Liebe Felice,
Ich habe schon immer ein großes Problem mit Menschen, die mir zu nahe kommen. Wenn ich zum Beispiel in einer Schlange stehe und mir die Leute an die Pelle rücken, verspüre ich ein Beklemmungsgefühl.
Auch in Verkehrsmittel, darum fahre ich lieber mit dem Auto.
Was mir aber am meisten Probleme schafft, ist dieses Gefühl in meiner Beziehung. Mein Freund hat auch ein Problem in diese Richtung, aber konträr. Er kann die Intimsphäre nicht wahren.
Schon als wir uns kennengelernt haben, vor sieben Jahren, ist er mir immer zu nahe gekommen. Ich habe ihm gleich mitgeteilt, dass ich damit nicht kann. Er macht es unbewusst, da bin ich mir sicher..... Denn er verstand mein Verhalten nicht, sah es nicht so. Noch heute sagt er, dass er mir nie zu nahe gekommen ist......
Jetzt nach sieben Jahren ist es oft unerträglich für mich. Denn immer, wenn es mir nicht gut geht, psychisch oder physisch, brauche ich Distanz, die mir mein Freund nicht gibt. Auch für ihn ist es ein Problem, da er mich nicht versteht........ Er fühlt sich zurückgewiesen, obwohl er weiss, warum ich so bin.......
In letzter Zeit habe ich immer wieder gesundheitliche Probleme, die unserer Beziehung schaden. Mein Freund sucht Nähe, ich Distanz......ein Teufelskreis.... Die Unzufriedenheit macht sich in uns beiden breit. Wenn es so weiter geht, wird unsere Beziehung bald zerbrechen......
Da ich meinen Freund sehr liebe und nicht verlieren will, möchte ich an mir arbeiten, um das in den Griff zu bekommen. Ich probiere auch immer, es zu ignorieren, aber es geht nicht, da er mir die Luft zum Atmen nimmt. Oft ist es so schlimm, dass ich am Liebsten gehen möchte..........
Vor kurzem hatte ich eine Lungenentzündung, nun eine Luftröhrenentzündung, wird mir wirklich schon die Luft genommen?
Was kann ich machen? Und wie kann ich ihm klar machen, dass er meine Bedürfnisse ernst nimmt? Wie können wir den richtigen Mittelweg finden? Wir lieben uns....auch er sagt mir immer wieder, dass er mich so liebt und mich nicht versteht, weil ich oft schon bei einer Berührung das Weite suche....
Denke aber, dass es sich über Jahre entwickelt hat, weil er mir nie die Distanz gegeben hat, die ich gebraucht hätte.....
Es ist ein ernstes Thema für mich, welches mir große Probleme bereitet.
lg Felice
ich habe beide Seiten, die du beschreibst, in meinem Leben schon selbst erlebt, weshalb ich dich ganz gut, aber auch deinen Freund verstehen kann.
Mir scheint, dass es nicht sinnvoll ist, wenn du die Probleme zu sehr bei deinem Freund suchst. Das machst du in deinem Beitrag nicht durchgehend in einer einseitigen Weise, denn du schreibst ja, dass du das Problem lösen möchtest. Aber mir scheint auch wirklich, dass es wichtig, die Probleme und Lösung vor allem bei dir zu suchen.
Gerade zum Schluss beschreibst du den Sachverhalt in einer einseitigen Weise: "Denke aber, dass es sich über Jahre entwickelt hat, weil er mir nie die Distanz gegeben hat, die ich gebraucht hätte....."
Das scheint doch eher die Perspektive eines Kindes zu sein, das sich als Opfer fühlt, nicht aber die Perspektive eines Erwachsenen, der Verantwortung übernimmt. Es ist doch sicherlich nicht nur seine Aufgabe, dir Distanz zu geben, sondern es ist primär 1. deine Aufgabe, diese Distanz herzustellen und 2. deine Aufgabe, dich zu fragen, was du eigentlich für ein Problem mit Nähe hast.
Es ist aber nicht so, dass du dies nicht auch siehst, denn du schreibst hier ja nun diesen Beitrag. Mir scheint daher, dass es da zwei sehr unverbundene Sphären in dir gibt: einerseits siehst du recht erwachsen und selbstverantwortlich, dass du ein Problem hast und du möchtest dies selbst lösen. Andererseits fühlst du dich doch ein wenig als Opfer deines Freundes.
In deinem Beitrag scheint sich deshalb aus meiner Sicht schon zumindest ein großes Problem anzudeuten, das auch die Ursache des gesamenten Problems sein kann. Du bist ein Mensch, der zwar einerseits verantwortlich handeln, auch reflektieren sowie Distanz einnehmen kann, aber du hast kaum oder nur sehr wenig Kontakt "aus dieser Perspektive" zu deinen eigenen Gefühlen und deinem Erleben. Du bist entweder "vernünftig" oder "subjektiv", aber dazwischen gibt es kaum eine "Vermittlung", keinen kontinuierlichen Dialog.
Die Hauptfrage scheint mir doch zu sein, warum du z.B. "Distanz" brauchst, wenn es dir nicht gut geht. Und hier scheint es mir, dass du die Distanz brauchst, um erst einmal ganz sicher, ganz alleine in dir nachsehen zu können, was da eigentlich los ist. Du lässt den anderen nicht an dich heran, öffnest dich für ihn nicht, vertraust ihm nicht, fühlst dich dann vielleicht unverstanden oder verletzt: du willst das ganz alleine tun. Alles andere, was dein Freund hier macht, selbst wenn er wahrscheinlich ganz lieb fragt, worüber sich viele Menschen freuen würden, die sich öffnen möchten, empfindest du wahrscheinlich als "zu nahe". Da kommt der andere dir schon zu nahe und dann fällst du wahrscheinlich gleich in die Opferrolle und fühlst dich bedrängt.
Ist es so?
Mir scheint, dass das Bedürfnis deines Freundes, dir helfen zu wollen, sich für dich zu öffnen, für dich da zu sein, dein Problem mit dir zu teilen, sehr natürlich ist. Sicherlich gibt es auch Menschen, die auch in diesem Handeln in einer Rolle aufgehen können, dem anderen das aufzwingen möchten. Aber das scheint mir bei euch nicht der Fall zu sein, so weit ich das sehe. Du empfindest sein ganz unmittelbares Bedürfnis, dein Problem mit dir teilen zu wollen, schon als zu nahe, weil du dich gar nicht öffnen, diese Nähe nicht eingehen kannst, sondern erst einmal selbst nachschauen musst.
Deshalb habe ich die folgenden Fragen/Aufgaben für dich: 1. warum gibt es in dir eine solch starke Trennung zwischen der Perspektive des Erwachsenen und des Kindes in dir? 2. Warum brauchst du immer wieder eine solche Distanz, um erst selbst nachschauen zu müssen, was in dir los ist? 3. Warum kannst du deinem Freund nicht vertrauen?
Aus meiner Sicht gibt es hier also mehrere Aufgaben. Es ist deine Aufgabe, einen intensiveren Kontakt mit deinen inneren Gefühlen aufrecht zu erhalten und es ist auch deine Aufgabe zu erfahren, welche Verletzungen dir in deinem Leben in der Kindheit zugefügt wurden, so dass du dich heute nicht einfach öffnen kannst. Mir scheint, dass du sehr viel Angst davor hast, dich anderen unmittelbar zu öffnen. Das muss bei dir erst einmal durch den "rationalen" Filter laufen und erst dann kannst du vertrauen. Vielleicht sind da tiefe Minderwertigkeitsgefühle und Ängst in dir dir, zu denen du keinen Zugang hast, die in dir reagieren, wenn dir jemand zu nahe kommt. Du ziehst dich dann einfach zurück, ganz reaktiv, wie ein altes Programm.
Gerade in der Nähe mit deinem Freund könntest du aber auch diese tieferen Probleme erfahren. Gerade in dieser nähe könntest du diese tieferen Probleme überwinden und ich angenommen fühlen.
In deiner Einsiedelei, in deiner Abschottung und Distanznahme wirst du diese tieferen Probleme sehr wahrscheinlich nicht auflösen können, weil sie dich dort hintreiben und du dann immer nur die darüber liegenden Probleme betrachtest.
Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem Weg !
Liebe Grüße,
Energeia