Dennoch wirkt es irgendwie abstossend, nun alle Missbrauchten zu stigmatisieren und als "ewig anders" abzustempeln. Das schiebt doch nur einen Keil zwischen "Missbrauchten" und "Nicht-Missbrauchten". Ein missbrauchter Mensch wird sich doch niemals verstanden fühlen von einem Nicht-Missbrauchten und so wird es für diese schwer, den Opfern zu helfen, an sie ranzukommen.
Aber das ist aus meiner Sicht die Wahrheit. Nicht, daß ein Nicht-Mißbrauchter nicht helfen kann, aber verstehen wird er es nicht können. Das ganze Denken und Handeln dieser Menschen ist ja komplett anders. Mitunter können sie nicht mal ihren Gefühlen trauen. Wenn man nicht mal weiß, ob man nun grad verliebt ist oder nicht, oder ob man überhaupt lieben kann - ist das nicht eine komische Vorstellung? Kannst Du Dir vorstellen, daran zweifeln zu müssen, ob Du gerade verliebt bist oder ob Du einen Menschen liebst?
Kannst Du Dir vorstellen, wie es sein muß, wenn man damit beginnt, sich einen Menschen von dem man glaubt ihn zu lieben, sich plötzlich schlecht zu reden? Und selbst nicht mal zu wissen, WARUM man in diesem Menschen, in den man gerade eben noch verliebt war, plötzlich ein Monster sieht?
Kannst Du Dir die Qual vorstellen, jemanden zu lieben, doch wenn er dann zu nahe kommt, hält man es einfach nicht aus und ergreift die Flucht? Und wenn der andere, der abgewiesene dann plötzlich die Flucht ergreift, rastet man aus, weil man dies auch nicht erträgt?
Kannst Du Dir vorstellen, wie es ist, wenn man jemanden mag, es ihm aber nicht sagen oder zeigen zu können? Oder wie es ist, wenn man etwas nicht mag, nicht nein sagen zu können und es dann "über sich ergehen läßt"?
Kannst Du Dir vorstellen, wie auslaugend es ist, sich auf Menschen einlassen zu müssen (z.B. im Beruf) und nicht einfach wegrennen zu können, wenn es zuviel wird, sondern es aushalten zu müssen?
Kannst Du Dir auch noch vorstellen, wie es sein muß all dies nicht mal zu wissen? Sondern das es alles unbewußt abläuft und man gar nicht weiß, was einen so fertig macht? Warum man in ein Loch nach dem anderen fällt und nie weiß, warum eigentlich?
Und dann stell Dir zusätzlich noch vor, daß man selbst sich als vollkommen normal empfindet. Und wenn andere sagen: irgendwas stimmt nicht, mach mal eine Therapie - das man das gar nicht hören will und wieder völlig ausflippt und dem anderen vielleicht auch noch an den Kopf wirft: vielleicht solltest DU sowas machen.
Angst. Ich hatte bisher nie geglaubt das ich Angst habe. Wovor denn, habe ich immer gedacht. Nicht mal vor dem Tod fürchte ich mich. Doch dann mußte ich erkennen, daß ich aus Angst entsprechenden Mustern folge. Ich wußte nicht mal etwas von dieser Angst, die aber mein ganzes Leben bestimmt.
Mag sein, daß es Heilung gibt. Aber wo fängt man da an? Bei welchem Problem, bei welcher verhaltensweise, bei welcher versteckten Erinnerung, die auch noch hochkommen kann? Bei welcher Störung? Bei der Angst? Bei der Eßstörung? Bei der Selbstverletzung? Bei den Depressionen? Bei den Selbstmordgedanken? Bei der Angst vor Nähe? Bei dem nicht ausdrücken können der eigenen Gefühle? Bei dem nicht kontrollieren können der Emotionen? Beim geistigen Rückzug, d.h. sich gedanklich ständig "ausschalten"? Bei dem unterscheiden lernen: was fühle ich eigentlich tatsächlich in diesem Moment; ist das Gefühl echt, kommt aus mir, kann ich ihm trauen? - Wo fängt es an, wo hört es auf. Und was meinst Du, wie lange wird es wohl dauern, bis all diese Punkte abgearbeitet sind. Und meinst Du, etwas was im Kindesalter zerstört oder gar nicht erst erlernt wurde, ist so leicht aufzubauen?
Was denkst Du? Wer hat die Nerven, diesen Weg mit dem Opfer zu teilen - denn ich glaube mitunter hat die helfende Person KEIN eigenes Leben, sondern muß sich voll und ganz dem Leben des anderen widmen. Wer hält die Panik aus: "wenn ich jetzt weggehe und wiederkomme, hat sie sich dann umgebracht? Selbst verletzt? Ist sie wieder zornig und blockiert und spricht fünf Tage nicht mehr mit mir? Oder ist sie nachts in den Park gelaufen aus Wut, in der Hoffnung, irgendwer wird sie umbringen oder verletzen? Oder hat sie sich vor lauter Frust fremden Kerlen hingegeben, weil ihr das einfach nur weh tut, aber sie genau diesen Schmerz sucht, weil sie sich selbst haßt oder dieses Leben?"
Oder wenn dann regelmäßig Anrufe kommen, weil das Opfer wieder mal vor einem Nervenzusammenbruch steht und sich aus dem Fenster stürzen will.
Ich denke für Menschen, die glücklich sein möchten und sich eine erfüllende (auch sexuelle) Beziehung wünschen, ist das recht unerträglich. Es wäre eine wahnsinnige Herausforderung. Denn Opfer reagieren mitunter keinesfalls vorhersagbar oder logisch. Sie reagieren nach ihren Mustern, die sie sich teilweise nicht mal selbst erklären können. Und wenn sie sich diese selbst erklären können, heißt das noch lange nicht, daß man sie kontrollieren kann oder das nicht eine noch subtilere Verhaltensweise eine andere, "aufgelöste" "ablöst".
Was denkst Du, wenn ein Kind im bestimmten Alter bestimmte Lernprozesse nicht durchmacht, z.B. wenn sich wichtige Hirnfunktionen/Erkenntnisse herausbilden. Oder wenn es um "Urvertrauen", "Ich", "Verantwortung" usw. geht - wie groß ist die Chance, daß diese Menschen jemals erfahren werden, wie es eigentlich ist "normal" zu denken und zu fühlen.
Ich wünsche mir sehr oft zu wissen, wie es ist, wie es sich anfühlt, wenn alles so ist, wie es eigentlich sein sollte. Doch davon bin ich scheinbar weit entfernt. Und darum kann ein Opfer ein Nicht-Opfer auch nur wenig verstehen. (ich zumindest, möchte hier ja nicht für alle sprechen.)