Sexuelle Enthaltsamkeit und berühmte Vorbilder
Sehr oft entscheiden sich Menschen, aus religiösen Gründen, für ein sexuell enthaltsames Leben oder um es einem höheren Ideal zu weihen. Aber man muss nicht religiös sein, um aus freiem Willen ein zölibatäres Leben zu führen. Durch die Jahrhunderte hindurch hatten viele Menschen das Gefühl, dass für sie der körperliche Ausdruck von Liebe und Zuneigung mehr ein Hemmnis als eine Hilfe in ihrem Leben ist. Diese weltlichen Keuschen sind Menschen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben entdeckten, dass sie diese intimen körperlichen Kontakte mit anderen Menschen nicht brauchen oder wollen und tatsächlich alles tun, um sie zu vermeiden. Manchmal beschliessen sie, allein zu bleiben, aber in vielen Fällen teilen sie ihr Leben auf platonische Weise mit einem Freund oder einer Freundin, in einigen Fällen sogar mit einem Ehepartner.
Ein sehr frühes Beispiel dafür findet man in der Beziehung zwischen dem französischen Philosophen Voltaire (1694 - 1778) und seiner "göttlichen Emilie", der Marquise von Chatelet, die selbst Mathematikerin und ein wissenschaftliches Genie war. Ihre höchst vertraute Beziehung, die oft nur daraus bestand, miteinander in den frühen Morgenstunden oder des Nachts allein zu sein, war eine Beziehung, in der körperliche Liebe kaum eine Rolle spielte. Das Fehlen von Sex in ihrer Partnerschaft bedeutete, dass Voltaire in der Lage war, Emilies Geist und Intellekt, der seinem gleichwertig war, zu erkennen und zu respektieren. Emilie und Voltaire hatten beide, zu verschiedenen Zeiten, Affairen mit anderen Menschen und Emilies letzte Liaison hatte ihren Tod im Kindbett zur Folge. Aber ihre beiderseitige Beziehung blieb immer die zentrale Beziehung in ihrem Leben. Emilie, das muss man zugeben, hatte nach den ersten Jahren ihrer Eheschlließung, auch noch eine nichtsexuelle Beziehung mit ihrem Ehemann, dem Marquis von Chatelet.
Eine der berühmtestten nichtsexuellen Ehen dieses Jahrhunderts war die zwischen dem britischen Verleger und Publizisten Loenard und der britischen Schriftstellerin und dem Idol der Frauenbewegung Virginia Woolf (1882 - 1941). Viele Biographen behaupten, dass Virginias Halbbruder George Duckworth Virginia in ihrer Kindheit missbraucht oder zumindest öfters unsittlich berührt habe und damit auch die Hauptschuld an Virginias Desinteresse an heterosexuellem Sex trage. Dennoch konnte und kann im Nachhinein nie ganz geklärt werden, ob George seine Halbschwester wirklich sexuell missbraucht hat, da sowohl in Virginias Tagebüchern, als auch in ihrer Korrespondenz unterschiedliche Versionen existieren, die verschiedene Begebenheiten beschreiben; so karikiert Virginia Georges aufdringliches Wesen, oder erinnert sich an für sie äußerst peinliche Berührungen, sagt einmal, er habe sie vergewaltigt, schwächt dies aber irgendwann auch wieder ab. Letztlich bleibt es unklar, inwieweit George wirklich für Virginias späteres Verhältnis zur Sexualität verantwortlich war.
Die Ehe zwischen Leonard und Virginia Woolf dauerte von 1912 bis 28. März 1941, als Virginia sich selbst im Fluss nahe ihres Hauses in Sussex ertränkte. Es sieht so aus, als wäre ihre Ehe anfangs durchaus sexuell gewesen, aber Virginia begann bald, den geschlechtlichen Verkehr zu verabscheuen. In ihrem Bericht über die gemeinsamen Ehejahre "A marriage of thrue minds", erwähnen George Spater und Ian Parsons, dass es auf Seiten Virginias eine starke Ablehnung des Sexualaktes gab. Die Autoren fügten hinzu, dass ihre sexuelle Beziehung einen weniger energischen Charakter als Leonard Woolf hatte. Obwohl die körperliche Beziehung schon wenige Monate nach der Eheschließung abgebrochen wurde, war ihr Zusammenleben sehr glücklich und befriedigend, und es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Leonard andersweitig sexuelle Befriedigung gesucht hätte. Er lebte bis ins hohe Alter, bis über 80 Jahre, und war die meiste Zeit seines Lebens bei guter Gesundheit. Er war ein hervorragendes Beispiel für die Tatsache, dass Männer den Sex nicht brauchen, um überleben zu können, sogar wenn es nicht ihr eigener Entschluss ist, sexuell enthaltsam zu leben.
Die meisten Biographien und Kommentatoren von Virginias Leben und ihrer Arbeit nehmen an, dass irgendetwas nicht in Ordnung gewesen sein müsse, dass möglicherweise ein frühes traumatisches Erlebnis, nämlich als Virginia von ihrem Halbbruder George Duckworth sexuell belästigt wurde, sie für alle Zeit vom Sex abgeschreckt hätte. Aber natürlich wusste Virginia als Künstlerin, wenn auch nur intuitiv, dass ein Mangel an Interesse am Geschlechtsverkehr ihr mehr Energie für ihre schriftstellerische Arbeit, die das wichtigste im Leben für sie war, übriglassen würde. Das fehlende Interesse Virginias an der Sexualität, berührte keinesfalls das Glück in der Ehe. Ende der zwanziger Jahre war sie eine erfolgreiche und in zahlreichen Ländern bekannte Schriftstellerin. Trotzdem hatte sie nach dem Abschluss ihrer jeweiligen Bücher immer wieder Phasen tiefer Depressionen und Selbstzweifel. In ihren letzten Lebensjahren, die bereits vom aufziehenden 1. Weltkrieg überschattet waren, geriet sie erneut in eine tiefe Krise, gegen die sie lange ankämpfte. 1941, nach dem Höhepunkt des Bombenkrieges in England, nahm sie sich das Leben. Virginia hinterließ einen Abschiedsbrief für Leonard, in dem stand: "Ich glaube, zwei Menschen hätten nicht glücklicher sein können, als wir es waren."