Bedingungen seelischer Heilung

Vitriol

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Hallo allerseits,

der Thread zum Therapeutenhass hat mich dazu gebracht, einmal darüber nachzudenken, was denn eigentlich positiv erforderlich wäre, um das, was wir unter dem Namen "Psychotherapie" kennen, zu einem besseren Hilfsinstrument für den Menschen zu machen (wobei die hier zu nennenden Bedingungen eigentlich jegliche Form "seelischer Heilung" betreffen müssten).

Denn so sehr man an der Form, in der Psychotherapie heute vielfach praktiziert wird, berechtigte Kritik üben kann und muss, so sehr erscheint mir die Psychotherapie doch im Kern einige Elemente zu beinhalten, die gut sind, weil sie der Heilung des Menschen dienen. Würde man diesen guten Kern der Idee vergessen, würde man wahrscheinlich in gewisser Weise das Kind mit dem Bade ausschütten.

Wollte man diesen "guten Kern" in Kurzform beschreiben, so würde ich hier vor allem zwei Punkte hervorheben: Die heilende Funktion des Gesprächs, bzw. überhaupt des menschlichen Kontakts, sowie die Anerkennung der Wichtigkeit der Seele für das Glück des Menschen. Es stellt sich allerdings die berechtigte Frage, ob dieser gute Kern durch die "real existierende Praxis der Psychotherapie" in ihrer gegenwärtigen Form bereits in einer Weise zur Geltung kommt, wie dies vielleicht möglich wäre.

Deswegen einfach mal ein paar Thesen von mir, was gute seelische Heilung ausmacht (ob man diese nun Psychotherapie nennt oder nicht):

1. Es gibt kein abschließendes System, das den Menschen optimal zu sich selbst führt. Alle hierzu entwickelten Systeme (sei es nun Psychologie, der christliche Glaube, oder esoterische Weltdeutungen) sind immer nur Form für die Annäherung des Menschen an sich selbst, niemals die persönliche Realität dieses Menschen selbst. Sie sind nur Instrumente der Selbstfindung.

Ein guter Heiler berücksichtigt dies durch eine möglichst undogmatische Herangehensweise. Es ist erlaubt, zwischen den Systemen zu springen und zu gucken, was jeweils am besten passt. Kein System hat insoweit einen Allein-Vertretungsanspruch, auch die "Wissenschaft Psychologie" nicht.

2. Verabschiedung von der Fiktion, die Beziehung zwischen Heilendem und Heiler sei in irgendeiner Form wissenschaftlich "kontrollierbar". Das ist nicht nur nicht möglich (wie bei jeder menschlichen Beziehung!), sondern auch gar nicht wünschenswert oder erforderlich. Innerhalb bestimmter Eckpunkte (z. B. keine sexuellen Übergriffe auf den "Zu-Heilenden") ist es vielmehr die heilende Beziehung selbst, die den Rahmen für den Heilungsprozess setzt. Rationalität und Wissenschaft sollte insoweit nur eine Rolle spielen, wie es dem Heilungsprozess dient, was z. B. bei einem extrem wissenschaftsgläubigen "Zu-Heilenden" der Fall sein könnte.

3. Der Heiler erkennt an, dass es seine zentrale Aufgabe ist, sich als Projektionsfläche für die Heilungs-Phantasien des "Zu-Heilenden" zur Verfügung zu stellen. Das heißt auch ein Abschied des Heilers von der Vorstellung, es käme darauf an, dass ER irgendetwas beim "Zu-Heilenden" bewirke. Dass es vielmehr seine Aufgabe ist, für diese Projektion des "Zu-Heilenden" ein möglichst störungsfreies Feld zur Verfügung zu stellen. Verantwortung des Heilers für dieses "Kraftfeld" kann dann im Einzelfall wieder bedeuten, in die Rolle des "wissenschaftlichen Psychologen mit Erklärungsmodellen" zu schlüpfen, wenn dies dem "Zu-Heilenden" am besten entspricht.

4. Psychologe als "Beruf": Jeder Mensch, der sich mit der Welt, die ihn umgibt, als verbunden ansieht, und dieser Welt gut will, ist ein "Heiler". So gesehen ist "Heiler" als Beruf eigentlich ein Pseudo-Beruf insoweit, als hier die Heiler-Funktion, die eigentlich jeder Mensch hat, der sich genau dessen bewusst wird, zu einem Berufsbild verdichtet wird. Der Heiler sollte versuchen, diejenigen Elemente in ihm, die ihn dazu bringen, diese Aufgabe jedes Menschen (der sie als solche annimmt) als seinen "Beruf" zu bezeichnen, genau in Betracht zu nehmen. Auch für den Heiler lautet die allererste Devise: Mache Dich selbst heil! Ironischerweise scheint gerade der Berufsstand der Psychologen an exakt diesem Punkt eine unerkannte Neigung zum Projezieren zu haben, die er sonst vor allem seinen "Patienten" unterstellt.

Würde mich freuen, Eure Meinung zu diesen Thesen zu hören.

Herzlichen Gruß,

Vitirol
 
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Wollte man diesen "guten Kern" in Kurzform beschreiben, so würde ich hier vor allem zwei Punkte hervorheben: Die heilende Funktion des Gesprächs, bzw. überhaupt des menschlichen Kontakts, sowie die Anerkennung der Wichtigkeit der Seele für das Glück des Menschen. Es stellt sich allerdings die berechtigte Frage, ob dieser gute Kern durch die "real existierende Praxis der Psychotherapie" in ihrer gegenwärtigen Form bereits in einer Weise zur Geltung kommt, wie dies vielleicht möglich wäre. ... Der Heiler erkennt an, dass es seine zentrale Aufgabe ist, sich als Projektionsfläche für die Heilungs-Phantasien des "Zu-Heilenden" zur Verfügung zu stellen. Das heißt auch ein Abschied des Heilers von der Vorstellung, es käme darauf an, dass ER irgendetwas beim "Zu-Heilenden" bewirke. Dass es vielmehr seine Aufgabe ist, für diese Projektion des "Zu-Heilenden" ein möglichst störungsfreies Feld zur Verfügung zu stellen. Verantwortung des Heilers für dieses "Kraftfeld" kann dann im Einzelfall wieder bedeuten, in die Rolle des "wissenschaftlichen Psychologen mit Erklärungsmodellen" zu schlüpfen, wenn dies dem "Zu-Heilenden" am besten entspricht. ... Psychologe als "Beruf": Jeder Mensch, der sich mit der Welt, die ihn umgibt, als verbunden ansieht, und dieser Welt gut will, ist ein "Heiler". So gesehen ist "Heiler" als Beruf eigentlich ein Pseudo-Beruf insoweit, als hier die Heiler-Funktion, die eigentlich jeder Mensch hat, der sich genau dessen bewusst wird, zu einem Berufsbild verdichtet wird.
Hallo Vitriol,

Vorweg :

- Psychotherapie und Psychologie (als Naturwissenschaft) sind nicht dasselbe - haben manchmal sogar kaum etwas miteinander zu tun.

- Psychologie ist heutzutage per definitionem die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem menschlichen "Innenleben" - und deswegen auch für viele sehr eingeschränkt und unbefriedigend.

- Es gibt auch nicht DIE Psychotherapie - sondern SEHR unterschiedliche psychotherapeutische Wege mit VÖLLIG verschiedenen Welt- und Menschenbildern und Lösungsansätzen. Vergleiche mal Psychoanalyse und systemische Familientherapie, Verhaltenstherapie und Transpersonale Psychotherapie : da wirst Du kaum Gemeinsamkeiten finden.

Dein Wunsch, dass der Therapeut sich als Projektionsfläche für den Klienten versteht - der ist DAS Urbild des therapeutischen Selbstverständnisses seit Sigmund Freud.

Dass in jedem Menschen das Wissen um den eigenen Heilungsweg vorhanden ist und es in der Therapie nicht Aufgabe des Therapeuten ist, den Klienten zu heilen - sondern ihm die wohlwollend-akzeptierende Beziehungsform anzubieten, in der der Klient sich selbst heilt : das ist DAS Grundanliegen der Humanistischen Psychologie zB. von Carl Rogers (dem Begründer der non-direktiven Gesprächstherapie).

Insoferne trifft Deine Kritik möglicherweise zurecht einige konkrete PsychotherapeutInnen, mit denen Du schlechte Erfahrungen gemacht hast - aber keinesfalls die Psychotherapie an sich. (Viel von dem, was Du wünscht, steht sinngleich in psychotherapeutischer Basisliteratur).

Ein Punkt ist allerdings grundsätzlich falsch : Psychotherapie ist KEINE Normalbeziehung wie zB. unter Freunden. Warum ? In der Psychotherapie stehen ausschließlich die Beziehungs-Bedürfnisse des Klienten im Mittelpunkt - und die des Therapeuten nicht. Ein Therapeut kann nicht einen Klienten anrufen, wenn er Hilfe braucht, er kann sich mit Klienten kein Date ausmachen, wenn er ihm gefällt, er darf sich nicht abwenden, wenn er ihn verletzt.

Genau das ist das Entscheidende : der Klient darf und soll alle seine Facetten in der Beziehung zum Therapeuten kennenlernen und leben, ohne Angst haben zu müssen, dass der Therapeut ihn zurückweist oder ihn manipuliert (zur Erfüllung von Beziehungsbedürfnissen des Therapeuten). In dem Sinne ist die therapeutische Beziehung eine Übungs- und Lernbeziehung - indem es auch darum geht, destruktive Verhaltensweisen zu erleben, zu erkennen und zu lösen. (Und das ist manchmal ein beinharter Knochenjob.)

Das nennt man in der Therapie "Übertragungsarbeit" - der Therapeut stellt sich als Projektionsfläche zur Verfügung mit dem Ziel, dass der Klient frei von seinen Projektionen und fähig zur realen Begegnung wird. Und das ist manchmal ein Kampf auf Leben und Tod - ohne Übertreibung !

Ich weiß nicht, woher Du Deine Meinung von Psychotherapie hast (das wird aus Deinen Postings nicht ersichtlich, ob Du tatsächliche Erfahrung hast oder ob es sich eher um Vorurteile handelt). Ich weiß nicht, ob Du eine Ahnung hast, welche Menschen tatsächlich zum Psychotherapeuten gehen. Abgesehen von den wenigen selbstverliebten "Stadtneurotikern" - wie Woody Allen sie karikiert (Psychotherapie als Mode ist schon länger passe) kommen Menschen, die schwerst an sich leiden (vor dem Selbstmord stehen, am Rande der Lebens- und Arbeitsunfähigkeit stehen, keine Beziehungen herstellen und halten können etc.). Zum Psychotherapeuten geht man, wenn selbst beste Freunde nicht mehr helfen können.

Psychotherapie ist etwas völlig anderes, als "freundlich zuhören und ein gutes Gespräch führen". Dieser täuschende Eindruck kann entstehen, weil ein Psychotherapeut nichts anderes hat, als sich selbst und seine Fähigkeiten -
er kann kein Medikament oder Ähnliches einsetzen. Nicht umsonst ist die Ausbildung zum Psychotherapeuten eine der umfangreichsten und langwierigsten - in Österreich derzeit ca. 7 - 10 Jahre.

Selbstverständlich gibt es in der psychotherapeutischen Praxis zur Genüge unbefriedigende Situationen und Fehler - genug Anlass zur (Selbst)kritik - aber zu der ist ein Psychotherapeut ohnehin verpflichtet. Auch ist die Psychotherapie eine sehr junge Disziplin - zB. im Vergleich zur Medizin. (So halbwegs etabliert ist sie bei uns erst seit ca. 30 Jahren).

Liebe Grüße, Reinhard

PS.: Bezüglich Deiner Wünsche dürftest Du Dich von Carl Rogers höchstwahrscheinlich sehr gut verstanden fühlen. Er hat auch sehr sorgfältig und liebevoll die Grundbedingungen therapeutischen Verhaltens und therapeutischer Einstellung als Voraussetzung seelischer (Selbst-)Heilung des Klienten beschrieben.
 
PPS.: Das Kriterium der "Naturwissenschaftlichkeit" wird von den verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen und PsychotherapeutInnen SEHR unterschiedlich gesehen.

Es ist sicher sehr empfehlenswert, für sich zu klären, welche unverzichtbaren Grundwünsche man an einen Psychotherapeuten hat - und dann den Therapeuten / die Therapeutin zu finden, der diesem "Anforderungsprofil" entspricht. Es gibt so viele verschiedene TherapeutInnen, dass es an ein Wunder grenzen würde, bei ernsthafter Suche nicht fündig zu werden.
 
PPPS.: Für mich ist Psychotherapie EIN möglicher Weg zu seelischer Heilung NEBEN ANDEREN - weder "der einzige" noch "der beste". (Das ergänze ich sicherheitshalber noch, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen.)

Übrigens heißt das griechische "therapeuein" = begleiten - der Psychotherapeut ist (von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes her - "psyche" steht für Seele) ein "Begleiter der Seele". Klingt nach einer schönen Aufgabe, oder ?

LG, Reinhard
 
Hi Walter,

erstmal vielen Dank für Deine ausführliche Antwort!

Ich tu mich übrigens mit Kritik an der Psychotherapie durchaus schwer, vor allem, da ich weiß, dass in diesem Bereich viele sehr engagierte Menschen arbeiten, die auch über das, was sie da tun, sehr genau reflektieren. Als Außenstehender schmeisst man da einfach mal leicht ein paar Thesen in den Raum, zwar einerseits mit dem Vorteil, den ganzen Betrieb eben wirklich von außen zu betrachten, aber andererseits auch mit dem dunklen Gefühl, dass sich viele Psychologen wahrscheinlich schon um exakt dieselben Punkte Gedanken gemacht haben dürften.

Ich finde die Kritik an der Psychotherapie noch aus einem anderen Grund schwierig. Wenn man davon ausgeht, dass sie in der Tat eine Form ist, die dem Menschen erlaubt, sich selbst näher zu kommen, so hat sie zugleich eine doppelbödige Natur. Zum einen brauchen wir Menschen ein Mindestmaß an Form, um die Erfahrungen, die wir mit uns selbst machen, überhaupt in deutbarer Weise strukturieren zu können (und dafür stellt die Psychologie einen Rahmen zur Verfügung). Zum anderen führt auch genau diese Form dazu, dass unser Bild von uns selbst unscharf wird, da sie notwendigerweise als grobes Raster unserer persönlichen Realität in ihrer tatsächlichen Komplexität nie wirklich gerecht wird. Ich bin mir da selbst nicht sicher, wie stark die Form sein muss, die Psychotherapie einem solchen Selbsterfahrungsprozess gibt, bzw. andersherum wieviel Freiheit ein therapeutischer Prozess in der Realität wirklich verträgt.

Deine Kritik hängt sich ja im Wesentlichen an meiner dritten These auf, wonach der Therapeut in erster Linie die Bereitschaft mitbringen sollte, als Projektionsfläche für den "Zu-Heilenden" zu dienen. Da schreibst Du mit recht, dass genau dieser Punkt ja auch in vielen therapeutischen Schulen diskutiert wird. Ich bin mir aber nicht ganz sicher (und soweit reicht auch meine Kenntnis der psychologischen Literatur nicht), ob die Aspekte, die genau diesen Prozess beeinträchtigen können, schon in ihrer Gänze gesehen werden. Ein fragwürdiger Punkt wäre z. B. folgender: Du schreibst, dass der "Patient" mit dem Therapeuten "probeweise" eine Beziehung eingehen kann, sozusagen als Training, um alle dabei auftretenden Gefühle im Rahmen der "Übertragung" zu spüren und den Umgang damit zu lernen. Da wäre meine Gegenfrage: Wird das zumindest bei einem intelligenten Patienten, der die Rahmenbedingungen einer Psychotherapie komplett überschaut, nicht vollständig dadurch torpediert, dass dieser ja weiß, dass die "andere Seite" sich eben nicht wirklich gefühlsmäßig involvieren darf, zur Neutralität verpflichtet ist, ihrerseits weder "den Klienten um Hilfe bitten noch ein Date mit ihm verabreden darf", wie Du so schön schreibst. Einem denkenden Menschen muss doch der Pseudo-Charakter einer solchen Beziehung (und damit ihre Untauglichkeit als Vorbild für die Realität) sofort klar werden. Unterschätzt die Psychologie hier nicht, wie viele ihrer Patienten mindestens auf einer unterbewussten Ebene sofort durchschauen werden, dass eine solche Beziehung "Schein-Charakter" hat?

Zum anderen kommen noch hinzu andere unausgesprochene Rahmenbedingungen einer Therapie, die es zumindest möglicherweise erschweren könnten, eben diese Projektion reibungsfrei zu ermöglichen. Etwa die, dass der Patient ein Problem hat (formal sogar, da ihn ja die Krankenkasse überweisen muss, "krank" sein muss). Dass es für dieses Problem tiefen Wühlens in der Seele bedarf. Dass der therapeutische Prozess damit nicht nur Zeit, sondern auch der Öffnung hin zu persönlichsten Erfahrungen zwingend bedarf. Dass die andere Seite "Fachmann" ist und daher mehr versteht von mir und meiner Psyche als ich selbst, obwohl sie mich erst seit kurzer Zeit kennt. Ich behaupte nicht, dass diese gewissermaßen unausgesprochenen Rahmenbedingungen des Therapie-Settings in jedem Fall nachteilhaft sein müssen, manche "Patienten" werden genau das für ihren Heilungsprozess benötigen. Was ich kritisiere ist, dass sich die Psychotherapie (bzw. ihre Vertreter) zumindest soweit ich es überblicke nicht genug Gedanken darüber machen, dass überhaupt ein solches unausgesprochenes "Therapie-Setting" besteht und in vielen Fällen den Prozess des Heilens oder auch nur die Chance dazu genau so massiv behindern dürfte.

Herzlichen Gruß,

Vitriol
 
1. Ich finde die Kritik an der Psychotherapie noch aus einem anderen Grund schwierig. Wenn man davon ausgeht, dass sie in der Tat eine Form ist, die dem Menschen erlaubt, sich selbst näher zu kommen, so hat sie zugleich eine doppelbödige Natur. Zum einen brauchen wir Menschen ein Mindestmaß an Form, um die Erfahrungen, die wir mit uns selbst machen, überhaupt in deutbarer Weise strukturieren zu können (und dafür stellt die Psychologie einen Rahmen zur Verfügung). Zum anderen führt auch genau diese Form dazu, dass unser Bild von uns selbst unscharf wird, da sie notwendigerweise als grobes Raster unserer persönlichen Realität in ihrer tatsächlichen Komplexität nie wirklich gerecht wird. Ich bin mir da selbst nicht sicher, wie stark die Form sein muss, die Psychotherapie einem solchen Selbsterfahrungsprozess gibt, bzw. andersherum wieviel Freiheit ein therapeutischer Prozess in der Realität wirklich verträgt.

2. ... Da schreibst Du mit recht, dass genau dieser Punkt ja auch in vielen therapeutischen Schulen diskutiert wird. Ich bin mir aber nicht ganz sicher (und soweit reicht auch meine Kenntnis der psychologischen Literatur nicht), ob die Aspekte, die genau diesen Prozess beeinträchtigen können, schon in ihrer Gänze gesehen werden.

3. Ein fragwürdiger Punkt wäre z. B. folgender: Du schreibst, dass der "Patient" mit dem Therapeuten "probeweise" eine Beziehung eingehen kann, sozusagen als Training, um alle dabei auftretenden Gefühle im Rahmen der "Übertragung" zu spüren und den Umgang damit zu lernen. Da wäre meine Gegenfrage: Wird das zumindest bei einem intelligenten Patienten, der die Rahmenbedingungen einer Psychotherapie komplett überschaut, nicht vollständig dadurch torpediert, dass dieser ja weiß, dass die "andere Seite" sich eben nicht wirklich gefühlsmäßig involvieren darf, zur Neutralität verpflichtet ist, ihrerseits weder "den Klienten um Hilfe bitten noch ein Date mit ihm verabreden darf", wie Du so schön schreibst. Einem denkenden Menschen muss doch der Pseudo-Charakter einer solchen Beziehung (und damit ihre Untauglichkeit als Vorbild für die Realität) sofort klar werden. Unterschätzt die Psychologie hier nicht, wie viele ihrer Patienten mindestens auf einer unterbewussten Ebene sofort durchschauen werden, dass eine solche Beziehung "Schein-Charakter" hat?

4. Zum anderen kommen noch hinzu andere unausgesprochene Rahmenbedingungen einer Therapie, die es zumindest möglicherweise erschweren könnten, eben diese Projektion reibungsfrei zu ermöglichen. Etwa die, dass der Patient ein Problem hat (formal sogar, da ihn ja die Krankenkasse überweisen muss, "krank" sein muss). Dass es für dieses Problem tiefen Wühlens in der Seele bedarf. Dass der therapeutische Prozess damit nicht nur Zeit, sondern auch der Öffnung hin zu persönlichsten Erfahrungen zwingend bedarf. Dass die andere Seite "Fachmann" ist und daher mehr versteht von mir und meiner Psyche als ich selbst, obwohl sie mich erst seit kurzer Zeit kennt. Ich behaupte nicht, dass diese gewissermaßen unausgesprochenen Rahmenbedingungen des Therapie-Settings in jedem Fall nachteilhaft sein müssen, manche "Patienten" werden genau das für ihren Heilungsprozess benötigen.

5. Was ich kritisiere ist, dass sich die Psychotherapie (bzw. ihre Vertreter) zumindest soweit ich es überblicke nicht genug Gedanken darüber machen, dass überhaupt ein solches unausgesprochenes "Therapie-Setting" besteht und in vielen Fällen den Prozess des Heilens oder auch nur die Chance dazu genau so massiv behindern dürfte.

Herzlichen Gruß,

Vitriol
Hallo Vitriol,

Punkt 1 verstehe ich nicht wirklich, was Du sagen willst. Aber soviel : es gibt wie schon gesagt DIE Psychotherapie nicht. Die verschiedenen Therapieformen habe auch völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen und Formen (Einzeltherapie, Gruppentherapie; Therapien mit Schwerpunkt auf Gespräch, Imagination, Körperübungen etc. etc.)

2. Das Prinzip der Projektion wird nicht bloß diskutiert - es ist seit 100 Jahren GRUNDGERÜST vieler Therapieformen.

3. Da hast Du mich völlig missverstanden. Ich habe nicht gesagt, dass eine therapeutische Beziehung keine echte Beziehung sei - sondern dass sie nicht eine übliche freundschaftliche Beziehung ist. Und natürlich hat ein Psychotherapeut Gefühle zum Klienten. Er geht nur anders damit um, wie in einer freundschaftlichen Beziehung.

4. Man muss weder krank sein, noch von der Krankenkasse überwiesen werden, um psychotherapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen. Man kann sie genauso nützen, um sich besser kennenzulernen oder um sich weiterzuentwickeln. (Dafür sind zB. imaginative Verfahren sehr gut geeignet, Autogenes Training, Lachtherapie, Atemtherapie etc.)

Die Krankenkasse verlangt die Behandlung einer diagnostizierten Krankheit, wenn sie einen Kostenbeitrag leisten soll.

Gerade das von Dir behauptete Problem "Dass die andere Seite "Fachmann" ist und daher mehr versteht von mir und meiner Psyche als ich selbst, obwohl sie mich erst seit kurzer Zeit kennt" stimmt für viele Therapierichtungen überhaupt nicht. (Ich habe schon auf Carl Rogers verwiesen - aber da gibt es noch viel mehr.) In der Praxis ist das Problem in der Psychotherapie oft genau umgekehrt : Menschen kommen wie zum Arzt, setzen sich hin und erwarten, dass man ihnen sagt, was bei ihnen krank ist und dass man sie gesund macht. Es ist manchmal mühselig, Menschen dazu zu motivieren, die Eigenverantwortung zu übernehmen und zu erkennen, dass sie selbst "Fachmann in eigener Sache" sind.

Natürlich stellt man dem Klienten auch das eigene Fach- und Erfahrungswissen zur Verfügung - dafür kommt er ja auch zum Therapeuten (und geht nicht zum lokalen Wirt oder Friseur - wobei die manchmal eine hervorragende Menschenkenntnis besitzen !).

Es gibt Therapieformen, die überhaupt nicht "tief in der Seele wühlen" - sondern ausschließlich lösungsorientiert arbeiten.

5. Keine Ahnung, wie groß Dein Überblick in dieser Sache ist. Es gibt auch meistens kein "unausgesprochenes Therapiesetting" - sondern solche Fragen bespricht man meist am Anfang der Therapie. Wie kommst Du zu der Annahme, dass sich Psychotherapeuten darüber zu wenig Gedanken machen ? Was glaubst Du, womit man sich in vieljähriger Lehrtherapie, Ausbildung und in der begleitenden Supervision beschäftigt ? Das kannst Du mir glauben, dass sich jeder halbwegs vernünftige Psychotherapeut damit beschäftigt, was in der Therapie Heilprozesse unterstützt bzw. behindert. Wenn er dies nicht aus persönlichem und beruflichem Engagement heraus tut, dann zumindest aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus - bei dem Konkurrenzdruck !

Übrigens : ein Therapeut macht in der Regel zu Beginn der Ausbildung selbst als Klient eine Therapie. Da erlebt er selbst buchstäblich an Leib und Seele, was für ihn hilfreich ist und was hinderlich. Auch wenn das kein "Allheilmittel" ist - die "kritischen Fragen", die Du anscheinend für neu hältst, stellt man sich (und den Ausbildnern) in der Regel bereits ganz am Anfang der Ausbildung.

Wie schon gesagt : wenn Du auf der Suche nach einem Psychotherapeuten bist, stell Dir einfach Dein persönliches Anforderungsprofil an einen Psychotherapeuten zusammen, und dann finde die / den, der Deinen Wünschen entspricht.

Liebe Grüße,

Reinhard
 
Hi Reinhard,

nicht ärgern, alles nur Thesen eines Laien! :)

Punkt 1 verstehe ich nicht wirklich, was Du sagen willst. (...)

Ich meinte damit: Kannst Du Dir vorstellen, dass es eine bestimmte Form der Selbstfindung gibt, die zugleich dienlich und hinderlich ist?

So ein bißchen wie mit einer beruflichen Rolle, die Du einnimmst. Etwas, dass Dir einerseits die Möglichkeit gibt, Dich zu entfalten, andererseits Dich zugleich beschränkt, weil sie bestimmte Verhaltensweisen und andere Entwicklungsmöglichkeiten ausschließt...

2. Das Prinzip der Projektion wird nicht bloß diskutiert - es ist seit 100 Jahren GRUNDGERÜST vieler Therapieformen.

Nun ja, dann lass mich mal so sagen: Dass, was davon bis zu mir durchgedrungen ist, ließ mich bisher kein Vertrauen darin finden, dass der Gedanke, dass das Therapie-Setting selbst diese Projektion behindern kann, schon in allen Aspekten zureichend gesehen wird. Aber, zumindest was die Theorie angeht, kann ich mich da irren (und hoffe es sogar, wäre ja schrecklich, wenn ich der erste wäre, der sich diesen Gedanken macht :) ). Aber Du scheinst mir da tatsächlich belesener. Hast Du zufällig einen Literaturtipp zu dem Thema: ""Therapie-Setting als behindernder Aspekt einer heilenden Beziehung" (von mir jetzt mal so ausgedrückt, kann natürlich sein, dass das in der Fachliteratur unter einem völlig anderen Schlagwort abgehandelt wird).

3. Da hast Du mich völlig missverstanden. Ich habe nicht gesagt, dass eine therapeutische Beziehung keine echte Beziehung sei - sondern dass sie nicht eine übliche freundschaftliche Beziehung ist. Und natürlich hat ein Psychotherapeut Gefühle zum Klienten. Er geht nur anders damit um, wie in einer freundschaftlichen Beziehung.

...und genau dieser "anderen Umgang" ist das Dilemma: Einerseits bleibt Euch ja in gewisser Weise nichts anderes übrig, eine bessere praktische Lösung als "Supervision" u. ä. habe ich auch nicht parat. Und trotzdem bringt eben dieser "andere Umgang" die entscheidende "Verfälschung" in die therapeutische Beziehung. In gewisser Weise wird eine solche Beziehung immer durch die Sondersituation einer künstlich hergestellten "Heil-Beziehung" geprägt sein. Aber: An diesem Punkt zu bosseln lohnt sich, denn er ist nicht bloß ein "Problem". Im Endeffekt ist der "andere Umgang des Therapeuten mit seinen Gefühlen" nämlich genau das, was der Patient auf einer unbewussten Ebene in der Therapie erfährt. Das zentrale Übertragungsphänomen bezogen auf den Patienten ist zwangsläufig, dass gegenüber ihm "mit Gefühlen anders umgegangen wird", es ist sozusagen die Therapie.

4. Man muss weder krank sein, noch von der Krankenkasse überwiesen werden, um psychotherapeutische Begleitung in Anspruch zu nehmen. Man kann sie genauso nützen, um sich besser kennenzulernen oder um sich weiterzuentwickeln. (Dafür sind zB. imaginative Verfahren sehr gut geeignet, Autogenes Training, Lachtherapie, Atemtherapie etc.) Die Krankenkasse verlangt die Behandlung einer diagnostizierten Krankheit, wenn sie einen Kostenbeitrag leisten soll.

Eben! Wenige Menschen zahlen ja so eine Therapie aus eigener Tasche. Klar ist es nur eine Formalie, dass Du Dich gegenüber der Krankenkasse als "krank" bezeichnest (oder, um formal korrekt zu bleiben, zumindest in D bezeichnest Du Dich nicht als krank, sondern wirst von einem Arzt überwiesen). Aber unterschwellig prägt das die Einstellung zur Therapiesituation, genau so wie das ganze von der Medizin übernommene Arzt-Patienten-Schema der Psychotherapie.

(...) In der Praxis ist das Problem in der Psychotherapie oft genau umgekehrt : Menschen kommen wie zum Arzt, setzen sich hin und erwarten, dass man ihnen sagt, was bei ihnen krank ist und dass man sie gesund macht. Es ist manchmal mühselig, Menschen dazu zu motivieren, die Eigenverantwortung zu übernehmen und zu erkennen, dass sie selbst "Fachmann in eigener Sache" sind.

Das ist interessant und spricht zugleich für Deine Therapien, dass Du offenbar versuchst, hier den Ball der Verantwortung berechtigterweise auch ein Stück weit zurückzuspielen. Aber Du siehst, wie weit die Fachmann-Fiktion offenbar wirkt. Wenn diese Auffassung vom Psychologen als "Seelen-Klempner" in der Bevölkerung nicht weit verbreitet wäre, hättest Du ja das von Dir beschriebene Problem gar nicht. Der Psychologie wird hier in gewisser Weise ihr eigenes Bild, dass die Leute von ihr haben (und das nicht mit der Realität übereinstimmen muss, vielleicht ist man zumindest in der Theorie tatsächlich in vielen Punkten inzwischen weiter) zum Verhängnis!

Wie kommst Du zu der Annahme, dass sich Psychotherapeuten darüber zu wenig Gedanken machen ? Was glaubst Du, womit man sich in vieljähriger Lehrtherapie, Ausbildung und in der begleitenden Supervision beschäftigt ? Das kannst Du mir glauben, dass sich jeder halbwegs vernünftige Psychotherapeut damit beschäftigt, was in der Therapie Heilprozesse unterstützt bzw. behindert. Wenn er dies nicht aus persönlichem und beruflichem Engagement heraus tut, dann zumindest aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus - bei dem Konkurrenzdruck !

Vielleicht bin ich bis jetzt an die falsche Literatur zum Thema geraten. Irgendwie kommen mir die Psychologen, um mal einen etwas krummen Vergleich zu ziehen, wie Theaterschauspieler vor, die sich zwar viele Gedanken über die Interpretation des Stückes machen, das sie aufführen, sich aber wenig Gedanken machen über Dinge wie: Kostüme, wie teuer sind die Eintrittskarten, gibt es einen Sekt in der Pause, wie ist die Belüftung des Theater-Raumes. Ist berechtigt, sie sind ja nur Schauspieler, aber die anderen Dinge tragen eben genauso dazu bei, dass sich der Zuschauer wohlfühlt und das Theater-Erlebnis gelingt. Keine Ahnung, ob Du verstehst, was ich damit meine. Dass ein angehender Psychologe gezwungen wird, sich in seiner Ausbildung jahrelang mit den in einer Therapie auftretenden Phänomenen zu beschäftigen, sagt in dem Zusammenhang übrigens gar nichts. Denn es ist gut möglich, dass er die entscheidenden Punkte trotzdem übersieht. Klingt ziemlich arrogant, ich weiß, und ich kriege den entscheidenden Punkt hier auch schwer zu fassen (der obige Vergleich hinkt nämlich tatsächlich auch irgendwie). Vielleicht so: Wenn der Satz stimmt, dass wahre Heilung darin besteht, zu erkennen, dass man bereits heil ist, dann ist das Konzept einer Therapie der Psyche eben an sich schon nicht stimmig. Aber es ist schwierig zu beschreiben...

Herzlichen Gruß,

Vitriol
 
Hi Vitriol,

Vielleicht so: Wenn der Satz stimmt, dass wahre Heilung darin besteht, zu erkennen, dass man bereits heil ist, dann ist das Konzept einer Therapie der Psyche eben an sich schon nicht stimmig. Aber es ist schwierig zu beschreiben...

Wenn es stimmt, dass alles gut ist wie es ist, dann wäre auch ein - nicht - stimmiges Konzept der Psychotherapie, gut wie es ist. Ist ebenfalls schwierig zu beschreiben.......

Katarina :)
 
Hi Katarina,

Wenn es stimmt, dass alles gut ist wie es ist, dann wäre auch ein - nicht - stimmiges Konzept der Psychotherapie, gut wie es ist. Ist ebenfalls schwierig zu beschreiben.......

Das stimmt!

Lass es mich mal so sagen: Eine Eigenschaft von Konzepten wie der Psychologie ist ja, dass man auch in der Auseinandersetzung daran wächst. Und das liegt an der Reibungsfläche, die solch ein in sich geschlossenes Konzept bietet. Indem Du erfährst, was daran für Dich nicht stimmig ist, erfährst Du eine Menge über Dich selbst. Deswegen lohnt es, darüber nachzudenken, und das kann seinerseits soviel Selbsterfahrungswert haben wie eine Therapie. In einem gewissen esoterischen Sinne ist ja sowieso eigentlich das ganze Leben eine einzige Therapie, und selbst das stimmt nicht ganz, denn wenn alles gut ist wie es ist, dann gibts auch nix zu therapieren. Die wahre Therapie wäre somit: Zu erkennen, warum Du keine brauchst! Wenn Du das dann raus hast, kannst Du den Psychotherapeuten garantiert so entspannt begegnen, dass Du dann vielleicht doch fast wieder Lust auf eine Therapie bekommst... :)

Ganz lieben Gruß,

Vitriol
 
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Hallo,

bin jetzt zufällig auf eure Beiträge gestoßen. Interessant.

Auch das mit der Projektionsfläche, weil ich glaube, daß der Hilfesuchende auch die Projektionsfläche des Heilenden ist. Das ist zweiseitig, nicht einseitig.

Ich war selbst mal mit einem Therapeuten befreundet und wurde ständig psycho-analysiert. Da konnte ich mich gar nicht wehren dagegen, fast jede Verhaltensweise, die ich für normal hielt, hatte dann einen Hintergrund. Ich kam mir irgendwann hilfebedürftig vor , unzulänglich, kaputt. Vorher ging es mir gut.

Habe diese Beziehung dann beendet, hat aber eine Zeit gebraucht, bis ich mich mit mir wieder wohlfühlen konnte.

lg

katerlieschen
 
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