Die Lösung lautet für mich: ich darf die Wut spüren, für andere lautet die Lösung vielleicht Vergebung - und die Wut klein halten - was in meinen Augen der Verdrängung gleich kommt.
Da hast du recht- der Versuch, die Wut klein zu halten, kommt einer Verdrängung gleich. Das hab' ich auch versucht, mir innerlich gut zuzureden, es sei doch sooo schlimm nicht gewesen. Nee, das klappt nicht, das gibt bloss Magengeschwüre.
Ich erzähle ein Beispiel von mir, also: Ich hatte eine Frau kennengelernt und mich mit ihr befreundet. Sie war interessiert an spirituellen Dingen und wir hatten viele Gespräche. Ihre Lebenssituation war schwierig, ihr Partner war gerade aus dem Knast entlassen worden (Autodiebstahl und ständiges Fahren ohne Führerschein) und sie machte sich grosse Sorgen, dass er rückfällig werden könnte. Trotzdem wollte sie ihn heiraten. Ich war zur Hochzeit eingeladen und half ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen.
Ihre wichtigste Frage war: was ziehe ich an? Die finanzielle Lage war angespannt, sie konnte sich kaum neue Klamotten leisten, aber wir fanden dann doch etwas passendes für sie. Bei dieser Gelegenheit fragte sie mich, ob ich nicht eine Kette oder anderen Schmuck hätte, den ich ihr anlässlich der Feier leihen könnte. Klar- ich lieh ihr eine teure Silberkette von mir. Die Feier war schön, sie trug meine Kette- und ich vergass in den folgenden Tagen, diese Kette wieder an mich zu nehmen.
Kurz nach der Hochzeit wurde ihr Mann wieder rückfällig, stahl einen Wagen, lieferte sich eine wilde Verfolgungsjad mit der Polizei, rammte dabei ein paar andere Autos- und wurde schliesslich in ihrer Wohnung gestellt und erneut eingeknastet. Sie war am Boden zerstört- und ich stand vor einem Dilemma. Sie bat mich nämlich, sie einmal wöchentlich zum Besuch ihres Mannes in den Knast zu fahren. Dazu hatte ich nicht die geringste Lust- aber ein Schuldgefühl, es nicht zu tun.
Woher kam dieses Schuldgefühl? Meine Freundin brauchte meine Hilfe- und es ist doch selbstverständlich, einer Freundin auf jede erdenklich Art zu helfen. Ich würde das von meiner Freundin erwarten- und das ist der Punkt. Ein Schuldgefühl stellt sich zB dann ein, wenn man selbst nicht Willens oder in der Lage ist, für andere das zu tun, was man selbst von ihnen erwartet. Also hab' ich sie zähneknirschend zum Knast gefahren. Innerlich hab' ich sie verflucht- was hat sie auch unbedingt diesen Idioten heiraten müssen, es war doch sonnenklar, dass der rückfällig wird.
Ich hab' sie ein paarmal gefahren und war immer genervter von der Situation- dann hatte sie Geburtstag. Auf der Party fiel mir meine Kette wieder ein, die hatte sie immer noch. "Frag' sie nach der Kette, nimm das Ding mit", sagte meine innere Stimme, ich hab' sie weggewischt, im Trubel des Geburtstags erschien es mir nicht passend.
Zwei Tage später rief ich sie an- sie nahm nicht ab. Ich rief sie in Laufe des Tages mehrmals an- sie nahm nicht ab. Ich sprach ihr auf den AB, sie rief nicht zurück. In den folgenden Tagen- dasselbe Spiel, sie meldet sie nicht. Ich fuhr zu ihrer Wohnung, klingelte- sie machte nicht auf. Ein Verdacht keimte in mir auf, schliesslich erreichte ich ihre Tochter. Die lachte und sagte: so macht meine Mutter das immer, wenn sie von jemandem die Schnauze voll hat- sie zockt ihn ab und stellt sich dann tot. Ja, aber- meine Kette. Die siehste nicht wieder, sagte ihre Tochter.
Den Austraster, den ich dann hingelegt habe, den kannst du dir nicht vorstellen, Ahorn. Das war blanke Raserei, 48 Stunden am Stück. Ich hab' getobt, geschrien und gerast vor Wut und Hass. Ich hab' mir Rache- und Vergeltungsmassnahmen überlegt, da war alles dabei, von Anzeige über: ich rufe ein paar starke Kumpels an und trete ihr die Tür ein, schlage sie zusammen, foltere sie, bringe sie um. Alles, das ganze Programm. Zwischendurch natürlich auch die Stimme, die zur Verdrängung aufruft: komm' schon Simi, bleib' ruhig, ist doch nur ne Kette.
Die ganze Zeit wusste ich aber- es liegt an mir, bloss wo? Und dann, in einem Zustand der völligen Erschöpfung nach 48 Stunden ohne Schlaf, da hab' ich's gesehen. Ich wollte die Frau los sein, ich hatte die Schnauze gestrichen voll von dieser Freundschaftspflicht. Ich hatte aber nicht das Rückgrat, ihr das zu sagen. Weil es mir wie ein Verrat vorkam. Insgeheim hatte ich mir den Diebstahl gewünscht. Denn ein solcher Diebstahl würde das Freundschaftsband zerschneiden- und zwar von ihrer Seite aus. Ich hatte sie mit der Leihgabe unbewusst in Versuchung geführt, hatte ihr die Möglichkeit zum Diebstahl auf dem Präsentierteller serviert. Darum hatte ich die Kette auch nicht zurückgefordert, obwohl ich dran gedacht hatte.
Als ich das sah, war mir alles klar- und Frieden zog in mein Herz. Ich war sie los- au Mann, das hätte ich auch wirklich leichter haben können. Aber es war mir vorher nicht möglich, anders zu handeln, der innere Zwang, einer Freundin helfen zu müssen, hatte mich davon abgehalten, das richtige zu tun.
Ich habe sie nicht angezeigt, das hätte auch nichts gebracht, ich hatte nicht mal mehr ne Rechnung für die Kette, auch keine Zeugen, da ich ihr das Ding unter vier Augen geliehen hatte. Ausserdem hatte sie sie mit Sicherheit verschwinden lassen und später verkauft. Das war mir auch alles nicht mehr wichtig, mir ging's bloss um meinen Seelenfrieden. Dadurch, dass ich meine Situation verstand, verstand ich auch ihre. Ich vergab mir meine Unfähigkeit, die Freundschaft zu beenden- und dadurch vergab ich ihr ihren Diebstahl. Die Vergebung für den Täter ist ein Nebeneffekt der Selbstvergebung. Aber zuerst muss man toben.