Denn so wie die Liebe euch krönt,
wird sie euch kreuzigen.
So wie sie euer Wachstum befördert,
stutzt sie auch euren Wildwuchs.
Ebenso wie sie zu euren Gipfeln emporsteigt
Und eure zartesten Zweige liebkost,
die im Sonnenlicht zittern,
Wird sie zu euren Wurzeln hinabsteigen uns sie
Erschüttern in ihrem Erdverhaftetsein.
Wie Garben sammelt sie euch und drückt sich euch
An die Brust.
Sie drischt euch, um euch zu entblöβen.
Sie siebt euch, um euch von eurer Spreu zu befreien.
Sie mahlt euch blütenweiβ.
Sie knetet euch, bis ihr geschmeidig seid;
Und dann überantwortet sie euch ihrem heiligen Feuer,
damit ihr heiliges Brot für Gottes heiliges Festmahl werdet.
All das wird die Liebe euch antun, damit ihr die Geheimnisse
Eures Herzens erkennt und in diesem Erkennen zu einem
Bruchteil vom Herzen des Lebens werdet.
Solltet ihr aber aus Angst nur den Frieden der Liebe
Und die Freude der Liebe erstreben,
Dann ist es besser für euch, wenn ihr eure Blöβe bedeckt
und die Tenne der Liebe verlasst und hinaustretet
In die Welt ohne Jahreszeiten, wo ihr lachen werdet,
aber nicht all euer Lachen, und weinen, aber nicht all euer Weinen.
Kahlil Gibran
Martha Chang hatte sich erst vorige Woche entschlossen, mit nach Indien zu fliegen. Einer aus der Gruppe war abgesprungen und da ihre Freundin Elisabeth sie darum bat, willigte Martha schließlich ein.
Sie hatte Ärger mit ihrer Firma gehabt, die letzten Monate waren für Martha nicht leicht gewesen. Dann kam das Ende einer Beziehung, ließ sie den Glauben an sich selbst verlieren. Sie wusste, sie brauchte irgendein Wunder.
Martha und Elisabeth, Chinesinnen, besuchten als Kinder zusammen eine katholische Missionsschule. Der Katholizismus hinterließ jedoch nur vage Spuren in ihrem Glaubensgebäude. Sie überlagerten die alten chinesischen Traditionen nur und gingen eine Symbiose ein mit dem östlichen Glauben an Drachen und Geistern, allerlei Aberglauben, Wiedergeburt und Christus als Weltenherrscher.
Der Bus fuhr die palmengesäumte Küstenstraße zum Flughafen Changi hinaus, Singapore verschwand langsam in der Ferne. Die Reisegruppe war bunt zusammengewürfelt, ernsthaft praktizierende Buddhisten überwogen. Alle erfolgreiche, junge Menschen. Asiatische Yuppies, die sich die Reise nach Bodh Gaya leisten konnten. Unterwegs auf einer modernen Pilgerreise zu Buddha und dem Dalai Lama, dem heiligen Guru aus dem Land der Schneeberge, der ihnen helfen sollte, die Lebenskrisen zu meistern.
Stella! Hier bin ich.
Martha stand strahlend vor ihr, bepackt mit einem Plastikbeutel, aus dem sie vier dicke Kerzen hervorholte. Sie waren für sieben Uhr an der Haupttreppe des Mahabodhi Tempels verabredet. Martha hatte mittags vage Andeutungen über eine Zeremonie gemacht, die sie vollziehen wollte und tat sehr geheimnisvoll. Stella lächelte. Gewiss würde jetzt wieder eines von Marthas Geheimnissen gelüftet.
Ich stelle an jeder Ecke des Tempelgartens eine Kerze auf. Martha schaute sie erwartungsvoll an, na, wie findest du das?
Gut, aber warum sind die Kerzen so groß?, fragte Stella. Ich habe im ganzen Tempelgarten keine so großen Kerzen gesehen.
Das ist wegen meines Anliegens an Buddha. Ich will ihn darum bitten, einen Mann zu finden, der mich aufrichtig liebt, und dafür werde ich dieses Ritual mit den Kerzen vollziehen. Du kannst mitmachen, wenn du möchtest.
Sie reichte Stella ein Bündel Räucherstäbe, die sie aus dem Plastikbeutel holte und sagte: Für dich, denn du brauchst ja auch einen Mann.
Stella bemühte sich, nicht laut zu lachen, wollte Marthas Stimmung nicht verderben.
Sie schritten die Treppe hinunter, wählten den mittleren Weg. Martha fand, der sei erheblich kürzer als der obere.
Gut Martha, ich mache mit, sagte Stella so ernsthaft wie möglich. Und wann glaubst du, dürfen wir den erwünschten Mann in unserem Leben erwarten?
Martha zündete die Weihrauchfackeln an, meinte: Morgen oder übermorgen könnte unsere Bitte bereits Wirkung zeigen.
Sie nahm Stellas Hand und drängte: Wir dürfen keine Zeit verlieren. Es sind sieben Umrundungen, die wir gehen müssen.
Nicht so eilig, Martha! Ich bin, ehrlich gesagt, nicht darauf vorbereitet, einem neuen Mann zu begegnen. Und wenn ich ihn übermorgen treffe, was mache ich dann mit ihm?
Dann lebt Ihr glücklich bis an Euer Lebensende, entgegnete Martha, nun auch schon mehr lustig als ernst. Sie ging entschlossen voran, so dass Stella Mühe hatte, Schritt zu halten.
Sie kamen erstaunlicherweise gut voran. Der Grund dafür waren ihre Weihrauchfackeln. Beide hielten sie so, dass der Wind den Rauch nicht auf sie zu wehte, sondern auf die vielen frommen Tibeter, die ausweichen mussten und alles mit buddhistischer Gelassenheit ertrugen.
Die erste Kerze stellten sie an der Südecke auf und zündet sie an, sie überragte alle anderen um mindestens zwanzig Zentimeter. Weiter ging es auf ihrem Rundweg, so dass nach einer halben Stunde an den vier Himmelsecken des Tempelgartens je eine ihrer Kerzen brannte.
Martha setzte entschlossen den Weg fort, aber Stella wurde langsam müde.
Martha, begann sie, meine Augen brennen von dem vielen Rauch. Wir gehen seit Stunden, ich will aufhören und zurück ins Hotel. Lass dich aber bitte nicht aufhalten und drehe ruhig weiter deine Kreise.
Doch Martha war auch müde. Eigentlich hatte sie ja vor, alle sieben Umrundungen zu machen, rechnete sich aber aus, dass sie dafür noch einmal gut eine Stunde laufen müsste. Vier Runden reichen auch, beschloss sie deshalb, es waren vier Kerzen, vier Kerzen und vier Runden!
Nein, nein Stella, ich komme mit dir, entgegnete sie daher rasch, ich habe auch genug.
Sie hatten Glück und bekamen am Hauptplatz gleich eine Fahrradrikscha. Und obwohl beide müde waren, lachten sie den ganzen Weg zum Hotel.
Uff, wir haben harte Arbeit geleistet!, witzelte Stella. Jetzt bekommen wir so viele Männer, dass wir uns ihrer gar nicht mehr erwehren können.
Der Rikschafahrer staunte über das ausgelassene Lachen der beiden Frauen.
Er schüttelte den Kopf und fuhr klingelnd durch Bodh Gayas verstopfte Hauptstrasse zum Hotel Siddharta. So hieß Buddha, als er noch ein Prinz am Königshof war. Behütet von seinem Vater, dem König, der Elend, Krankheit und Tod von ihm fernhalten wollte. Bis Siddharta eines Tages hinter die Wahrheit kam und allem entsagte. Fortan meditierte er, um zu erfahren, ob es einen Weg gäbe, der aus dem Leid herausführe.
Martha und Stella verabschiedeten sich immer noch lachend.
Sag mal, Martha, fühlst du auch so eine Leichtigkeit in dir?
Ja, die fühle ich auch. Kommt sicher vom Segen des Lama und von unserem Ritual.
Und von den vier Kerzen.
Stella, mach dich nicht schon wieder lustig.
Na, dann gute Nacht.
Gute Nacht.
Text von Karuna
