Woher willst du wissen, dass es wahr ist? Wie äußert sich denn die Erschütterung?
Der entscheidende Punkt ist, Opti, dass du in Wahrheit gar nicht wirklich daran glaubst, dass es möglich ist. Wovon auch immer du schreibst, worüber du auch redest und was auch immer du liest, in Wahrheit glaubst du, dass nur irgendwelche Buddhas, Jesusse oder allenfalls irgendwelche Heilige die volle Erkenntnis erreichen können. Jedenfalls nicht eine x-beliebige Person.
Mit anderen Worten: Dein Glaube ist äusserst elitär und exklusiv. Grundsätzlich steht nach deinen Ansichten Befreiung niemandem zur Verfügung, nur ein klitzekleiner Zirkel von Ausgewählten besitzt Mittel, Wille und Wissen, um doch noch den Weg bis ans Ende zu gehen.
Dahinter steckt, wie ich vermute, eine Erfahrung aus der Kindheit: Die Erfahrung, nicht zu genügen und nicht dazuzugehören. Da ist irgendein Club von Exklusivmitgliedern, und man muss schon ausserordentlich cool oder sonst irgendwie toll sein, um dort dazuzugehören.
Wenn es sowas wie Gottes Gnade überhaupt gibt - warum soll sie sich auf wenige beschränken? Wenn es sowas wie Befreiung überhaupt gibt, warum soll sie nicht für alle auf leichte Weise zugänglich sein? Es gibt dafür keinen einleuchtenden Grund - ausser dem psychologischen, den ich soeben genannt habe.
In Wahrheit glaubst auch du noch immer wie das Kind, das du einmal warst, daran, dass es dir gar nicht wirklich zusteht, Befreiung zu erlangen, dass du dich unsäglich dafür abrackern und plagen musst, um auch nur den kleinsten Schritt nach vorne zu tun. Schon die Aufklärer und nach ihnen die Marxisten hatten richtig erkannt, wie zuerst die Grosskirchen und später die Kapital-Eigner die Menschen im Zaume und an der kurzen Leine hielten, indem sie ihnen ein gewaltiges Machtgefälle vorspielten, ein Gefälle, in welchem nur wenige Auserwählte an der Spitze einer hierarchisch aufgebauten Pyramide stehen konnten, während alle anderen sich erst mühsam hinaufzudienen hatten.
Sei es Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Wirtschaft, Politik oder was auch immer - überall ist dieses Muster anzutreffen: Nur wenn du dich erst redlich bemühst wirst du überhaupt irgendwohin kommen. Überall bauen die Menschen diese Hierarchien auf, überall glauben die Menschen prinzipiell daran, dass alles einen hohen Preis, eine grosse Anstrengung erfordert und dass nur wenige Menschen im Leben wirklich glücklich sein dürfen.
Es ist nichts als Manipulation, und zwar eine der grössten, die man sich überhaupt nur vorstellen kann.
Wenn es sowas wie Gott gibt, dann ist er überall, jederzeit. Folglich ist er für jeden absolut gratis zu haben, weil es keine Möglichkeit gibt, irgendwohin zu gehen, wo er nicht ist. Ja, es ist in diesem Fall sogar so, dass es unmöglich ist, ihm auszuweichen. Du kannst bis ans Ende der Welt gehen - Gott ist schon vor dir dort.
Das gleiche gilt für Erleuchtung: Wenn Erleuchtung etwas ist, was du haben kannst, dann kannst du es auch verlieren. Wenn es etwas ist, was du erreichen kannst, dann wirst es auch irgendwann wieder abhanden kommen. Schon der Buddhismus lehrt, dass alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende hat und folglich nicht wert ist, dass man sich daran hängt.
Irgendeine Art von gradueller Fortschritt, wie du ihn propagierst, wird irgendwann, irgendwo wieder zu einem graduellen Rückschritt führen. Sei es heute oder in irgendeinem anderen Leben. Es ist derselbe kindliche Glaube in allen Menschen: Streng dich nur genug an, dann lieben dich deine Eltern schon tüchtig! Aber die Eltern sind immer nur mit sich selbst beschäftigt, sie werden dich nie so lieben, wie du es benötigst (wie es jeder Mensch benötigt).
Die Erfahrung der Ohnmacht des Kindes gegenüber den Eltern ist eine archetypische, und die Reaktion - das endlose Suchen nach einem Ausweg aus dem Dilemma - ein ewiggleicher. Sei es Erleuchtung, Befreiung, Gott oder das Suchen nach einem liebevollen Partner: Immer ist die Lösung irgendwo da draussen in der Zukunft, in einem Gegenüber, irgendwas, irgendwo, irgendwann - nur nicht hier. Nur nicht jetzt.
50% der Suche nach Erleuchtung ist die Suche des Kindes nach der Liebe der Eltern. Es ist notwendig, dass das Kind die abgrundtiefe Enttäuschung, gar nie geliebt worden zu sein, verarbeitet und lernt, selbst zu lieben. Aus eigenem Entschluss. Dann hat es genug Liebe für jeden.
Die anderen 50% stammen aus dem Versuch, dem eigenen Tod nicht ins Auge zu sehen. Die Suche nach Befreiung ist eine Suche nach etwas, das nicht stirbt, nicht sterben kann. Da es jedoch nichts, absolut nichts gibt, was nicht vergänglich ist, bleibt diese Suche ebenfalls erfolglos. Wer sich das eingesteht ist noch im gleichen Moment frei von der Suche.
Das ist es, was mit "Erschütterung" gemeint ist.