Liebe YinundYang,
Kennst Du den Satz: Hinter jeder Sucht steckt eine Sehnsucht. Fällt mir grad ein, wenn ich das lese. Könnte dann Sucht eine nach außen verlagerte Suche sein, das Sehnen nach dem SEIN in anderer Richtung? Denn sie wissen nicht, wo und wie sie suchen sollen. Führt dann die Wegnahme der Hilfsmittel zurück zur wahren Sehnsucht? Gedankenspiel.
ja, den Satz kenne ich und habe ihn auch so erlebt. Es gibt in jedem Menschen eine Suchtstruktur. Sie ist das, was uns aufbrechen läßt zu neuen Ufern, die Suche, die uns im positiven Sinne vorantreibt. Ich hab es mal für mich so formuliert, daß ich ein Gott-Junkie bin oder ein Liebes-Junkie. Ich bekenne, vollkommen abhängig von Gott zu sein und es ist die schönste Abhängigkeit die es gibt.
Das ist die innere Suche, die innere Abhängigkeit, die davon nie genug bekommt. Selbst wenn man gefunden hat, geht es weiter. Hat man es ge
sehn,sucht man dennoch weiter, noch mehr zu sehen.
Magst Du noch was zu den sieben Stufen schreiben, die du im andern Thread angesprochen hast?
ja, ich kann sie gerne weiter erläutern. Das "Programm" hatte ich schon geschrieben, zur einfacheren Übersicht hier noch einmal, durchnumeriert:
0. Wahres Verzeihen ist ein Schweigen,
1. ein Verlöschen des Schmerzes, als wäre er nie gewesen,
2. ein neuer Sonnenaufgang im Herzen,
3. ein Zusammenwachsen des vorher Getrennten,
4. ein Sterben der Wut,
5. ein Mitfließen in Barmherzigkeit,
6. ein Verstehen das keine Worte mehr braucht,
7. ein stiller Dank an die unaussprechliche Gnade, die mir geschenkt wurde - ja, durch das, was mich leiden und wachsen ließ.
Es gibt diese schöne Geschichte in der jüdischen Überlieferung, die stets zu Passah erzählt wird, die Geschichte vom Lämmchen:
0. es war einmal ein Vater, der kaufte für seinen Sohn ein Lamm für zwei Sus,
1. da kam eine Katze und fraß das Lamm,
2. da kam ein Hund und biß die Katze, die das Lamm gefressen hatte,
3. da kam ein Stock und schlug den Hund, ...
4. da kam Feuer und brannte den Stock, ...
5. da kam Wasser und löschte das Feuer, ...
6. da kam ein Ochse und trank das Wasser, ...
7. dann kam ein Schlächter und schlachtete den Ochsen, ...
8. dann kam der Todesengel und tötete den Schlächter, ...
9. dann kam Gott und tötete den Todesengel, der den Schlächter getötet hatte, der den Ochsen geschlachtet hatte, der das Wasser getrunken hatte, das das Feuer gelöscht hatte, das den Stock gebrannt hatte, der den Hund geschlagen hatte, der die Katze gebissen hatte, die das Lamm gefressen hatte, das der Vater dem Sohn für zwei Sus gekauft hatte.
Diese Geschichte kennt 9 bzw. 10 Stufen, doch die Stufen, die ich hier zuerst besprechen möchte, sind die Stufen von 1 bis 7, die sichtbar werden. Der Rest spielt sich im Verborgenen ab...
Diese Passahgeschichte ist zwar einerseits eine Leidensgeschichte, weil immer der, der kommt, von dem, der hinterher kommt, eins drauf kriegt, andererseits ist es eine Geschichte der Transformation. Ge-schichte, das ist etwas, das Schicht auf Schicht passiert. Deshalb ist es eine rekursive Geschichte, also eine, die immer wieder bis zum Anfang zurückgeht, weil die Vergangenheit auch immer noch da ist und weiter wirkt, solange bis alles aufgelöst ist.
Nun die einzelnen Stufen:
Das Lämmchen ist ein Bild der Unschuld. So wie der Mensch im Zustand der Unschuld ist, bis ihm etwas zustößt oder durch ihn jemand anderem etwas zustößt.
0. Wahres Verzeihen ist ein Schweigen
Die nullte Stufe des wahren Verzeihens ist die Wiederherstellung der Unschuld. Es bedeutet, daß ich dem Anderen wieder gegenübertreten kann und ihm in die Augen schauen kann und wir beide wissen, daß nie etwas geschehen ist zwischen uns. Die nullte Stufe ist allerdings keine sichtbare und keine erreichbare, erarbeitbare Stufe. Selbst wenn ich für mich alles durcharbeite, weiß ich nicht, ob andere das auch so sehen. Es gibt keine Garantie dafür. Wenn ich der "Täter" war, kann ich so reumütig sein wie ich will, Wiedergutmachung leisten soviel ich will, der andere kann trotzdem sehn Herz verhärten und mir nicht verzeihen. Wenn ich "Opfer" war, gibt es ebenfalls keine Garantie dafür, daß der andere sich ändert. Ich kann völlig reinen Herzens sein, doch der andere könnte noch an seiner "Schuld" nagen und wenn wir uns begegnen, ist es wieder so eine beklommene Situation. Er hat noch etwas in sich aufzulösen. Ich kann dies nicht, kann es nur soweit, wie es meinen Anteil betrifft. Es gehört große Demut dazu, anzuerkennen, daß der Andere sich nicht ändern muß, seinen Anteil nicht aufarbeiten muß. Und trotzdem - auch in vollendeter Demut kann es sein, daß noch etwas von der Seite des Anderen zwischen uns steht. Er selbst kann sich eventuell noch nicht verzeihen.
Die nullte Stufe wird nur geschenkt in Gnade. Es ist große Gnade, wenn beide Seiten wieder einen neuen Anfang machen können, als wenn nie etwas passiert wäre. Die Herzen sind wieder völlig frei, sich aufeinander zuzubewegen.
Die erste Stufe ist die Katze. Sie frißt das Lämmchen. Katzen haben diese unschuldige Natur, und trotzdem töten sie, spielen sogar mit dem Tod. Das Lamm ist wirklich unschuldig, die Katze kann auch unschuldig sein, sie kann aber auch das Unschuldslamm spielen.
Es ist der Schreck und das Verleugnen dessen was geschehen ist. Am liebsten würde man es ungeschehen machen. Man tut am besten so als wenn nichts wäre. Egal ob man selbst etwas verschuldet hat oder einem etwas zugestoßen ist. Die allererste, ganz natürliche Reaktion im Menschen ist die Abwehr, die Verdrängung. Es soll doch bittschön alles wieder so sein wie vorher.
1. ein Verlöschen des Schmerzes, als wäre er nie gewesen
Die erste Stufe des wahren Verzeihens ist ein Anerkennen dessen was geschehen ist. Es ist nun mal passiert. Es ist nicht änderbar, nichts kann es ungeschehen machen. Man nimmt den Schmerz an, und im Bejahen des Schmerzes ist der erste Schritt, ihn aufzulösen. Es ist ein paradoxer Schritt. Nur weil ich wirklich nichts ändern will, ändert sich der Schmerz. Nur weil ich ihn bedingungslos anerkenne, bejahe, nur deshalb ändert er sich wirklich. Wenn ich versuche, durch irgendeine Technik ihn zu lösen, ist es immer nur ein Versuch. Die wirkliche Heilung geschieht im bedingungslosen "JA, es ist passiert." Ich habe die Vermutung, daß es der schwerste Schritt ist. Und eigentlich steckt in ihm schon alles drin, alle weiteren Schritte ergeben sich einfach daraus. Trotzdem müssen sie durchlaufen werden.
Wenn ich hier von Schritten und Stufen spreche, dann erscheint das völlig linear, so der Reihe nach. Es ist aber nicht so linear. Das zeigt schon die Geschichte vom Lämmchen. Immer wieder arbeitet man alle bisherigen Stufen durch und noch eine neue. Man könnte denken, nun ist doch gut, nun habe ich drei Stufen abgearbeitet, das Thema muß doch nun langsam durch sein. Doch es ist erst durch, wenn es mich überhaupt nicht mehr beschäftigt, wenn die Unschuld wiedergewonnen ist.
Die zweite Stufe ist der Hund. Der Hund ist ein Symbol des Denkens, das Folgerungen anstellt, das Folgen berechnet. Der Hund ist ein treues Tier, das gerne folgt... und der Hundanteil im Menschen folgert gerne. Hier taucht die große Frage der Schuld auf. Ursache - Wirkung. Warum konnte das geschehen? Was sind die Ursachen dafür? Wer ist der "Schuldige", wer ist der "Unschuldige", wer ist Opfer, wer ist Täter?
Hier geht es nicht mehr wie in der Stufe der Katze darum, vornehm so zu tun als hätte man es nicht gesehen. Nein, hier wird ganz genau hingeschaut. Bei Krankheiten will man nun wissen, wie man denn erkranken konnte.
Die Illusion auf dieser Stufe ist, daß man denkt, wenn man die Ursache kennt, daß man auch die Wirkung damit praktisch schon aufgehoben hat. Dann ist der Fall klar, gelöst. Doch leider ist mit einer Schuldzuweisung oder einem Schuldeingeständnis noch längst nicht alles klar. Es bleiben Zweifel zurück. Vielleicht hätte ich mich doch besser vorsehen können? Vielleicht habe ich doch ein bißchen mit Schuld?
2. ein neuer Sonnenaufgang im Herzen
Die zweite Stufe des wahren Verzeihens gelingt, wenn ein "neuer Tag" anbricht. Der "Schuldige" hat alles gestanden und nun bemüht er sich, sich zu bessern und daß es nicht wieder vorkommt. Die Strafe ist bezahlt, die Tage im Gefängnis sind vorüber. Aber soll das schon alles sein?
Das Herz braucht einen neuen Sonnenaufgang. Wie kann der aussehen? Durch das, was geschehen ist, hat man die Unschuld verloren. Man schaut nicht mehr kindlich voller Vertrauen in die Welt. Es ist ein Element dazugekommen, die Angst.
Der neue Sonnenaufgang ist etwas, wo ein neuer Tag im Herzen anbricht. Neues Licht scheint, neues Vertrauen kommt. Das andere ist Schnee von gestern. Naja, noch nicht ganz. Der erste Sonnentag nach einem Winter taut noch nicht allen Schnee. Aber man hört die glucksenden Geräusche der kleinen Schmelzwasserbäche. Die "Eiszeit" des Herzens ist vorüber.
Die dritte Stufe ist der Stock. Er schlägt den Hund. Es ist eigentlich völlig egal, wer Schuld ist. Eben noch wollte ich ganz genau wissen, wer nun eigentlich Schuld ist. Doch letztlich - für das Leben - ist es egal. Das Leben geht weiter. Es ist der Blick nach vorne. Wie kann es nun weitergehen? Ist alles zerbrochen? Die Scherben zusammensammeln und schauen, was zu kleben und was wegzuwerfen ist. Der Neuanfang wird konkret. Der andere oder ich selbst - einer von beiden oder sogar beide haben sich geändert. Doch man merkt immer noch, daß man in alte Muster zurückfallen könnte. Der Stock kann pieken. Man kann dem anderen noch Vorhaltungen machen. "Ja, du hast ja damals..." Die Geschichte, eigentlich längst vorbei, ist noch nicht vorbei. Der Stock kommt ja vom Baum. Wer weiß, wie der andere sich wirklich entwickelt. Wir bleiben lieber vorsichtig und schauen genau hin. Der Baum hat ja eine Narbe.
3. ein Zusammenwachsen des vorher Getrennten
Wahres Verzeihen kennt diese Wunden nicht mehr. Es bedeutet, daß die Riesenwunde nun zu einer kleinen Fleischwunde geworden ist. Sie mußte möglicherweise genäht werden, sie hat eine Narbe hinterlassen. Im wirklichen Verzeihen tut diese Narbe aber nicht mehr weh. Sie ist eine Erinnerung an das, was passieren konnte, eine Ermahnung. Aber kein Schmerz mehr in dem Sinne. Man könnte sogar Witze machen darüber. Es hat sich relativiert. Ich bin ja kein besserer Mensch als der andere. Jeder macht Fehler. Kleine Fehler, aber auch große Fehler.
Der Bruch, der entstanden war, heilt. Man ist schon wieder unterwegs, wenn auch auf Krücken, eine humpelige Phase des Umgangs mit dem Schmerz. Und wenn die Krücken weg sind und der Gips weg ist, dann ist doch alles wieder in Butter. Rein menschlich betrachtet stimmt das auch.
erstmal bis hierhin.