Ja, aber da verwendest du persönlich das Wort vergeben tatsächlich in einem vollkommen anderen Sinn. Wenn ich jetzt aufmerksam mitgelesen habe, war der Kernpunkt hier ja das Begreifen der Ursache. Das erklärt dann erstmal einen Teil der Gegenwehr, das siehst du auch, oder? Wenn du etwas begreifst, ist das Problem doch gelöst - ist Vergeben da nicht ein irreführender Name dafür?
Das sagte Reinhard ja auch gerade. Das, was ich beschreibe, ist Vergebung im wahren Wortsinn. Was allgemein unter Vergebung oder Verzeihen verstanden wird, sind bloss Lippenbekenntnisse. Dieses "komm, ist nicht so schlimm, ich vergebe dir und bin dir wieder gut" ist kein wirkliches Vergeben. Natürlich verstehe ich die Gegenwehr dagegen, bloss- ich versuche hier seit 4 Tagen zu erklären, wie es wirklich gemeint ist- und werde gelöscht. Das sieht dann für mich nicht so aus, als wollte jemand wirklich verstehen, was gemeint ist- das siehst du doch dann aber auch, oder?
Der Begriff "Vergebung" an sich ist irreführend, ja. Weil- tatsächlich gibt es nix zu vergeben, das sieht nur vorher so aus. Vorher gibt es ein Opfer, nämlich mich- und einen Täter, den anderen Menschen. Der hat mir was angetan- und ich hab' immer viel Zeit damit verbracht, darauf zu warten, dass der Täter seine Schuld eingesteht und bereut und sich aufrichtig bei mir entschuldigt. Je nach dem, um was es bei der Tat ging, hab' ich dem Täter auch auf diese Art des Lippenbekenntnisses vergeben, sprich "ich bin dir wieder gut". War ich aber nicht, nicht wirklich. Innerlich hab' ich drauf gelauert, wann sich das mir Angetane wiederholt- was es sich auch immer hat. Irgendwann hatte ich genug und hab' den Täter in die Wüste geschickt. Mit mir nicht mehr!
Bloss- es blieb immer ein Schuldgefühl zurück. Dieses Schuldgefühl ermahnte mich innerlich, dass ich irgendwo selbst einen Fehler gemacht hatte in der Begegung mit dem Täter. Nur- wo? Dieses Grübeln, dieses ständige drüber Nachdenken, das bindet einen an den Täter. Ich hab' immer eine Rechtfertigung für mein Tun gesucht- und es gefunden im Verhalten des Täters. Wenn der so drauf ist, dann kann ich nicht anders, ich muss ja so handeln. In dem Augenblick, in dem ich erkannte, wo mein Fehler lag, war ich frei. Weil ich die Ursache meines Schuldgefühls erkannt hatte. Die innere Selbstanklage endet- und in diesem Sinne ist das Wort "Vergebung" falsch. Weil- wo keine Anklage, da gibt's auch nix zu vergeben.
Kinnarih schrieb:
Nur seh ich jetzt trotz ehrlichen Bemühens noch nicht die Verbindung zu den anderen Schuldgefühlen... nämlich wo ein Opfer in sich da einen Ansatzpunkt zum Begreifen überhaupt finden sollte. Das erscheint mir nicht zielführend - meine Frage richtet sich da jetzt nicht nur an dich. Was sollte ein Mißbrauchsopfer in sich begreifen - bezieht sich das auf das Entstehen des Schuldgefühls an sich?
Ja. Wo kommt das Schuldgefühl wirklich her? Es hat seinen Ursprung im eigenen Inneren und nur da kann es durch Erkennen der Ursache aufgelöst werden. Natürlich ist das schwierig und ein langer Weg, vorher geht's durch Anklage des Täters, Wut, Hass, Ohnmacht, Aggression, das ist alles vollkommen natürlich. Aber Heilung, wahre Heilung ist nur garantiert durch das Aufspüren der wirklichen Ursache des Schuldgefühls. Es gibt im eigenen Verhalten einen Fehler, den gilt es zu erkennen. Dieser Fehler ist zwanghaft und unbewusst.
Mit dem Täter hat das alles nichts zu tun. Ob der nun eingeknastet, therapiert oder geköpft wird, es änderte nichts an der Angst, dass es sich wiederholen könnte- an mir oder an anderen.