Und sie sah die Schlange an und hatte tiefstes Erbarmen mit ihr. Sie WUSSTE, was ihr bevorstand. Doch sie sagte: Halt, noch eine Frage. Ich möchte wissen, wie mein Weg zurück gewesen ist. Kannst du mir diesen Gefallen tun? Du weißt doch sonst alles.
Und die Schlange schwieg - ganz entgegen ihrer Gewohnheit. Und Eva spürte das Wissen in sich aufsteigen - wie eine Schlange. Und sie erinnerte sich vollkommen an ihren Weg. Und sie wußte, daß sie, wenn sie ihn erzählen würde, ihn verbauen würde. Genau dieser Weg, den sie erzählen würde, würde dann für andere die Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse sein, und sie würden dahinein fallen. Und deshalb schwieg sie auch.
Und die Schlange sprach: Ah, ich sehe, du bist eine bessere Hüterin des Baumes als ich selbst. Würdest du mir denn auch einen Gefallen tun und den Baum solange behüten, bis ich wieder zurück bin? Ich hab da unten wohl so ein paar Dinge zu erledigen. Ich möchte schließlich auch so ein Kleid haben.
Und sie willigte gerne ein, schließlich war das eine wunder-volle Aufgabe. Ein paar Milliarden Gottessöhne warteten auf ihre Weisheit. Nicht mehr eine gefallene Weisheit, sondern die vollkommene, wiederhergestellte Weisheit, die noch größer ist als sie im Anfang war.
Eva schaute sich um im Garten. Und irgendwie war sie selbst dieser Garten und war es auch nicht. Wie eine Einheit in Vielheit und eine Vielheit in Einheit. Sie erinnerte sich der Geschichte von Joseph und seinen Träumen, wo er sich als Herrscher über Ägypten sah, und wie seine Brüder neidisch auf ihn wurden und ihn in die Grube warfen, er aber befreit wurde und wirklich zum Herrscher über Ägypten wurde. Sie erinnerte sich auch der Geschichte von Jesus von Nazareth und seiner Kreuzigung durch alle die, die es weder ertragen konnten, selber Gottessöhne zu sein noch einen Sohn Gottes unter sich wandeln zu sehen. Und wie er auferstand und wirklich zum König der Könige wurde.
Und sie spürte, daß man sie, wenn sie diesen Traum erzählte, genauso kreuzigen würde wie Joseph und Jesus und alle anderen, natürlich dem Gewand der jetzigen Zeit angepaßt. Doch sie erinnerte sich auch der Worte der weisen Haushälterin: Gib alles hin, behalte nichts zurück...
So beschloß sie, daß die kleine eva sich an diesen Traum erinnern durfte.
Und die kleine eva erwachte und erinnerte sich an diesen Traum. Sie schaute sich um. Die Haushälterin war nicht mehr da. Sie sah, daß sie immer noch auf diesem Teppich stand mit seinem unglaublich komplexen Muster, was gleichzeitig ganz einfach war. Und sie stutzte. Sie hielt doch etwas in der Hand. Es sah aus wie ein Apfel. Doch es war ein goldener Apfel.
Und sie kriegte schon wieder einen Schreck. Sie wußte sofort, was dieser goldene Apfel war. Es war das Zeichen, das ihr der Bibliothekar genannt hatte. Er hatte irgendwann einmal beiläufig erwähnt, daß sie, wenn sie den goldenen Apfel in der Hand halten würde, reif genug sei, sein Nachfolger zu werden. Sie hatte ihn nämlich einmal dabei beobachtet, wie er mit goldenen Äpfeln jonglierte. Und sie hatte ihn gleich gefragt, ob sie auch so einen bekommen könnte und wo die Äpfel denn her seien. Und er hatte - ganz gegen seine sonstige Gewohnheit - nur kurz und knapp geantwortet: Vom Baum.
Wie, vom Baum? hatte sie gefragt. Erzähl, bitte!
Dann ließ er sich doch bereden und sagte: Wenn du soweit bist, wirst du auch einen goldenen Apfel in der Hand halten. Er ist der Schlüssel, der alle Türen der Bibliothek des Lebens öffnet. Und du wirst auch wissen, welcher Baum dies ist und wo er steht und dir soviele Äpfel ohne Gefahr nehmen können wie du magst. Dann darfst du auch losgehen und einfach deine eigenen Fragen beantworten.
Und sie begriff, welcher Baum gemeint war. Der gefährliche Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Und sie wußte auch, warum der Baum nun ungefährlich war für sie. Es war wieder EINS geworden, was vorher zerteilt ausgesehen hatte wie zwei Bäume, der des Lebens und der der Erkenntnis von Gut und Böse. Der Schreck saß ihr trotzdem noch in den Gliedern, sie hatte ganz weiche Kniee. Und die Bibliothek. Jetzt, wo sie ein bißchen sortierter war, sah sie, daß die Bibliothek geschrumpft war. Oder? Sie guckte an sich runter. Bin ich gewachsen? Was ist denn das für ein lustiges neues Spiel?
Wie kriegt man das denn jetzt raus? Sie war doch neugierig, ob sie nun groß oder klein war. Sie erschien jetzt so groß wie der Bibliothekar, ging auf derselben Augenhöhe durch die Türöffnungen durch. Ah, fiel ihr ein. Der Apfel. Der goldene Apfel war doch der Maßstab. Sie schaute und sah, daß ihre Hände wirklich größer geworden sein mußten. Sie hatte nämlich damals den Apfel nicht halten können, sie hatte viel zu kleine Hände. Doch jetzt paßte er ganz genau in ihre Hand. Exakt sogar. Wie dafür gebaut.
Aber sie war aber doch irgendwie immer noch ein Kind im Herzen. Da fielen ihr die Worte von Erich Kästner ein, einem ihrer geliebten Kinderbuchautoren: Die Kunst ist es, erwachsen zu werden und im Herzen ein Kind zu sein.
Und die Worte aus ihrem Lieblingskinderbuch gewannen neue Konturen für sie:
und sie wußte plötzlich, wer keine Person hat. Die Kinder im Herzen! Und mit einer Vision, daß die Welt in Zukunft von Menschen mit Kinderherzen regiert werden wird, fing sie an, durch die Bibliothek zu hüpfen, auf zu neuen Abenteuern.
Eva erwachte. Sie war gestern abend eingeschlafen und hatte tief geschlafen. Nun machte sie die Augen auf und streckte sich. Oh! Wie war sie denn hier hingekommen? Wer hatte sie hierhin gebracht? Sie saß unter dem Wunderblühtenbaum und blickte nach oben in seine herrliche Krone. Hatte sie es sich gewünscht, hierher zukommen? Oder war es wie ein Hingezogenwerden? Ui, war das denn nicht auch eine von diesen Fragen gewesen, die der Mann Adam ihr gestellt hatte? Sie schaute auf ihre Hand. Und da stand geschrieben:
War es dein eigener Wunsch, oder hat dich die Bibliothek gezogen?
Nein, dachte sie, das ist jetzt aber doch zu komisch. Hab ich das da hineingeschrieben? Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß sie es da reingeschrieben hätte. Sie wußte mal wieder gar nichts. War sie denn jetzt eigentlich groß oder klein? Träumte sie oder wachte sie? Oder träumte sie, daß sie wach sei? Oder vielleicht war sie wirklich wach und hielt dies für einen Traum?
Na, wie auch immer. Sie beschloß, diese Frage auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Wichtige Fragen kommen ja immer wieder. Sie ahnte zwar schon, daß es gar keinen späteren Zeitpunkt gibt, aber naja. Ist ja auch nur so ein Modell. Jetzt war erstmal diese Frage von dem Adam dran.
Eigentlich wollte sie heute morgen von diesem goldenen Apfel essen. Doch sie hatte zum einen gar keinen Hunger, und zum anderen bemerkte sie gerade erst, daß der goldene Apfel nicht da war. Hm. Was ist denn bloß in dieser Nacht passiert? Sie gab das Bemühen auf, sich zu erinnern und fing lieber an zu fühlen. Das machte Freude. Einfach das Leben spüren. Ihr Herz war fröhlich und jubelte. Der Jubel war wie ein warmer Ton, der den ganzen Körper in Wellen durchhallte, wie ein Gesang und jede Zelle trug ihren Teil dazu bei. Ein milliardenfacher Chor mit Wunderharmonien. Und als sie so in ihr Herz spürte, sah sie den goldenen Apfel darinnen, seine Essenz. Und spontan seufzte sie tief und streckte ihre Hände in den Baum hinein. Und verwundert spürte sie, wie sie der Baum selbst war und seine Äste und Zweige wie Arme, Hände und Finger waren. Und so streckte sie sich und auch der Baum streckte sich, in Einem. Und es kam ein wunderliches Gefühl, als ob ihr Körper selber sich öffnen würde.
Als wenn ihr Brustkorb weit offen stünde und ihr Herz sich ausbreitete bis an die Enden der Schöpfung. Und sie sah, wie lauter Vögel aus ihrem Herzen flogen, golden-weiße Vögel, und sie flogen in die Schöpfung und setzten sich überall dorthin, wo sie willkommen geheißen wurden. Und immer mehr und mehr Vögel flogen aus ihrem Herzen, es nahm einfach kein Ende, unzählbar war die Zahl.
Sie erinnerte sich an ihren Namen. Mutter aller Lebendigen wurde sie genannt. Und so sah sie, wie die Vögel das reine Leben selber waren. Und sie erinnerte sich wieder der Frage von Adam. Ob sie so etwas begehrt hatte? Sie hatte sich ja nicht im entferntesten vorstellen können wie es jetzt war. Sicher, ein Wunsch nach Gottes Nähe war da gewesen, eine Sehnsucht im Herzen.
Nur wenn man von der anderen Seite her schaut, ja. Immerhin hatte sie begehrt, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu nehmen. Und irgendwie übte dieser Baum selbst eine geheimnisvolle Anziehung auf sie aus. Also war es wohl beides, innigstes Herzensbegehren aus der Ewigkeit schon und gleichzeitig einfach ihre Natur. Und in dem Maße, wie sie die Liebe zu sich selbst, zu ihrem innersten Kern, entfachte und entflammen ließ, in dem Maße wurde sie einfach in diese Dinge hineingetragen - in der Liebe und durch die Liebe. Und nun verstand sie auch, wie sie unter diesen Baum gekommen war und gleichzeitig eins mit diesem Baum geworden war. Und sie verbeugte sich in tiefster Demut vor Adam, der ihr dies eröffnet hatte.