LIEBE- frei von Mitgefühl

Neutrino

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In ihrem neuen Buch „Die Liebe kommt aus dem Nichts” beschreibt die österreichische Therapeutin Christl Lieben ihre Erfahrungen mit einer Liebe, die sie beschreibt als die „Liebe frei von Mitgefühl”. Was ist darunter zu verstehen? Ist es nur eine spirituelle Ausrede für Herzlosigkeit oder tatsächlich eine Liebe, die auf einer anderen, seelischen Ebene zuhause ist? Wir haben uns mit ihr unterhalten.

Liebe und Mitgefühl
Liebe und Mitgefühl, das scheint für viele Menschen untrennbar. Sowohl der christliche als auch der buddhistische Glaube sehen das Mitgefühl als zentralen Ausdruck der Liebe. Wieso plädierst du für eine Liebe jenseits des Mitgefühls? Wie war deine Geschichte, die dich zu dieser Liebe geführt hat? Du arbeitest ja als Therapeutin – da ist Mitgefühl doch oftmals die zentrale Motivation?
Das kam zu mir aus einer Notsituation heraus. Ich war Herzkrank geworden und durch nachforschen habe ich festgestellt, dass viele meiner Kollegen genau die gleiche Symptome haben, oder auch andere Organschäden bekommen. Mir wurde klar: Wenn man sich über Jahre immer wieder einer bestimmten Schwingungssituation stellt, dann wird der Körper irgendwann ‘grantig’. Und dann kam dieser Traum, den ich in meinem Buch näher beschreibe. In diesem Traum wurde mir gesagt, dass es um neue Heilweisen geht, um einen neuen Zugang zur Heilung oder zur Begleitung. Und dass diese Heilung über eine Kraft geschieht, die kein Mitgefühl kennt. Und das hat mich sehr verwirrt. Ich konnte das nicht verstehen: kein Mitgefühl?

Aber langsam habe ich begriffen, dass wir uns durch das Mitgefühl verstricken mit dem anderen. Und dass der andere nichts davon hat!

Nach und nach habe ich realisiert, dass jeder von uns gleichermaßen göttlich ist – und das sagen wir ja auch oft, aber man weiß nicht wirklich, was man damit meint. Aber wenn man das wirklich ernst nimmt, wirklich ernst nimmt, dass wir alle göttlichen Ursprungs sind und in irgendeiner Weise an die göttliche Urquelle angeschlossen, dann bedeutet das, dass wir souverän sind auf dem Weg, den wir gehen. Und selbst in unserem Scheitern bleiben wir souverän. In dem Moment, als ich das begriffen habe, ist es mir ganz leicht und hell ums Herz geworden und ich kann seither ganz anders mit schwer belasteten Menschen arbeiten, weil ich sie anders begleite. Ich begleite sie in ganz tiefem Respekt gegenüber ihrem göttlichen Aspekt und vor dem Weg, den sich diese Seele selbst gewählt hat.

Ich habe verstanden: Dieser Mensch, diese Seele hat alles in sich, meine Aufgabe ist nur, den anderen wieder an seine Ressourcen zu bringen.

Wie du es beschreibst ist es also so, dass das Mitgefühl dazu führt, dass sich der Therapeut auf den Klienten einschwingt, statt dass sich der Klient auf das Heilungsangebot des Therapeuten einschwingt? Wodurch in der Folge – wie bei dir – auch Krankheiten beim Therapeuten entstehen können?
Genau, und da hat weder der Therapeut noch der Klient etwas davon.

Ein weiterer Aspekt ist, wenn ich dich recht verstehe, mit welchem Aspekt des Klienten der Therapeut in Beziehung tritt. Verstehe ich dich richtig: Wenn wir immer den Buddha im Anderen ansehen, dann erwacht der Buddha durch dieses Angesehen-werden. Wenn man aber zum Opfer in Beziehung tritt, das Opfer ansieht, dann wird das im Anderen immer stärker und wirklicher. Es geht also darum, zu dem Heilen im anderen in Beziehung zu sein, damit er diese Ressource stärker fühlen kann?

Das ist exakt die Liebe frei von Mitgefühl! Indem du – wie du es sagst – den Buddha im anderen ansiehst, findet dieser wieder einen Zugang zu seiner eigenen Tiefe und hat viel schneller Zugang zu seinen eigenen Lösungsmöglichkeiten.

Als ich das zum ersten Mal entdeckt habe, haben wir das systemisch aufgestellt, bei einem Fachkongress. Wir haben ein Problem, die Liebe frei von Mitgefühl und das Mitgefühl aufgestellt. Und da habe ich die Liebe zum Mitgefühl sagen lassen: ‘Erst warst du da und nun komme ich.’ Aber es war sofort klar: das stimmt nicht. Also haben wir es umformuliert und die Liebe hat gesagt: ‘Erst war ich da, dann bist du gekommen und nun bin wieder ich da.’ Und da haben alle Gänsehaut bekommen, weil das gestimmt hat. Also die Liebe frei von Mitgefühl ist die Ursprungsform und das Mitgefühl ist ein kulturelles Phänomen.

Also das Mitgefühl ist die Kraft der Liebe, nur verstrickt in die persönliche Geschichte, das Drama?
Ja, ja natürlich. Aber das ist ja das spannende, was bei diesen Aufstellungen herausgekommen ist: Das Mitgefühl ist vor allem verstrickt in die eigene Geschichte. Mitgefühl nach außen ist eigentlich Mitgefühl mit einem eigenen, inneren Aspekt, der getriggert wird durch den anderen. Du möchtest, dass es dem anderen gut geht, damit es dir gut geht.

Oft unterschiedet man Mitgefühl und Mitleid. Ein mögliches Bild wäre: Wenn jemand in einer Grube gefangen ist, steigt das Mitleid zu ihm herunter und trauert gemeinsam über das Dunkel dort unten. Das Mitgefühl hingegen lässt eine Leiter hinab, es reicht die Hand, es hilft heraus, aber steigt nicht selbst hinunter. Inwiefern unterschiedet sich die „Liebe frei von Mitgefühl” von einem so verstandenen Mitgefühl?
Ja aber das ist es doch! Nimm dein Wort: heraushelfen. Ich meine nicht Mitleid, ich meine wirklich Mitgefühl, denn dieses ‘Heraushelfen’ ist genau der Punkt. Mitgefühl erzeugt eine Hierarchie: Der andere ist im Mangel und ich bin in der Fülle und nun helfe ich. Die Liebe frei von Mitgefühl sieht den anderen nie im Mangel, sondern immer in der Fülle seiner Verbindung zum Göttlichen. Wir brauchen ihm nicht heraushelfen. Wir können ihn aber dabei begleiten, dass er den Weg hinaus selber findet. Das ist heute angeblich ja der Grundsatz jeder Therapie, aber die Haltung ist eine ganz andere. Es geht um dieses Vertrauen in die Buddhanatur des anderen. Dieser Buddhanatur musst du nicht helfen.

Also wenn der Therapeut in sich die Verbindung zur Ebene reiner Liebe hält, kann der Klient dazu in Resonanz gehen, während, wenn der Therapeut auf der Schwingungsebene von Mitgefühl operiert, beide in der Geschichte verstrickt bleiben?
Ja, und der Therapeut ist auch in sich selbst verstrickt, weil das Mitgefühl immer durch etwas getragen ist, was in ihm selbst getriggert wurde. Sowohl der Klient als auch der Therapeut können heilen, wenn in das Göttliche geschaut wird. Mitgefühl hingegen erzeugt Mangel.

Alle Menschen sind göttlich
Der zentralen Denkansatz ist also der, dass alle Menschen gleichermaßen göttlich verbunden sind und über die gleichen göttlichen Ressourcen verfügen – wir sind alle in gleicher Weise mit dem Licht verbunden.
So ist es. Und das ist das größte Abenteuer in dieser Haltung. Dass man es nicht nur theoretisch-philosophisch, sondern praktisch für möglich hält, dass alle Menschen immer verbunden sind. Diese Worte sind verschlissen bis zum geht nicht mehr, es ist nur noch bla-bla. Man kann das so hinsagen, dann fühlt man sich kurz besser, aber es wirklich als eine Realität anzunehmen, das ist ein tägliches sich-Erinnern. Und das gelingt nur bruchstückhaft, weil es vor allem erstmal so schwer ist, die eigene Göttlichkeit wirklich anzunehmen. „Es ist unser Licht, dass wir am meisten fürchten, nicht unser Schatten.” Das ist der Punkt: Wir fürchten unser Licht. Weil da die Geschichte aufhört: Wer sind wir dann? Welche Konsequenzen hat das, wenn wir unser Licht annehmen, wirklich zutiefst annehmen? Und zwar als Realität, nicht als ein gesprochener, wohlklingender Satz!

Und wenn wir unser eigenes Licht annehmen, müssen wir es auch in allen anderen annehmen, gleichermaßen…
Genau. In wirklich allen.

Ist das dann eine Falle, in der die moderne spirituelle Arbeit mit ihren ganzen Gurus und Helfern steckt? Dass es immer noch scheint, als hätten manche Verbindung und andere nicht?
Genau, schrecklich! Das ist, was alle Religionen gemacht haben, nun machen wir es im Kleinen, indem wir urteilen: Die haben es nicht, die sind noch nicht soweit. All diese Sätze. Es ist nicht wahr. Wenn du dir Leute ansiehst, die scheinbar ‘nicht dazugehören’ – und in meiner Praxis kommen wirklich drastische Biografien vor, von Menschen, die wirklich am Boden liegen, keine spirituelle Entwicklung hinter sich haben, tief im Scheitern stecken. Wenn du hinhörst auf diese Lebenswege und es mit anderen Augen siehst, dann hat diese Seele einen unglaublichen Weg gewählt. Die Demütigung zu erleben, das Ausgeschlossensein zu erleben, Einsamkeit zu erleben. All das ist der spirituelle Weg dieser Seele. Wenn ich das sehe, kann ich diese Menschen nur mit großer Ehrfurcht, großem Respekt und tiefer Liebe begleiten. Und nicht mitfühlend auf sie herabblicken. Verstehst du den Unterschied?

Da könnte man einwenden: Es ist ja schön und gut wenn alle Menschen theoretisch mit dem Licht verbunden sind. Aber faktisch ist es doch so, dass einige Menschen mit ihrem Licht schon vertrauter sind als andere.
Natürlich! Das leugnet ja auch niemand. Aber alle Menschen tragen es in sich, und dazu müssen wir in Beziehung gehen. Gerade die Menschen, denen das Licht schon vertrauter ist, haben die Funktion, anderen Menschen Erinnerung zu sein.

Aber ich kann dir sagen, ich habe mich als Therapeutin immer für Grenzbereiche interessiert, ich habe mit Mördern gearbeitet, mit ganz schwer Drogensüchtigen, ich bin immer an die Grenzbereiche des menschlichen Bewusstseins gegangen, dorthin, wo sich das Bewusstsein am Leben bricht. Und genau dort, bei diesen Menschen habe ich Bestätigung gefunden, wie nah sie in Wirklichkeit ihrem Licht sind. Es ist so nah, auch bei Menschen, wo du denkst, sie wären Meilenweit entfernt. Unsere Arroganz liegt ganz falsch, selbst ein Mörder, der lebenslänglich im Gefängnis sitzt, braucht oft nur ein Wort, einen winzigen Schritt, um genau dort zu sein.

In Bezug auf deine therapeutische Arbeit ist ein zentraler Satz aus deinem Buch: „Mitgefühl erzeugt Abhängigkeiten, Liebe nicht.”
Ja, Liebe ist ein weiter Raum, der den anderen und alle Möglichkeiten akzeptiert und loslässt. Das Mitgefühl strengt sich furchtbar an, dass es dem anderen gut geht – aber nur damit es uns gutgeht.

Berührbar, aber nicht mitfühlend?
Könnte deine Botschaft nicht als philosophische Rechtfertigung für Herzlosigkeit missbraucht werden?
Zuerst mal: Da ist ganz viel Liebe. Seit ich das in meinem Leben umsetzen kann, gehe ich wie in einem Bad aus Liebe und ich spüre sie, in allem was mir begegnet. Zum ersten Mal verstehe ich die Zen-Kultur, die nur Leute akzeptiert, die auch gegenüber alltäglichen Gegenständen respektvoll handeln. Wer da Türen knallt wird nicht zugelassen. Buddhanatur oder die Liebe ist in Allem. Wenn du diese Liebe lebst, breitet sie sich wie von selbst aus.

Aber wie würdest du Menschen, die deinen Ansatz als „kalt” und „distanziert” empfinden, den Unterschied erklären?
Diese Leute lesen ‘Liebe frei von Mitgefühl’ und lesen das Wort ‘Liebe’ nicht! Es ist eine Form von Liebe und welche Form von Liebe ist kalt? Welche wendet sich nicht dem Leid zu? Es ist ein Glaubenssatz, den wir haben, dass Liebe und Mitgefühl zusammengehören.

Kannst du auch noch mal den Unterschied beschreiben, zwischen „Mitgefühl haben” und „berührbar sein”?
Das ist eine sehr schöne Unterscheidung! Natürlich bleibst du in dieser Liebe offen, berührbar, das Schicksal des Anderen berührt dich und natürlich ist da zuerst auch Mitgefühl. Aber dieses berührt werden führt hin in eine große Liebe, in die Freude und in das Vertrauen in die Göttlichkeit des Anderen. Du bist berührt, aber nicht im Sinne einer Angst oder Sorge um den Anderen. Das macht Raum dafür, den Anderen zu begleiten auf seinem Weg, hin zu seinem eigenen Vertrauen – oder auch in sein Scheitern! Die Liebe frei von Mitgefühl ist offen, sie muss niemanden vom Scheitern abhalten, denn vielleicht ist genau das der Weg, den sich diese Seele gesucht hat. Es passiert immer wieder, dass ich Klienten bei ihrem Scheitern begleite – auf allen Gebieten. Wenn ich das begleite und dabei Kontakt halte zum Göttlichen im Anderen, passiert oft etwas ganz Interessantes. Wenn das Leben sich zertrümmert hat, wenn nichts mehr da ist, wird diesen Menschen sehr oft ihre Buddhanatur in einer bestimmten Weise bewusst und es gibt eine Umkehr und einen Aufstieg. Wenn ich aus meinem Mitgefühl diesen Menschen so begleitet hätte, dass er nicht scheitert, nicht sein Leben zerlegt und seinen Prozess von Außen in irgendeiner Weise gesteuert hätte, dann wäre er nie an diesen tiefen Punkt des Begreifens gekommen.

Eine höhere Form von Liebe?
Mir scheint, die Liebe von der du da sprichst, ist eine vertikale, seelische, transzendente und apersonale Liebe, die in gewisser Wiese „von oben kommt”, eine Liebe zwischen zwei Seelen. Die meisten Menschen denken Liebe wohl aber eher horizontal, also als etwas persönliches, zwischenmenschliches, eine Liebe zwischen zwei Personen. Das Mitgefühl aus der Liebe herauszunehmen, aber die Liebe zu behalten, ist in gewisser Hinsicht der Schritt aus der persönlichen Geschichte heraus auf eine seelische Ebene. Siehst du das ähnlich?
Ja, das kann man so sagen. Hier möchte ich noch etwas anderes einflechten. Mir ist im Laufe meiner Arbeit immer klarer geworden, dass wir alle in uns eine Blaupause unseres geheilten Zustandes haben. Jeder Mensch erinnert in sich den ursprünglichen Entwurf seiner Seele. Es ist nicht so, dass das liebende Universum uns als verhartschte Existenzen geschaffen hätte. Wir sind alle heil geschaffen und gedacht, aber mit der Möglichkeit zu scheitern und uns selber zu verletzen. Schon im Moment der Geburt verlieren wir dieses Intakt-Sein, aber wir können es erinnern. Wenn ich heute mit Menschen arbeite, versuche ich, diese heile Idee der Seele im Kopf zu haben, verstehst du? Irgendwo in uns sind wir alle zutiefst heil. Wir sind alle geschaffen aus der Liebe der Schöpfung. Ich nenne das „die Liebe, die mich wollte”: Egal wie meine weltlichen Eltern reagieren, ob sie mich wollen und annehmen oder nicht: Es gibt eine Liebe, die mich wollte. Und die Liebe frei von Mitgefühl ist dieser ‘Liebe, die uns wollte’ ziemlich nah. Sie ist ein Aspekt der universellen Liebe.

Wenn ich dich recht verstehe, glaubst du, dass für uns als Menschheit der Zeitpunkt gekommen ist, aus dem Zwischenmenschlichen mit all seinen Dramen in die höhere Liebe aufzublühen. Würdest du das so sagen?
Ja, ich würde uns das wünschen. Das Leben wird so leicht dadurch, so frei. Auch für einen selbst! Wenn man selbst in der Scheiße steckt, kann man das in dieser Liebe bejahen, statt sich selbst zu bejammern. Wenn man umschaltet auf die Liebe frei von Mitgefühl, dann öffnet das einen völlig neuen Zugang zu den eigenen Lebensdramen – man schwimmt leichter durch.

Das ist ja auch ein interessanter Aspekt, dass die innere und äußere Arbeit verschmelzen. Du arbeitest mit Aufstellungen – ich sehe das ganze Leben als eine Aufstellung. Alles, womit ich im Äußeren konfrontiert bin, sind innere Aspekte von mir. Wenn ich also Außen diese Liebe ohne Mitgefühl halten kann, kann ich das auch mit diesen Aspekten in mir?
Völlig richtig! Aber schau mal: Du hast jetzt gesagt, ‘Liebe ohne Mitgefühl’. Ich bestehe auf ‘Liebe frei vom Mitgefühl’. ‘Ohne’ ist nur Mangel, ‘frei von’ öffnet einen Raum. Das kann man leicht an anderen Bespielen verstehen: Jemand der ohne Geld ist, ist arm. Jemand der frei von Geld ist, lebt in einem anderen Möglichkeitsraum.

Heilung durch Liebe
Wie begreifst du denn Heilung heute? Was ist für dich das Prinzip von Heilung?
Heilung geschieht, wenn du dir selbst diese Liebe geben kannst. Wenn du mit dieser Liebe in deinen Schmerz, dein Trauma oder deine Angst gehst, ist das am tiefsten Punkt wie ein Tunnel, der dich direkt zum Licht führt, zu deiner anfänglichen Gestalt. Und durch diese anfängliche Gestalt leuchtet die Liebe, die dich wollte. Wenn du das, was ist, akzeptieren kannst in der Liebe frei von Mitgefühl, wenn du es so anschaust, dann verwandelt es sich. Der Schmerz geht und die Erfahrung bleibt, du gehst mit dieser Erfahrung beschenkt in dein Leben. Und das Interessante ist, dass sich auch die äußere Realität ändert. Möglichkeiten tauchen auf, eine Behandlung, ein Mensch, all das geschieht wie von selbst, weil du in dir dein Feld änderst.

Also die Liebe frei von Mitgefühl ist sowohl in der inneren und äußeren Arbeit die eigentliche Medizin?
Ja. Allein schon weil sie dein Erleben so radikal verändert. Bei Mitgefühl ist da immer ein wenig verliebt sein in die eigene Geschichte, ein wenig ‘Ogottogott, was ist mir alles passiert’. Die Liebe frei von Mitgefühl ist völlig präsent im Augenblick und hilft dir, durch die konkreten Gefühle hindurchzugehen – das ‘ojeoje’ fällt weg. Und das ist so befreiend! So befreiend. Denn der eigentliche Schmerz ist wesentlich kleiner, als man glaubt, wenn man im Drama und im Mitgefühl ist. Wesentlich kleiner!

Was aus dieser Liebe kommt, ist sachlich, pragmatisch und unsentimental, aber gleichzeitig voller Liebe. Und diese Liebe ist der Realität viel näher, als unser Drama.

Ist es möglich, die Liebe frei von Mitgefühl zu leben, ohne zuvor das Mitgefühl wirklich gefühlt und voll entfaltet zu haben?
Nein! Absolut nicht. Und das ist mir ganz wichtig: Die Liebe frei von Mitgefühl soll das Mitgefühl nicht ersetzen, die beiden stehen nebeneinander. Die Liebe frei von Mitgefühl ist der nächste Schritt. Mitleid ist der erste, Mitgefühl ist die entwickelte Form des Mitleids und daneben ist dann die Liebe frei von Mitgefühl gestellt. Wenn ich mit Menschen arbeite, ist da fast immer zuerst Mitgefühl – und von dort gehe ich dann den nächsten Schritt.

Es ist also eine Art evolutionärer Stufenprozess, ein Reifungsprozess?
Ja, das ist, was ich sagen wollte. Du musst Mitgefühl gegeben und bekommen haben, erst dann kannst du den nächsten Schritt machen. Mitgefühl hat einen hohen Stellenwert. Ich habe es gerade bei einem Mann erlebt, ein richtiger Brutalo, der hat seine Mutter blutig geschlagen, seine Schwester blutig geschlagen. Und dann hat er ein Kind mit Down-Syndrom bekommen und dieses Kind wurde sein Lehrer. Er hat begonnen, dieses Kind zu lieben. Dieser Mann hat sich in einer Weise verändert, die du dir nicht vorstellen kannst. Er hat Mitgefühl gelernt. Wäre ich dem mit meiner Liebe frei von Mitgefühl gekommen, wäre er wohl ein Brutalo geblieben, weil er es gar nicht hätte verstehen können.

Also das Mitgefühl ist der vorbereitende Grund, auf dem die höhere Liebe wachsen kann?
Ja.

Das Interview führte David Rotter



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Artikelbild: vinod velayudhan / cc-by

Autorenbild: © Josef Polleross



Buch
liebe-aus-dem-nichts-cover.jpg
Christl Lieben, Gerald Schmickl

Die Liebe kommt aus dem Nichts
Wenn sie uns berührt, nehmen wir Gestalt an

160 Seiten,
ISBN 978-3-943416-79-4







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ÜBER DEN AUTOR
Christl Lieben
Autor
Website
geboren 1936, lebt und arbeitet als Psychotherapeutin und Coach in Wien. Sie gibt Seminare in Österreich, Deutschland und Amerika.

Chakra-Persönlichkeitstypen: Halschakra
SonnenZeit – ein lebensförderliches Wirtschaftssystem
28 RESPONSES

Das ist ein recht langes und ausführliches Interview von David Rotter. Christl Leben stellt hier einige ganz interessante Thesen auf, wer Zeit und Lust hat kanns ja mal durchlesen und gerne hier feedbacken.

Zb:


Oft unterschiedet man Mitgefühl und Mitleid. Ein mögliches Bild wäre: Wenn jemand in einer Grube gefangen ist, steigt das Mitleid zu ihm herunter und trauert gemeinsam über das Dunkel dort unten. Das Mitgefühl hingegen lässt eine Leiter hinab, es reicht die Hand, es hilft heraus, aber steigt nicht selbst hinunter. Inwiefern unterschiedet sich die „Liebe frei von Mitgefühl” von einem so verstandenen Mitgefühl?

Ja aber das ist es doch! Nimm dein Wort: heraushelfen. Ich meine nicht Mitleid, ich meine wirklich Mitgefühl, denn dieses ‘Heraushelfen’ ist genau der Punkt. Mitgefühl erzeugt eine Hierarchie: Der andere ist im Mangel und ich bin in der Fülle und nun helfe ich. Die Liebe frei von Mitgefühl sieht den anderen nie im Mangel, sondern immer in der Fülle seiner Verbindung zum Göttlichen. Wir brauchen ihm nicht heraushelfen. Wir können ihn aber dabei begleiten, dass er den Weg hinaus selber findet. Das ist heute angeblich ja der Grundsatz jeder Therapie, aber die Haltung ist eine ganz andere. Es geht um dieses Vertrauen in die Buddhanatur des anderen. Dieser Buddhanatur musst du nicht helfen.


Eine höhere Form von Liebe?
Mir scheint, die Liebe von der du da sprichst, ist eine vertikale, seelische, transzendente und apersonale Liebe, die in gewisser Wiese „von oben kommt”, eine Liebe zwischen zwei Seelen. Die meisten Menschen denken Liebe wohl aber eher horizontal, also als etwas persönliches, zwischenmenschliches, eine Liebe zwischen zwei Personen. Das Mitgefühl aus der Liebe herauszunehmen, aber die Liebe zu behalten, ist in gewisser Hinsicht der Schritt aus der persönlichen Geschichte heraus auf eine seelische Ebene. Siehst du das ähnlich?

Ja, das kann man so sagen. Hier möchte ich noch etwas anderes einflechten. Mir ist im Laufe meiner Arbeit immer klarer geworden, dass wir alle in uns eine Blaupause unseres geheilten Zustandes haben. Jeder Mensch erinnert in sich den ursprünglichen Entwurf seiner Seele. Es ist nicht so, dass das liebende Universum uns als verhartschte Existenzen geschaffen hätte. Wir sind alle heil geschaffen und gedacht, aber mit der Möglichkeit zu scheitern und uns selber zu verletzen. Schon im Moment der Geburt verlieren wir dieses Intakt-Sein, aber wir können es erinnern. Wenn ich heute mit Menschen arbeite, versuche ich, diese heile Idee der Seele im Kopf zu haben, verstehst du? Irgendwo in uns sind wir alle zutiefst heil. Wir sind alle geschaffen aus der Liebe der Schöpfung. Ich nenne das „die Liebe, die mich wollte”: Egal wie meine weltlichen Eltern reagieren, ob sie mich wollen und annehmen oder nicht: Es gibt eine Liebe, die mich wollte. Und die Liebe frei von Mitgefühl ist dieser ‘Liebe, die uns wollte’ ziemlich nah. Sie ist ein Aspekt der universellen Liebe.

Wenn ich dich recht verstehe, glaubst du, dass für uns als Menschheit der Zeitpunkt gekommen ist, aus dem Zwischenmenschlichen mit all seinen Dramen in die höhere Liebe aufzublühen. Würdest du das so sagen?

Ja, ich würde uns das wünschen. Das Leben wird so leicht dadurch, so frei. Auch für einen selbst! Wenn man selbst in der Scheiße steckt, kann man das in dieser Liebe bejahen, statt sich selbst zu bejammern. Wenn man umschaltet auf die Liebe frei von Mitgefühl, dann öffnet das einen völlig neuen Zugang zu den eigenen Lebensdramen – man schwimmt leichter durch.

Also das Mitgefühl ist die Kraft der Liebe, nur verstrickt in die persönliche Geschichte, das Drama?
Ja, ja natürlich. Aber das ist ja das spannende, was bei diesen Aufstellungen herausgekommen ist: Das Mitgefühl ist vor allem verstrickt in die eigene Geschichte. Mitgefühl nach außen ist eigentlich Mitgefühl mit einem eigenen, inneren Aspekt, der getriggert wird durch den anderen. Du möchtest, dass es dem anderen gut geht, damit es dir gut geht.

In Bezug auf deine therapeutische Arbeit ist ein zentraler Satz aus deinem Buch: „Mitgefühl erzeugt Abhängigkeiten, Liebe nicht.”
Ja, Liebe ist ein weiter Raum, der den anderen und alle Möglichkeiten akzeptiert und loslässt. Das Mitgefühl strengt sich furchtbar an, dass es dem anderen gut geht – aber nur damit es uns gutgeht.


Also die Liebe frei von Mitgefühl ist sowohl in der inneren und äußeren Arbeit die eigentliche Medizin?

Ja. Allein schon weil sie dein Erleben so radikal verändert. Bei Mitgefühl ist da immer ein wenig verliebt sein in die eigene Geschichte, ein wenig ‘Ogottogott, was ist mir alles passiert’. Die Liebe frei von Mitgefühl ist völlig präsent im Augenblick und hilft dir, durch die konkreten Gefühle hindurchzugehen – das ‘ojeoje’ fällt weg. Und das ist so befreiend! So befreiend. Denn der eigentliche Schmerz ist wesentlich kleiner, als man glaubt, wenn man im Drama und im Mitgefühl ist. Wesentlich kleiner!

Was aus dieser Liebe kommt, ist sachlich, pragmatisch und unsentimental, aber gleichzeitig voller Liebe. Und diese Liebe ist der Realität viel näher, als unser Drama.

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Das ist mal ein Potpourri der Statements....

Was denkt ihr darüber, was haltet ihr davon? Lebbar? Brauchbar?

Thx :)
 
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Was denkt ihr darüber, was haltet ihr davon? Lebbar? Brauchbar?

Thx :)

Sie hat "Mitgefühl" und "Mitleid" so eingetopft, dass nur noch "Mitgefühl" übrigbleibt,
und dann hat sie der Liebe die Grundbasis entzogen. Denn "Mitgefühl" ist der Pfad
diese "Liebe" überhaupt zu erreichen. Sie hat dem Bauch den "Magen" entfernt,
damit die Verdauung gar nicht erst stattfindet sondern die Nahrung sofort verbrannt wird,
sie entzieht den "Lieben wollenden" die Brücke, sie zu erreichen.

Warte einfach 70 Jahre, irgendwann taucht die Liebe schon aus dem Nichts auf.....

Sie hat den "Scrooge" von Charles Dickens mit ihrer Sicht "entwertet" zur Sinnlosigkeit,
denn es ist das "Mitgefühl", welches die Liebe entzündet.
 
Was denkt ihr darüber, was haltet ihr davon? Lebbar? Brauchbar?
Ehrlich, unsachlich und getriggert geantwortet: Eine Liebe ohne Anteilnahme am Schicksal geliebter Menschen. Eine Liebe, mit der es problemlos vereinbar ist, den Geliebten bei lebendigem Leibe zu häuten und über kleiner Flamme zu rösten, während man die Kinder zu Tode vergewaltigt. Auf die Dramen ist geschissen, sind ja eh nur die eigenen. Hauptsache, dem höheren Bewusstsein ist gedient. Esoterisch verbrämter Psychopathendreck. Gelebt wird diese Liebe von Staats wegen in totalitären Schreckensregimen.
 
Es hat schon etwas Wahres an sich. Die Trennung zwischen Mitleid und Mitgefühl sollte sowieso klar sein. Ich persönlich sehe im Mitgefühl aber keine Wertung, für mich begründet es kein hierarchisches System. Weil ich zu diesem Zeitpunkt ja im Gefühl des anderen Menschen bin, bzw. in den Gefühlen die die Situation des Anderen bei mir auslöst. Und das wieder ein Anhaltspunkt für die Gefühle im Klienten ist, um ihm effektiver unterstützen zu können. Seine Klienten zu lieben ist von diesen Reaktionen völlig losgelöst ... da die Liebe ja auf dem Mensch sein des Klienten basiert, und nicht auf seinen Themen.

Und dahinter steckt für mich keine Wertung. Sehr wohl ergibt sich diese Wertung aber generell im Therapeuten - Klienten Kontext, da ja der Klient aus einer Bedürftigkeit heraus Unterstützung sucht, und sich damit ja automatisch dem "Wissenden" unterordnet.

Ich finde dieses Thema aber generell etwas missverständlich ... denn genau wie Du meinst wird es sehr oft als Entschuldigung für fehlende Empathie missbraucht. Für mich klingt es stark nach einem Versuch, sich wieder einmal besser als alle anderen zu machen, einen USP zu generieren.
 
Ich finde es nicht gut.
Schon allein dieses "die Seele hat es sich ausgesucht" ist in meinen Augen nur eine esoterische Ansicht, die auf andere Menschen draufgestülpt wird, da sieht man schon das fehlende Mitgefühl, und ich finde es auch ehrlich gesagt lieblos.

Grad in einer Therapie braucht ein Patient Mitgefühl, wenn er von schwierigen und schlimmen Dingen erzählt, er braucht Verständnis für seine Situation und sein Leid.
Viele Patienten haben für sich selbst kein Mitgefühl und behandeln sich mies, sie kennen es nicht anders und werden es auch nicht lernen, geschweigen denn lernen sich selbst zu lieben, wenn da kein Mitgefühl vorhanden ist.
Mitgefühl ist Empathie, die ist ganz wichtig in einer Therapie.
Mitfühlen und ernst nehmen, Authentizität, Ehrlichkeit, sagen, wenn man etwas schlimm findet. Das ist grad bei traumatischen Erlebnissen wichtig.
 
Ich denke, man darf eine tatsächliche Grube nicht mit einer seelischen Grube verwechseln. Wenn jemand tatsächlich in einem Loch steckt, macht es Sinn, ihm ein Seil zuzuwerfen.
Wenn aber jemand eine oder mehrere schlechte Erfahrungen gemacht hat, wenn jemand krank oder behindert ist, dann passiert es manchmal, dass dieser Mensch sich in einer solchen Grube wähnt. Und das ist falsch- falsch von der Gesellschaft, die ihm einen Mangel spiegelt und falsch von ihm selber, sich fortan in einer Grube zu fühlen.
Es bringt niemandem etwas, einem solchen Menschen ein Seil zuzuwerfen. Erinnere ihn an seine Grossartigkeit, seine Einzigkartigkeit. Mach ihm klar, dass er ein angeborenes Recht auf Licht und Sonne hat- und er hat die besten Chancen sich so wohl zu fühlen, wie es ihm grad möglich ist.
Trau ihm etwas zu. Und wenn es auch nicht sofort klappt, er wird fühlen, wird sich fühlen... allein das ist mehr Wert als irgendwelche Seile, die sein Leiden immer nur verlängern, denn niemand kam jemals so heraus aus seinem Schneckenhaus. Lache mit ihm, tanze mit ihm. Und wenn er nicht will, gönne ihm eine Pause. Das ist es, was Mensch sein ausmacht, meine ich.
 
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Ich sehe das eher als einen Tanz an. Er kann nur funktionieren, wenn sich beide bewegen. Da ist kein Platz für Marionetten, die an einem Seil hängen.

Wenn A aus sich heraus, selbst ausbaldovert, einen Bankraub verübt (Im Moor versinkend) wird ihn kein Seil retten, er tuts wieder.

Wenn B nicht durch eigenen Antrieb reingezogen wird (im Moor versinkend), wird er nicht nur ein Seil brauchen

Wer B ohne Mitgefühl verrotten lässt, ist ohne Liebe.
 
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