Der Psychologe Irving Kirsch war einer der ersten, der mit statistischen Mitteln nachweisen
konnte, dass Antidepressiva kaum über den Placebo-Effekt hinaus wirksam sind. Die Studie ist
frei verfügbar im Internet:
Kirsch, I. Deacon,. B., Huedo-Medina, T., Scoboria, A., Moore, T. & Johnson, B. (2008). Initial Severity
and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration.
PLoS Medicine, 5 (2), S. 0260 - 0268. Online im Internet:
http://journals.plos.org/plosmedicine/article?
id=10.1371/journal.pmed.0050045
Julia Friedrichs und Thorsten Padberg haben für die Zeit die Studienlage bis 2016 in eine
allgemein verständliche Form gebracht. Ein Text, der sich besonders an Laien richtet.
Friedrichs, J. & Padberg, T. (2016). Depressionen – Vom Schatten ans Licht. Zeit-Magazin, 25, 16-25.
Verfügbar unter:
https://www.zeit.de/zeit-magazin/2016/25/depressionen-psychotherapie-antidepressivaserotonin-
medikamente
3 Der Beipackzettel bspw. des Antidepressivums Escitalopram behauptet allerdings,
es würde ein solches Ungleichgewicht beheben:
https://beipackzetteln.
de/escitalopram-20-mg (15.10.2022).
4 Ein „Umbrella-Review“ ist eine systematische Übersichtsarbeit zu bereits
bestehenden Übersichtsarbeiten.
5 Mithilfe einer neuen Technologie hat der Forscher David Nutt eine solche
direkte Messung vornehmen können. Hier habe sich, so Nutt, ein vermindertes
Serotonin-Niveau im Gehirn von Depressiven gezeigt. Die Studie ist unveröffentlicht.
Vgl.
https://www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-a-reviewpaper-
on-the-serotonin-theory-of-depression/ (15.10.2022).
6 Im Folgenden eine Auswahl (letzte Abrufprüfung jeweils: 15.10.2022):
use-of-antidepressants-after-survey-on-serotonin
davies-says-it-may-be-your-life-instead-ntwhkd2gk
serotonin-hypothesis-depression
New research published yesterday shows that the theory justifying the millions of prescriptions for antidepressants handed out every month to patients is simply not true.
www.dailymail.co.uk
harmful-effects-decades-no-reason.html
BizNews spoke to Dr Moncrieff, the principal investigator in a recent study which found no evidence linking depression to low serotonin.
www.biznews.com
A new study questions whether depression is really caused by a chemical imbalance.
neo.life
sion-is-likely-not-caused-by-a-chemical-imbalance-in-the-brain-study-says/
html
Scholars have argued for decades that depression stems from social problems, not issues with brain chemistry. It's looking more and more like they're right
www.salon.com
what-causes-depression-it-s-more-complicated-than-low-serotonin?
srnd=opinion-technology-and-ideas&sref=r4AzvICB&utm_
campaign=socialflow-organic&utm_content=view&cmpid%3D=socialflowtwitter-
view&utm_source=twitter&utm_medium=social
7 Von über 22.000.000 Artikeln, die die Website Altmetric verfolgt: https://
www.altmetric.com/details/132834624?src=bookmarklet#score (Zuletzt abgerufen
am 13.10.2022; an diesem Tag rangierte die Arbeit auf Platz 286.)
8
(15.10.2022).
10 Vgl. die Sammlung der Expertenmeinungen, die das Science Media Center
veröffentlichte:
https://www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-areview-
paper-on-the-serotonin-theory-of-depression/ (15.10.2022). Das Science
Media Center ist eine Plattform, die Expertenzitate zu aktuellen Wissenschaftsthemen
für Journalist*innen bereitstellt. Es gilt als industrienah.
11
(15.10.2022).
Zudem wuchs mit der Schwere der Depression der Vorsprung
der Antidepressiva vor den Placebos. Das scheint
oberflächlich betrachtet die etablierte Praxis zu stützen, spätestens
ab einer mittelschweren Depression zur Einnahme
von Antidepressiva zu raten. Allerdings stieg die Symptomreduktion
nur um 0,09 Punkte pro Punkt auf der Hamilton-
Skala an, den die Teilnehmer*innen zu Beginn der Studien
erzielt hatten. Der Abstand zwischen Antidepressivum und
Placebo bei einem*einer Klient*in mit 29,6 HAMD-Punkten
zu Beginn der Studie (also einer qua Definition schweren
Depression) betrug dann 2,5 Punkte. Ein moderater Unterschied,
der noch unter dem bereits recht niederschwelligen –
von der FDA selbst aufgestellten – Kriterium für Wirksamkeit
von 3 Punkten liegt. Die Annahme,
Antidepressiva wirkten bei
schweren Depressionen stärker,
ist also nicht vollkommen falsch.
Es bleibt jedoch fraglich, ob dieser
Unterschied klinisch relevant ist
(vgl. Plöderl & Hengartner, 2019;
Hengartner & Plöderl, 2021).
Der Kirsch-/FDA-Studie zufolge gibt es keinen zwingenden
Grund, Antidepressiva für schwer depressive Menschen mit
größerem Nachdruck zu empfehlen.
www.thorstenpadberg.info