Ich habe eben zum allerersten Mal verstanden, wie man sich diese Leere eigentlich vorstellen soll:
Nach der Lehre des Buddha existieren zwei Wirklichkeiten/zwei Wahrheiten:
1.) einerseits die Welt der Form, die Welt der sinnlich erfahrbaren Phänomene, die Welt der in Zeichen und Begriffen geronnenen trügerischen, da einseitigen, Wahrnehmungen
2.) auf der anderen Seite: die Welt der Leerheit (Shunyata), die Welt der "Soheit", eine Sphäre jenseits der Form, jenseits von Geburt und Tod, Anfang und Ende, Selbst und Nichtselbst, eine Welt jenseits aller Begriffe.
Der Buddha wäre aber nicht der Buddha, wenn er sich darauf beschränkte, diese beiden Wirklichkeiten einander gegenüber zu stellen. Form und Leerheit sind letztlich eins, es gibt keine Dualität von Form und Nicht-Form - beide sind Ausdrucksformen ein und derselben Wirklichkeit, zwei Gesichter ein und der gleichen Welt.
Ein Gleichnis mag diesen Gedanken illustrieren: Eine Welle im Ozean ist nur scheinbar ein isoliertes, selbsthaftes Phänomen: sie ist Teil des Ozeans, geht aus ihm hervor. Die Welle besteht also letztlich ausschließlich aus Elementen, die Nicht-Welle sind (Form ist Leerheit). Trotzdem geht die Welle nicht völlig im Ozean auf, sie bleibt trotz ihres Eingebettet-Seins in den Ozean des Universellen eine Welle, ein individuell existentes Phänomen (Leerheit ist Form).
Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es einen einen Seite eine Form (Materie), ein Sein (Mensch), und auf der anderen Seite die Leere. Die Form bzw. das Sein sind letzten Endes aber nur Ausprägungen der Leere. Damit sind Form und Leere eins.
Mich erinnert das übrigens stark an die Äthertheorie, die besagt, dass das ganze Universum von Äther durchzogen sei und die matetiellen Dinge (Form, Sein) gewissermaßen nur energetische Konzentrationspunkte des Äthers sind.
Die Frage ist aber, wie berechtigt ist dieses Modell? Man könnte einerseits dazu neigen, die Leere als etwas Göttliches zu betrachten, aus der alles Sein entsteht. Macht man das allerdings, dann bewegt man sich auf der Ebene des Glaubens. Gleiches gilt ebenfalls für die Reinkarnation, wenn man meint, dieses Sein würde gewissermaßen als Welle auf dem Ozean existieren, dann wieder in die Leere hinabtauchen, um irgendwann wieder als Welle aufzutauchen.
Und es drängt sich mir natürlich die Frage auf, wie berechtigt ist es eigentlich, diesen universellen Ozean als Leere zu bezeichnen? Gibt man dem Kind einen Namen, so sind damit immer ganz bestimmte Vorstellungen vorbunden, die im Endeffekt nur zu Missverständnissen führen.
Wenn ich über dieses Modell nachdenke, kann ich eigentlich nur zu dem Schluß kommen, dass es nicht besonders hilfreich ist, die Realität zu beschreiben. Man kann es höchstens als einen Versuch ansehen, die Realität verstehen zu wollen. Das Modell beschreibt aber keineswegs die Realität. Die Realität wird uns immer verschlossen bleiben. Und damit sollten wir uns abfinden. Dieses Modell ist nichts anderes als eine willkürliche Darstellung und Vereinfachung der Realität. Da die Menschen aber zu dieser Vereinfachung neigen, um sich das Unvorstellbare vorstellen zu können, kann es vielleicht helfen, den Menschen eine gewisse Orientierung zu geben.
Aber ich muss sagen, ich orientiere mich lieber an einer Welt, so wie ich sie wahrnehme, so wie ich sie verstehe. Mir selber gefallen solche Modelle nicht so sehr. Außerdem gefällt mir die Bezeichnung Leere für den universellen Ozean nicht. Ich meine, man dürfte ihm eigentlich keinen Namen geben, weil er sich vollkommen unserem Verständnis entzieht.
Diamant-Sutra