Ich glaube der Thread befindet sich in einer Art Sackgasse, weil ein Dogma überrepräsentiert ist: das Gefühl verlaufe so und so. Daß Gefühle sich so und so entwickeln, ist eine Annahme. Vielleicht entwickeln sie sich aber auch so
oder so.
So ist es z.B. ein Dogma zu sagen, man müsse Annehmen, was einem geschehen sei, um in einen Frieden damit zu gelangen. Diese Annahme zeugt von einem ganz bestimmten Verständnis von Gefühl und der Notwendigkeit, sie in einen vorgefertigten Zustand zu bringen. Vielleicht ist dies ja aber gar nicht nötig und wir unterliegen nur der dogmatischen Annahme, es müsse so sein.
Ebenso ist es ein Dogma zu meinen, man müsse verzeihen, um in einen Frieden mit dem eigenen Peiniger zu gelangen. Es ist auch ein Dogma zu glauben, man müsse unbedingt in einen Frieden gelangen und ohne dies sei Leid, bzw. der mangelnde Frieden sei der Grund für das Leid. Das Gleiche gilt für den Prozess der Vergebung. Er unterliegt dem Dogma, daß es einen Schuldigen und einen Unschuldigen gibt. Vielleicht gibt es aber im erlebten Zusammenhang gar keinen echten Schuldigen.
Mir persönlich scheint es eh so, daß die Gefühle in uns allen etwas unterschiedlich miteinander verwoben sind. Der Eine kann von jetzt auf gleich aus der Wut in die Gelassenheit geraten. Der Andere muß, um von Wut in Gelassenheit zu gelangen, über Verzweiflung oder über die Verzeihung oder die Annahme gehen. Es gibt Menschen, die können quasi auf Knopfdruck Liebe in sich erzeugen und es gibt Menschen, die können das nicht. Sie werfen den Menschen, die auf Knopfdruck Liebe in sich erzeugen können dann oftmals vor, daß diese Liebe nicht echt sei, weil sie ganz einfach diese Erfahrung für sich im Leben so nicht machen. Dies können natürlich nur kleine Beispiele dafür sein, daß in jedem von uns die Gefühle anders zugänglich, ansteuerbar, überbrückbar, lösbar und fühlbar sind.
Insofern kann also meines Erachtens auch nicht der Threaderstellerin gesagt werden, daß sie so oder so fühlen muß oder daß sie dies oder jenes tun muß, um ihre Lebenssituation zu bewältigen. Wir können aber sicherlich von uns selber berichten und ihr damit ein Beispiel sein, durch das sie Anregungen bekommt. Gerade die Unterschiedlichkeit des Verständnisses, das jeder von uns über das Zusammenhängen von Gefühlen in sich selber erfährt und ihre Wandlung, kann ihr dann vielleicht den Blick auf die Frage öffnen, wie es denn genau in ihr ist und wie die Lösung ihrer Gefühlsfragen in ihr erfolgen kann. Dahingegen hilft eine Diskussion über das, was nun notwendig ist, um ihre Situation zu lösen, ihr nicht weiter.
Daher will ich nochmal von mir berichten, nach diesem sicherlich wieder zu langem Vorwort, wie es bei mir ist bzw. war. Natürlich hatte auch ich meinen Eltern zu verzeihen. Natürlich hatte auch ich anzunehmen, was gegeben war an Charakteren und deren Unvermögen. Natürlich entsteht daraus mein Sosein in der heutigen Art, v.a. auch aus der in mir spürbaren Tatsache, daß ich reflektiert habe, was mich belastet hatte. Zu Beginn war mir dieses mich Belastende ja gar nicht bewusst, ich wusste nicht, was es war, nur daß es vorhanden war.
Das grosse Trauma meiner Kindheit war sicherlich der frühe Tod meines Vaters. Er war ein strenger Mann, ein Lehrer, dem meine Mutter, wie sie sagte, die Entscheidungen und Weglegungen für die Kinder überlies und dem sie sich in diesen Fragen unterordnete. Bei seinem Tod litt ich zum Einen, denn ich konnte nicht begreifen, was es bedeutete, wenn jemand tot ist. Es war da eine Lücke, die nicht gefüllt werden konnte und die sehr weh tat. Eine noch grössere Lücke riss dann aber eigentlich durch die Mutter und ihre Trauer um den Ehemann, die es ihr - rückblickend gesehen - verunmöglichte, die neue Rolle als alleinerziehende Mutter einzunehmen und die Erziehung weiter zu führen. Ich bin also gründlich unerzogen, fürchte ich. Das zu erkennen war ein ganz wesentlicher Schritt in meinem Leben, der mich zur Selbsterziehung in Gedanken und im Gefühl ermahnte und der mich schliesslich dann befähigte, trotz einer gewissen in mir vorhandenen Egalität und Wahllosigkeit bis Wollust Ziele zu erkennen und den Versuch zu starten, sie zu erreichen. Nach einigen Luftschlössern gelang mir das dann auch. Heute sehe ich mich eher als diejenige Person in meinem Umfeld, welche die Luftschlösser anderer Personen erkennt und dafür gewertschätzt wird, den Boden der Tatsachen sichtbar zu machen.
Eine grosse Wut entstand im Unbewussten meinem Vater gegenüber, der mich allein gelassen hatte. Ich war nicht in der Lage zu begreifen, warum er das tat, denn ich war noch ein Kind. Hier war zum Einen ein Annehmen meiner Lebensgeschichte und des Halbwaisenseins geboten, mit allen Konsequenzen, die das für einen Mann hat, keinen Vater gehabt zu haben in wesentlichen Zeiten seiner Entwicklung als Heranwachsender. Später musste ich lernen, nicht in anderen männlichen älteren Personen die Eigenschaften zu suchen, die mir im Vater fehlten und mit ihnen die Enttäuschung meiner Kindheit zu wiederholen. Auch projizierte sich dieses Enttäuschtwordensein in mich selber hinein indem ich die Rolle des Enttäuschers teilweise übernahm, ohne es verhindern zu können. Intensiv habe ich daher meine Suche erlebt, einen Sinn zu finden trotz der vielen Enttäuschungen, was mich letztlich zum Leben an sich führte und zu seiner Vergänglichkeit. Der Tod und das Verlassen des Lebens ist daher für mich heute ein integraler Bestandteil meines Denkens, Fühlens und Handelns geworden in vielen Aspekten meines Lebens und in meiner Sichtweise. Ich hafte an vielen Dingen nicht mehr an, an denen ich früher angehaftet habe.
Wut entstand in mir auch gegen meine Mutter, bereits in der Kindheit und Jugend, in der ich wenig Gefühle für sie hatte. Diejenige Person, die mir eigentlich eine Erziehung hätte anbieten sollen, hat mich mehr oder minder so gelassen, wie ich war. Andere Kinder werfen ihren Eltern ihre Erziehung vor - ich warf meiner Mutter eher ihre Nichterziehung vor.
Die Ursache für ihr Unvermögen, mich zu verstehen und auf meine Bedürfnisse einzugehen, interpretierte ich zum Einen in die Tatsache, daß sie eine Frau ist und ich ein männliches Wesen. Diese Art der Interpretation hielt mich von Frauen im Allgemeinen gefühlsmässig wie körperlich fern, denn das "warme Wesen" der Frau ist mir in meiner Mutter nicht offensichtlich geworden. Vielmehr hat sie ihre Gefühle, die v.a. aus Sorgen, Ängsten und Nöten bezüglich der/meiner Zukunft bestanden, vor mir verbergen wollen, was ihr aber natürlich nicht gelang. Auf diese Weise entstand in mir die Einstellung zu mir selber, ein mit Sorge zu betrachtender Mensch zu sein, dem man nicht trauen kann, der nur bedingt belastbar ist und bei dem immer etwas Schlimmes passieren könne. Das äussert sich bei mir heute noch immer in Gedanken an meine Gesundheit, an berufliches Versagen, an Nutzlosigkeitsgefühlen und an der ständigen inneren Frage, ob ich das, was ich tue, richtig mache oder ob ich es tuen sollte. Nur ist mir das heute bewusst, daß es die Gefühle meiner Mutter sind, die sich da in mir zeigen.
Auf diesen Gesamtzusammenhang war ich eines Tages so wütend, daß ich den Kontakt zu meiner Familie grösstenteils abbrach und mich auf das Land zurückzog und in mein Innenleben. Ich entwickelte auch heftig alle Krankheiten, die ich jemals hatte, nur in schlimmerer Form. Phasenweise hatte ich das Gefühl, nicht mehr lebensfähig zu sein und wünschte mir dies auch nicht weiter. Dann aber kam irgendwie der Prozess des Annehmens in Gang. Die innere Verzweiflung des verletzten Kindes flaute ab und verwandelte sich in Verständnis für mich und meine aktuelle Situation. Durch das Verstehen meiner inneren Ursachen konnte dann die Arbeit der Integration beginnen. Integrieren kann ich persönlich aber nur, was ich verziehen habe. Die Loslösung, die durch das Verzeihen geschieht, ermöglicht mir persönlich erst das Ja-Sagen zum Erlebten und die Versöhnung mit mir selber wie mit den Anderen.
Ganz entscheidend auf diesem Weg war etwas, das ich im Moment wo ich schreibe "Überschattung" nennen will. Es ist eine Art von Schatten, den ich über mein Leben geworfen gesehen habe durch eine intensive Beschäftigung mit Jesus Christus. Durch die Dunkelheit seiner Geschichte wurde mir das wenige Licht in meinem Leben deutlicher und klarer. Es war, als ob ich wie Rotkäppchen durch den dunklen Wald wanderte, nur geführt von einem fernen Licht, das mir den Weg zur Großmutter wies. Und so waren es Mythen, Märchen und spirituelle Geschichten, die mir schliesslich zu einer neuen Klarheit mir selber gegenüber verhalfen. Aber es ging vorher durch ein dunkles Tal der Tränen, durch eine schattenreiche Nacht. Das tiefe Durchleiden führte dann zwar nicht in höchstes Glück, aber es erlaubte mir das Weiterleben. Und dafür, daß ich lebe, bin ich dankbar. Diese Dankbarkeit zu leben überstrahlt in mir alles, was mal irgendwann geschehen ist. Zwar gibt es auch heute noch dunkle Stunden, aber das Leben an sich ist es wert, die Schatten zu ertragen.

So, habe endlich fertig.
