Das Problem liegt nicht einfach bei Ärzten und Pflegern, sondern hat sehr viel mit allgemeinen Wertvorstellungen zu tun.
Zum ersten einmal ist ein allgemeiner Trend zur Professionalisierung im Bereich der Krankenpflege zu beobachten. Das heisst: Leute, die früher von Angehörigen gepflegt wurden, werden heute in eine professionelle Umgebung gebracht. Das hat einerseits den Vorteil, dass dort mit Sicherheit mehr Fachwissen und Gerätschaft zur Verfügung steht, das hat andererseits den Nachteil der Entfremdung. Die Person wird ausgerechnet dort herausgerissen, wo sie sich heimisch und wohl fühlt, wo (hoffentlich) Vertrauen herscht.
Auch das geistige und seelische Wohl der Menschen wird viel stärker professionalisiert als früher. Man geht heute nicht mehr zu den Grosseltern, um sie um Rat zu bitten, sondern man geht zum Psychotherapeuten, zum Seelsorger, zum Familientherapeuten etc.
Das sind einfach Trends, die noch immer andauern. Ich sage nicht, dass ich das zwingend gut oder schlecht finde, aber man sollte erkennen, dass dahinter ein Wertewandel steckt, der sich langsam und unerbittlich vollzieht.
Zweitens ist es ebenso eine Wertefrage, ob denn überhaupt Ärzte und Krankenpfleger die Pflicht haben, einem Patienten seelisch beizustehen. Das ist gar nicht so klar, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man könnte auch argumentieren, es sei in erster Linie Pflicht der Angehörigen, seelischen Beistand zu leisten, der Krankenpfleger und v.a. der teure Arzt sollte demnach diejenigen Aufgaben übernehmen, für welche er spezifisch ausgebildet ist, das heisst, ein Herzspezialist soll sich um die Herzkrankheit kümmern, nicht aber um das seelische Wohlergehen des Patienten im Spital, weil er dafür schlichtwegs zu teuer ist. Man könnte hier erneut argumentieren, dass umgekehrt ein spezialisierter Psychotherapeut/Seelsorger zur Verfügung stehen müsste, der sich wiederum um das seelische Wohlergehen kümmert.
Das ist eine ziemlich rationale Sache: Wer viel kostet soll gezielt eingesetzt werden, da er die Allgemeinheit schlichtweg zu viel kostet um ineffektiv eingesetzt zu werden. Und auch, wer auf X spezialisiert ist, soll nicht noch alle möglichen anderen Dinge tun müssen. Gerade im Gesundheitswesen wird bei uns im Westen der Kostendruck immer höher.
Drittens: Man darf nicht vergessen, dass Pfleger und Ärzte auch nur Menschen sind. Es ist nicht leicht, jeden Tag 8 oder mehr Stunden lang mit kranken Menschen konfrontiert zu sein. Da nützt auch das Argument nichts, dass die das ja freiwillig gewählt hätten.
Viertens: Wir besitzen bei uns definitiv keine "Kultur des Leidens". Eine Person, die bei uns nicht dem allgemeinen Gesundheitsbild entspricht, wird bemitleidet. Wir fragen uns gegenseitig: "Wie geht es dir?" Und die ehrliche Antwort wäre meist: "Weder speziell gut, noch speziell schlecht. Ganz durchschnittlich halt." Darauf erwarten wir aber die Antwort: "Gut." Alleine schon das zeigt überdeutlich, wie sehr wir bemüht sind, die dunkle Seite des Menschen auszublenden. Wer in einer solchen Gesellschaft leidet, ist stigmatisiert. Er wird dann nicht mehr in erster Linie als Mensch angesehen - obwohl er das unzweifelhaft auch dann ist, wenn er leidet -, sondern er wird als Leidender/Kranker angesehen. Damit einher schreitet eine ganze Reihe von Vorurteilen, beispielsweise, dass einer nicht gleichzeitig leiden kann und zufrieden/glücklich sein kann. Somit wird der Zustand von Krankheit nicht einfach als Krankheit gesehen, sondern die Krankheit wird zu einem abnormen Zustand, welcher schnellstmöglich zu beenden ist. Dabei geht vergessen, dass sich Krankheit nur definieren lässt, indem ein Zustand von Gesundheit definiert ist. Krankheit lässt sich nur in Kombination mit Gesundheit feststellen. Darum ist Kranksein unweigerlich ein Teil des Lebens, denn ohne die Erfahrung von Krankheit gibt es keine Erfahrung von Gesundheit. Auch das geht bei uns nicht nur vergessen, sondern wird verdrängt.
Dem Kranken wird implizit das Recht genommen, krank zu sein, dem Leidenden wird das Recht genommen, zu leiden. Leiden ist immer auch eine tiefgehende Erfahrung (egal ob schön/angenehm oder nicht schön/unangenehm). Wem aber in einer Kultur der Extrem-Gesunden das Recht zu leiden genommen wird, dem wird auch das Recht und die Möglichkeit genommen, in seiner Situation womöglich zu einem tieferen Lebenssinn zu finden, seine potentiell tiefgehende Erfahrung und das Ausloten des Grenzbereichs des eigenen Menschseins wird eingeflacht dadurch, dass ihm keine Möglichkeit eingeräumt wird, sich angemessen mit dem eigenen Leidensweg zu beschäftigen.
Um es anders auszudrücken: Dadurch dass wir leugnen, dass es für manche Menschen möglich ist, in ihrem Leiden einen tieferen Sinn zu finden, verwehren wir diesen Menschen die Möglichkeit, ein tieferes Sein zu erfahren. Dadurch machen wir uns schuldig.
Das gilt auch, so schrecklich die Sache auch war, beispielsweise für die Konzentrationslager der Nazis. Indem den Überlebenden nicht gewährt wird/wurde, dass es zumindest potentiell möglich sei, in all dem Elend und Leid zu einem tieferen Sein zu gelangen, verwehren wir diesen Menschen paradoxerweise ausgerechnet das, was sie vermutlich äusserst dringend benötigen: Die Möglichkeit, dass es eben - vielleicht - doch noch einen Sinn in all dem Erlittenen gibt. Einen Sinn, wohlgemerkt, den nur jeder für sich selbst entdecken kann. Ich halte nichts von kollektiven Sinn-Antworten (und schon ganz und gar nichts von den esoterischen Standardloskeln: "Meine Seele hat sich inkarniert, damit ich Erfahrungen in der Welt mache." Sowas ist im entblössten Angesicht des Leids einfach nur unsäglich dumm. leider gibt es tatsächlich Menschen, die so wenig Einfühlsamkeit und Herzenswärme besitzen, dass sie einer kranken Person sowas direkt ins Gesicht zu sagen imstande sind. Da nützt dann auch kein Geschwafel von grenzenloser Liebe des Seins mehr weiter.)
(Und wer behauptet, es sei völlig unmöglich, dem Leiden einen Sinn abzugewinnen, den mache ich auf das Buch "Man's Search for Meaning" (dt: "...trotzdem Ja zum Leben sagen") von
Viktor E. Frankl aufmerksam, einer der Begründer der Existenzanalyse/Logotherapie, welcher mehrere Konzentrationslager überlebte und dort u.a. seine Frau und seine Eltern verlor. Frankl stellt in diesem Buch die rhethorische Frage, ob, falls es komplett ausgeschlossen sei, im eigenen Leiden einen Sinn zu finden, eine unheilbar kranke Person nicht gleich besser umgebracht werde (= aktive Sterbehilfe), da sie von jeglichem Lebenssinn absolut ausgeschlossen wäre. In so einem Falle wäre es tatsächlich humaner, die Person gleich umzubringen, ungefähr einen dysfunktionalen Roboter, welcher ausgeschaltet wird.)
Dieser Eintrag von mir heisst nun aber wiederum nicht, dass ich persönlich nun besonders stark oder leidensfähig bin. In Tat und Wahrheit versinke ich immer mal wieder, wie jeder normale Mensch, in Phasen von Selbstmitleid. Das ist aber ganz ok so.
