Jürgen Roloff, ein Bibelwissenschaftler, schreibt über das Thema Timotheus im Neuen Testament:
Das Bild keines anderen Paulusmitarbeiters gewinnt in den Briefen des Apostels in Verbindung mit der Apostelgeschichte auch nur annähernd so scharfe Konturen wie das des Timotheus.
Wäre es nicht schön und aufbauend, wenn auch heute ein so großes Vertrauensverhältnis zwischen den Amtsträgern und den Gläubigen wäre, dass jeder Priester voll und ganz auf seine Mitarbeiter zählen könnte. Wie viel Last wäre den Priestern dadurch abgenommen! Aber das setzte auch voraus, dass die Mitarbeiter voll und ganz geprägt wären vom lebendigen Glauben, wie es bei Timotheus war, und dass die Amtsträger bereit wären, ganz auf die Mitarbeiter einzugehen und ihre geistliche Entwicklung als ihre erste seelsorgliche Aufgabe zu sehen, wie es Paulus getan hat, was die beiden Briefe an ihn bezeugen, die im NT aufgenommen sind.
Was die Apostelgeschichte über Timotheus sagt und was Paulus selber über ihn schreibt, zeugt von der engen Verbindung des Mitarbeiters mit dem Apostel. All das aber wird durch zwei Briefe überboten, die Paulus direkt an Timotheus schreibt: der erste und der zweite Timotheusbrief. Diese beiden Briefe unterscheiden sich voneinander: der erste richtet sich durch Timotheus eigentlich an die Gemeinde von Ephesus, wo Paulus seinen treuen Mitarbeiter für einige Zeit zurückgelassen hat. Der zweite richtet sich ganz an Timotheus selbst: Es ist das geistliche Testament des Paulus.
Im 1. Tim geht es Paulus um die Gemeinde von Ephesus und den Auftrag, den Timotheus dort erfüllen soll. Paulus wünscht, dass Timotheus sein Wirken mit ganzer Hingabe erfüllt. Wir erfahren in diesem Brief, das Timotheus jung und kränklich ist. Er ist Lernender und steht in einem geistlichen Erziehungsprozess. Der Erzieher ist aber nicht so sehr Paulus, sondern vielmehr der Auftrag, der ihm von Paulus anvertraut wurde. Paulus hat nicht perfekte Mitarbeiter eingesetzt, sondern solche, die lernfähig und hingebungsvoll wirken konnten. In der Erfüllung seiner Aufgabe sollte Timotheus seine eigene Persönlichkeit entwickeln. Paulus begleitet diesen Prozess. So wird Timotheus ein guter Diener Christi. Hier nur ein paar Sätze aus dem 1. Tim, die das Gesagte unterstreichen wollen:
Diese Ermahnung lege ich dir ans Herz, mein Sohn Timotheus, im Gedanken an die prophetischen Worte, die einst über dich gesprochen wurden; durch diese Worte gestärkt, kämpfe den guten Kampf, gläubig und mit reinem Gewissen
Dies trage den Brüdern vor, dann wirst du ein guter Diener Jesu Christi sein, erzogen in den Worten des Glaubens und der guten Lehre, der du gefolgt bist
Niemand soll dich deiner Jugend wegen gering schätzen. Sei den Gläubigen ein Vorbild in deinen Worten, in deinem Lebenswandel, in der Liebe, im Glauben, in der Lauterkeit
Achte auf dich selbst und auf die Lehre; halte daran fest!
Trink nicht nur Wasser, sondern nimm auch etwas Wein, mit Rücksicht auf denen Magen und deine häufigen Krankheiten
Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist.
Auch in der heutigen Situation der Kirche werden die Priester nicht immer die perfekten Mitarbeiter finden. Die Mühe, Mitarbeiter zu begleiten und weiterzuführen, bleibt niemanden erspart. Aber durch diese persönliche Begleitung wächst auch die persönliche Beziehung, und die so gelebte Einheit wird gewiss im Dienst an den Menschen fruchtbar. Die Mutter Gründerin des Werkes, Frau Julia Verhaeghe, sagt einmal: Glaubt mir, Eure Einheit birgt in sich die Verheißung eines mächtigen Segens.
Den 2 Tim schreibt Paulus aus dem Gefängnis. Er rechnet nun mit seiner Hinrichtung. Der Brief ist sein Testament. Paulus gibt in ihm keine Anweisungen mehr, die eine konkrete Gemeinde betreffen würden. Im Angesicht des Todes vertraut Paulus sein Werk seinem geliebten Schüler an. Timotheus soll fortan das tun, was Paulus getan hat: Das Evangelium unerschrocken verkündigen, ohne Rücksicht auf damit verbundene Mühen und Leiden. Paulus schreibt:
Ich werde nunmehr geopfert, und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten. Schon jetzt liegt für mich der Kranz der Gerechtigkeit bereit, den mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird, aber nicht nur mir, sondern allen, die sehnsüchtig auf sein Erscheinen warten. (2 Tim 4.6f)
Und mit ernsten und feierlichen Worten wendet er sich an seinen Mitarbeiter:
Ich beschwöre dich bei Gott und bei Christus Jesus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich: Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst! (2 Tim 4,1ff)
Im Gegensatz zum 1 Tim wird Timotheus in 2 Tim nicht mehr als Lernender gezeichnet, sondern als einer, der fähig ist, in Eigenverantwortung zu handeln. So ist er bereit, das allein fortzuführen, was ihm zuvor nur als Mitarbeiter anvertraut war. Als Mitte der innigen Verbindung von Paulus und Timotheus erscheinen der gemeinsame Glaube und der Dienst am Evangelium. Ihren tiefsten Ausdruck findet diese Gemeinsamkeit in der Thematik des Mit-Leidens des Mitarbeiters mit dem Apostel. Wenn Paulus das Evangelium in Fesseln, in Leiden und im bevorstehenden Tod bezeugt, dann muss auch Timotheus leiden. Paulus schreibt:
Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis bin, sondern leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt dazu die Kraft
(2 Tim 1,8)
Ich möchte noch einmal Frau Julia Verhaeghe zur Wort kommen lassen, die Gründerin des Werkes, die aus den Paulusbriefen für ihren Weg so viel Licht geschöpft hat. Sie schreibt einmal über die Beharrlichkeit und Leidensbereitschaft im seelsorglichen Wirken: Nach dem ersten Aufflackern einer oberflächlichen Begeisterung suchen viele die Flucht vor den realen Forderungen des apostolischen Einsatzes. Sie haben nicht tief genug begriffen, dass sie sich zuerst mit ihrem ganzen Sein als Vorbild hingeben müssen, ehe sie sich aktiv in Wort und Tat einsetzten. Dies gilt in besonderer Weise für jene, die eine Verantwortung tragen. Seid wachsam, dass ihr Gottes Stunde nicht in Begeisterung vorauseilt und euch dann entmutigt zurückzieht, weil ihr zu sehr auf eure eigenen Kräfte vertraut habt. Paulus hat in diesem Sinn am Beginn des 2 Tim geschrieben:
Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis bin, sondern leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt dazu die Kraft: Er hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade, die uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde. (2 Tim 1,7-8)
Wir haben im 2 Tim einen biblischen Hinweis auf das, was die Kirche Sukzession nennt, d.h. die Weitergabe der Sendung, die Jesus vom Vater, die Apostel von Jesus und die folgenden Generationen von den Aposteln empfangen haben. Das zweite vatikanische Konzil hat diese Lehre in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium folgendermaßen formuliert:
Jene göttliche Sendung, die Christus den Aposteln anvertraut hat, wird bis zum Ende der Welt dauern
Aus diesem Grunde trugen die Apostel für die Bestellung von Nachfolgern Sorge. Sie hatten nämlich nicht bloß verschiedene Helfer im Dienstamt, sondern übertrugen, damit die ihnen anvertraute Sendung nach ihrem Tod weitergehe, gleichsam nach Art eines Testaments ihren unmittelbaren Mitarbeitern die Aufgabe, das von ihnen begonnene Werk zu vollenden und zu kräftigen
Deshalb bestellten sie solche Männer und gaben dann Anordnung, dass nach ihrem Hingang andere bewährte Männer ihr Dienstamt übernähmen. LG 20
Am Beispiel des Verhältnisses von Paulus und Timotheus sehen wir, dass die Weitergabe des Amtes oder die Mitarbeit im Dienst am Reich Gottes kein formaler, steriler, bürokratischer Akt ist, sondern eine lebendige Beziehung als Grundlage hat. Wie Paulus und Timotheus miteinander verbunden waren, so sollen es auch jene sein, die im Reich Gottes miteinander arbeiten. Paulus hat uns nicht nur seine Botschaft hinterlassen, sondern hat uns auch das gelebte Beispiel des Umgangs mit Mitarbeitern gegeben. Möge er für alle, die sich heute für das Reich Gottes einsetzen, ein mächtiger Fürsprecher und ein geistlicher Lehrer sein.