Für alle, die es etwas genauer wissen wollen. Aber ich muss mir das Ding gleich auch noch einmal in Ruhe durchlesen, damit wieder ein paar Groschen fallen.
Die Anatta-Lehre, die Lehre der Leere, oder auch Sunyata genannt, ist keine einmal festgelegte Philosophie, die damit für alle Ewigkeit bestand hat, sondern sie wandelte sich im Lauf der Zeit. Dieses läßt sich am Beispiel der Sautrantika, einer Schule des Hinayana sehr gut verfolgen. In seiner Lehrinterpretation bildet das Sautrantika einen Übergang vom Hinayana zum Mahayana, und steht unter allen Schulen des Hinayana dem Mahayana am nächsten. Der Sautrantika erlosch mit dem Niedergang des Buddhismus in Indien im 11./12. Jahrhundert n. Chr. (Wiedererstarken des Hinduismus), wurde gewissermaßen vom Mahayana-Buddhismus aufgesogen und fand vor allen in China und Japan Verbreitung.
Das Spaltung, die zur Entstehung des Sautrantika führte, hatte mehrere Ursachen. Zum einen lehnten die Sautrantikas die Literatur des Abhidharma (Abhidharma = Dreierkorb: 1. Korb der Ordensregeln, 2. Korb der Lehrreden Buddhas, 3. Korb der Abhandlungen - Lehren Buddhas und seiner Jünger) als nicht authentisch ab und ließen nur den Sutra-Teil (Korb der Lehrreden Buddhas) des Pali-Kanons gelten (daher der Name "sautrantika", etwa: "diejenigen, für die [der Tripitaka = Dreierkorb] mit den Sutras endet"; von sutra + anta = "Ende"). Zum anderen sorgten Meinungsverschiedenheiten über den Status der Grundelemente der Wirklichkeit, der 5 Daseinsfaktoren (Skandhas), für den Bruch mit den
Sarvastivadin.
Die 5 Daseinsfaktoren, auch
Skandhas genannt:
1. Körperlichkeitsgruppe
2. Gefühlsgruppe
3. Wahrnehmungsgruppe
4. Geistformationsgruppe
5. Bewusstseinsgruppe
Die Sautrantikas kritisierten die Vorstellung einer inhärenten (abhängigen) "Eigenexistenz" (svabhava), die die Sarvastivadin den Daseinsfaktoren zusprachen. Für sie kam dies einem Verstoß gegen die zentrale buddhistische Lehre vom "Nicht-Selbst" gleich, da die Sarvastivadin die Daseinsfaktoren, welche ursprünglich als Hilfsmittel in der meditativen Praxis angedacht waren, zu "letzten Wirklichkeiten" ontologisierten, und über diesen Weg wieder ein beständiges "Selbst" zur Hintertür einführten. Die Sarvastivadin zerlegten das Selbst in seine Wirklichkeitsbestandteile, erhoben diese Bestandteile dann jedoch ihrerseits auf die Stufe eines "Ewigen", das durch alle drei Zeiten hinweg latent in einer "Dharma-Sphäre" existiert.
Die Sautrantikas vertraten im Gegensatz dazu eine Lehre der Augenblicklichkeit (kshanikavada), derzufolge die Daseinsfaktoren im selben Moment entstehen und vergehen. Die Daseinsfaktoren besitzen demnach keinerlei zeiträumliche Ausdehnung und keinen linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zueinander. Vor ihrem Entstehen waren sie gänzlich nichtexistent und in diese Nichtexistenz wechseln sie auch wieder nach ihrem vollständigen Verlöschen über. Raum und Nirvana, die die Sarvastivadin zur Kategorie der nichtbedingten (asamskrta) dharmas zählten, definierten die Sautrantikas hingegen als völlige Abwesenheit jeglicher dharmas (Darseinsfaktoren) - sie lehnten daher auch die Bezeichnung der nichtbedingten Daseinsfaktoren ab.
Es sind den Sautrantikas zufolge nur die Abbilder der Wirklichkeit erfahrbar (vijnapti), da die Daseinsfaktoren so kurzlebig sind, dass sie nicht direkt und unmittelbar wahrgenommen, sondern nur geschlußfolgert (bahya-anumeya) werden können. Die Sautrantikas lieferten mit ihrer Lehre, die das Bewusstsein ins Zentrum der Analyse rückt, die Grundlage für das spätere Yogacara. Mehrere im Sautrantika entwickelte Lehrsätze wurden vom Yogacara übernommen und weiterentwickelt. Dazu gehören die Lehre der Repräsentation (vijnapti) und die Lehre vom Bewusstseinsstrom (santana), in dem bestimmte prägende Eindrücke hinterlassen werden, dort als Samen (bija) gespeichert werden und zu späteren Handlungen heranreifen. Erlösung bedeutet im Sautrantika, wie später im Yogacara, ein endgültiges Abreißen dieses Bewusstseinsstromes - welches bewirkt, dass die Skandhas nicht erneut zusammentreten, um eine Folgeexistenz zu bedingen.
Sautantrika