Hm, da ist mir jetzt nicht ganz klar, wie du die beiden Begriffe auseinanderhältst. Metaphysik ist für mich ein sehr weit gefasster Begriff, der nach meinem Verständnis nicht als Kontrapunkt zur Realität steht.Lotusz schrieb:Ich denke, bei der Gita ist beides zu finden. Auf der einen Seite das Metaphysische, auf der anderen Seite der Bezug zur Realität. Wenn man aber die Gita so schreibt, wie sie geschrieben ist, dann kann man das meiste davon eher auf die Realität beziehen als auf das Metaphysische.
Man kann die Gita natürlich immer auch metaphysisch interpretieren. Aber dann besteht die Gefahr, dass man die Realität ignoriert. Und die grosse Gefahr, die ich in der Gita sehe, ist, dass die Menschen die Gita eins zu eins in die Realität übertragen.
Aber du hast natürlich völlig recht, wenn du sagst, dass bei der BG, wie grundsätzlich bei allen derartigen Texten, immer mehrere Interpretationsebenen mitschwingen, und man dann obendrein zu den einzelnen Ebenen noch zusätzlich verschiedene Standpunkte einnehmen kann, aus denen man interpretiert. Ich will sicher nicht behaupten, meine Interpretation sein die alleinig seligmachende.
Nun, da denke ich, muss man vorsichtig sein. Der Swami mag viele Gründe gehabt haben, nicht klarer Stellung zu beziehen, etwa dass er es nicht für nötig hielt, oder dass er irgendwelche Interessen verfolgte, oder auch schlicht mangelndes Verständnis oder noch viele mehr.Warum gibt es denn z.B. von Leuten wie Swami Prabhupada keine Worte in der Deutlichkeit, wie ich sie ausspreche? Meiner Meinung nach, wäre es seine Aufgabe gewesen, die Gita so zu interpretieren, dass jedes Missverständnis ausgeschlossen ist. Aber Swami Prabhupada bezieht sich allein auf die religiöse Interpretation. Das ist mir zu wenig.
Davon bin ich auch überzeugt. Genauso wie ja auch die Bibel oder der Koran immer von allen Interessensgruppen derart ausgelegt werden, dass sie in die eigenen Konzepte passen. (*grins* Man stelle sich das mal vor: Jemand legt beispielsweise die Bibel so aus, dass sie die eigenen Interessen NICHT deckt und hält diese Interpretation dann noch für legitim - dann ist er ja im Konflikt mit sich selbst!).Ich bin davon überzeugt, dass es genügend Interessengruppen gibt, die die Gita genau so interpretieren, wie es den jeweils Herrschenden gefällt. Wäre die Symbiose zwischen Macht und Religion nicht schon immer vorhanden, dann hätten die Religionen gar nicht diese Bedeutung.
Interessanterweise gilt das auch für Gesetzbücher.
Jein - das ist ein wirklich kompliziertes Thema. Es gibt grundsätzlich 2 sich widersprechende Extrempositionen:Ich betrachte Religion nicht nur als spirituelle Angelegenheit, sondern immer auch als Politik, die sich hinter dem Mäntelchen der Religiosität versteckt. So ist es immer gewesen und so wird es immer sein. Und darum sollte man deutlich sagen, wenn man mit den Formulierungen nicht einverstanden ist.
Die einen behaupten, Religion (und auch Spiritualität, falls man die Begriffe voneinander trennen will) kann nie von den Menschen, der Kultur und somit von den Interessen getrennt werden. Es macht gar keinen Sinn einen Text auszulegen, ohne die dahinterstehenden Interessen der beteiligten Gruppen zu beobachten. Plakativ: Es gibt keine Religion ohne Menschen, die beiden sind untrennbar miteinander verbunden.
Die andere Position - und diese wurde in der Vergangenheit sehr stark v.a. von Namo eingenommen und bisweilen auch von Regina -, das sind diejenigen, die sagen, dass es gewisse Wahrheiten gibt, die völlig unabhängig von der Kultur, den Menschen, den Interessen ewig gelten. Diese Wahrheiten könne man nicht uminterpretieren, da sie ewig Wahrheiten bleiben würden. Man könne zwar eine Meinung oder ein Position dazu einnehmen, aber die Wahrheit selbst sei unantastbar. Plakativ: Religion (oder einfacher verständlich: Gott bzw. "die Wahrheit") ist unabhängig vom Menschen.
Ich will diese Positionen gar erst nicht gegeneinander ausspielen, sie haben beide ihre Berechtigung und von Fall zu Fall ist zu prüfen, was wohl eher zutreffen wird (dies ist übrigens auch eine Meinung und Position, es wäre im Grunde genommen erst noch zu zeigen, warum nicht einfach NUR eine der beiden die richtige sei; in der Vergangenheit wurde dann auch durch den Postmodernismus oft eine Position der völligen Beliebigkeit eingeführt nach dem Motto "Wenn schon niemand eine Ahnung haben kann, was richtig ist, dann können wir ja gleich tun und lassen, was wir wollen". Inzwischen ist aber gegen diese Position der völligen Wertebeliebigkeit Widerstand aufgekommen - in meinen Augen zurecht!).
Je nachdem, welche Position man innehat, kann die BG/Bibel/Koran ziemlich andes ausgelegt werden. Position 1 wird beispielsweise vermutlich sagen: "Die in der Bibel beschriebenen Texte haben immer dem Zweck gedient, die Stabilität der Gesellschaft zu erhalten." Position 2 wird das abstreiten und sagen: "Die Bibel ist voll von Geschichten bezüglich phasenweiser Instabilisierung der Gesellschaft durch Veränderungen der Glaubensstrukturen."
Oder um noch ein Beispiel zu nennen: Osho wird häufig kritisiert für sein überbordendes, masslosses Verhalten im Umgang mit seinen Luxusautos. Position 1 wird behaupten: "Der Typ benutzte seine Lehre zur Sicherung seines Luxus." Position 2 wird das Gegenteil behaupten und sagen: "Völlig unabhängig von den Taten und Machenschaften Osho's steht seine Lehre im Raum. Man braucht Osho's Leben nicht zu betrachten, um diese Lehre zu verstehen und zu verkünden."
Oder noch ein Beispiel: Kürzlich hat mich Regina kritisiert, weil ich Sri Chinmoy's Verhalten bezüglich der Wahrheit kritisierte. Sie nahm damit Position 2 ein und hielt mir vor, man müsse zwischen Lehrer und Lehre unterscheiden. Jemand von Position 1 würde das bestreiten und sagen, die Lehre muss immer erst irgendwie interpretiert werden, und diese Interpretation ist nie frei von Interessen. Somit wäre es durchaus legitim, Sri Chinmoy zusammen mit seiner Lehre zu kritisieren ohne eine Trennung zu machen.
In der Wissenschaft, vor allem in den Sozialwissenschaften, liegen diese beiden Dogmas schon seit langer Zeit in heftigem Streit miteinander. Es wurden bisher diverse Versuche der Versöhnung unternommen, aber eigentlich letztlich erfolglos. Beiden Ansätzen haben wir insgesamt, so würde ich sagen, aber tiefe Erkenntnisse über die Natur, den Menschen, die Kultur usw. zu verdanken.
Ich bin mittlerweile selber überrascht, wie kritisch ich der Gita und den Religionen gegenüberstehe. Eigentlich hatte ich vor dem Lesen der Gita genau das Gegenteil erwartet. Ich hatte nämlich erwartet, dass sie meine Zweifel an der Religion beseitigen würde. Aber sie hat es eher geschafft, dass ich mich heute eher zum Atheismus oder zum Agnostizismus bekenne. Vielleicht liegt es darin, dass ich das Gefühl habe, wie missinterpretiert Religionen werden können und wie missinterpretiert sie auch heute noch werden. Man sehe sich nur einmal die Entwicklung des christlichen Fundamentalismus in Amerika oder die Entwicklung des islamischen Fundamentalismus an.