eigentlich gar nicht schlecht, vor allem verglichen mit dem Schicksal unserer Eltern. Und doch hat die Seele Schaden genommen, spüren wir die einschränkenden, schmerzhaften Auswirkungen und machen uns mühsam auf Spurensuche. Es ist gar nicht so normal, sich an nichts zu erinnern...
Ich wäre nicht erstaunt, wäre das die eigentliche Frage hinter deiner Frage: Kann es tatsächlich sein, dass ich verletzt bin, wo doch eigentlich alles gut und richtig gelaufen ist?
Es gibt ein interessantes Buch zu diesem Thema: Kriegsenkel
Mit deine Eltern hast du übrigens noch großes Glück, da sie sich heute auch kritisch mit ihren damaligen Entscheidungen auseinandersetzen und offene Gespräche darüber zulassen können. Das freut mich für dich.
Beste Grüße,
Eva