Selbstverwirklichung und die Notwendigkeit der Unterscheidung

Rita2022

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8. Oktober 2022
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In Bezug auf Yoga und Meditation begegnet man immer wieder dem Ziel der Selbstverwirklichung. Ich formuliere hier einmal meine Beobachtungen, Überlegungen und Gedanken dazu und freue mich über einen regen Austausch.



Wenn ich verschiedentlich nachfrage, was denn mit dem Begriff „Selbstverwirklichung“ genau gemeint sei, so erhalte ich meist folgende Antworten:



„Selbstverwirklichung ist, wenn ich mich selbst verwirkliche. Das heißt, ich mache das, was ich selbst will.“

„Selbstverwirklichung heißt, ich bin ganz ich selbst.“

„Selbstverwirklichung ist, für sich selbst etwas tun.“



Demnach meint man mit „Selbst“ also das eigene Gemüt und die eigenen Wünsche und Sehnsüchte.



Auch in der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstverwirklichung. Hier versteht man darunter im Allgemeinen, dass man seine Talente und Fähigkeiten entsprechend seinen Neigungen im Leben umsetzen lernt.



In der Yoga-Philosophie gibt es schließlich unterschiedliche Begriffe: „atman“, das höchste unsterbliche individuelle Selbst, und „jiva“, das individuelle Selbst bzw. die individuelle Seele, die sich mit dem Körper identifiziert, und das Ziel ist es, „jiva“ zu überwinden und „atman“ zu verwirklichen.



„Atman“ wiederum steht zu „brahman“, dem absoluten universalen Selbst bzw. Weltenselbst, das allem zugrunde liegt und alles umschließt, in Beziehung. Hieraus wird deutlich, dass es sich bei der Verwirklichung des Selbst nicht um eine rein individuelle Angelegenheit handeln kann, sondern diese in einem Zusammenhang mit einem Gesamten steht.



So scheint dieses „Selbst“, von dem im Yoga oder auf dem Meditationsweg gesprochen wird, nicht das gleiche „Selbst“ zu sein, wie es allgemein oder auch psychologisch verstanden wird.



In der Bhagavad Gita sind mehrere Stellen zu finden, wo die göttliche Inkarnation und geistiger Lehrer Krishna zu seinem Schüler Arjuna sagt:



„Richte dein Denken auf mich, sei Mir ergeben, opfere Mir und verneige dich vor Mir. Du wirst zu Mir gelangen; wahrlich Ich gebe dir das Versprechen, denn du bist Mir lieb.“ (Kap. 18,65)



Es wird also von Hinwendung gesprochen, das heißt, man geht von sich selbst weg und wendet sich etwas außerhalb von sich, in diesem Fall Krishna, zu.



Auch im Neuen Testament wird diese Hinwendung bzw. das Sich-selbst-Verlassen sehr deutlich angesprochen:



„Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird‘s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird‘s finden.“ (Mat. 16,24-25)



So könnte man die Formel, die so weit verbreitet ist „Ich tue etwas für mich selbst.“ verwandeln in „Ich tue etwas für das Selbst.“



Hiermit eröffnet sich etwas ganz Neues: Denn es scheint gerade nicht darum zu gehen, „sich selbst“, also das, was man bei sich kennt als subjektive, gewöhnliche Gemütsstimmungen oder was durch die Genetik ausgeprägt ist, zu verwirklichen. Die Herausforderung im Yoga und in der Meditation besteht demnach darin, dieses „Selbst“, das man noch nicht kennt, zu erforschen und sich damit objektiv auseinander zu setzen. Mit dem Rückzug auf das Gewohnte und Bekannte oder auf die eigene Genetik würde man sich gerade den neuen Impulsen und inspirativen Gedanken, die einem aus einer forschenden intensiven Auseinandersetzung mit dem Begriff „Selbst“ entgegen kommen würden, verschließen. In dem Maße aber, wie man dieses „Selbst“ kennenlernt, wird man es – wie in beiden Zitaten angeklungen – verwirklichen.
 
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In Bezug auf Yoga und Meditation begegnet man immer wieder dem Ziel der Selbstverwirklichung. Ich formuliere hier einmal meine Beobachtungen, Überlegungen und Gedanken dazu und freue mich über einen regen Austausch.



Wenn ich verschiedentlich nachfrage, was denn mit dem Begriff „Selbstverwirklichung“ genau gemeint sei, so erhalte ich meist folgende Antworten:



„Selbstverwirklichung ist, wenn ich mich selbst verwirkliche. Das heißt, ich mache das, was ich selbst will.“

„Selbstverwirklichung heißt, ich bin ganz ich selbst.“

„Selbstverwirklichung ist, für sich selbst etwas tun.“



Demnach meint man mit „Selbst“ also das eigene Gemüt und die eigenen Wünsche und Sehnsüchte.



Auch in der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstverwirklichung. Hier versteht man darunter im Allgemeinen, dass man seine Talente und Fähigkeiten entsprechend seinen Neigungen im Leben umsetzen lernt.



In der Yoga-Philosophie gibt es schließlich unterschiedliche Begriffe: „atman“, das höchste unsterbliche individuelle Selbst, und „jiva“, das individuelle Selbst bzw. die individuelle Seele, die sich mit dem Körper identifiziert, und das Ziel ist es, „jiva“ zu überwinden und „atman“ zu verwirklichen.



„Atman“ wiederum steht zu „brahman“, dem absoluten universalen Selbst bzw. Weltenselbst, das allem zugrunde liegt und alles umschließt, in Beziehung. Hieraus wird deutlich, dass es sich bei der Verwirklichung des Selbst nicht um eine rein individuelle Angelegenheit handeln kann, sondern diese in einem Zusammenhang mit einem Gesamten steht.



So scheint dieses „Selbst“, von dem im Yoga oder auf dem Meditationsweg gesprochen wird, nicht das gleiche „Selbst“ zu sein, wie es allgemein oder auch psychologisch verstanden wird.



In der Bhagavad Gita sind mehrere Stellen zu finden, wo die göttliche Inkarnation und geistiger Lehrer Krishna zu seinem Schüler Arjuna sagt:



„Richte dein Denken auf mich, sei Mir ergeben, opfere Mir und verneige dich vor Mir. Du wirst zu Mir gelangen; wahrlich Ich gebe dir das Versprechen, denn du bist Mir lieb.“ (Kap. 18,65)



Es wird also von Hinwendung gesprochen, das heißt, man geht von sich selbst weg und wendet sich etwas außerhalb von sich, in diesem Fall Krishna, zu.



Auch im Neuen Testament wird diese Hinwendung bzw. das Sich-selbst-Verlassen sehr deutlich angesprochen:



„Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird‘s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird‘s finden.“ (Mat. 16,24-25)



So könnte man die Formel, die so weit verbreitet ist „Ich tue etwas für mich selbst.“ verwandeln in „Ich tue etwas für das Selbst.“



Hiermit eröffnet sich etwas ganz Neues: Denn es scheint gerade nicht darum zu gehen, „sich selbst“, also das, was man bei sich kennt als subjektive, gewöhnliche Gemütsstimmungen oder was durch die Genetik ausgeprägt ist, zu verwirklichen. Die Herausforderung im Yoga und in der Meditation besteht demnach darin, dieses „Selbst“, das man noch nicht kennt, zu erforschen und sich damit objektiv auseinander zu setzen. Mit dem Rückzug auf das Gewohnte und Bekannte oder auf die eigene Genetik würde man sich gerade den neuen Impulsen und inspirativen Gedanken, die einem aus einer forschenden intensiven Auseinandersetzung mit dem Begriff „Selbst“ entgegen kommen würden, verschließen. In dem Maße aber, wie man dieses „Selbst“ kennenlernt, wird man es – wie in beiden Zitaten angeklungen – verwirklichen.
Hallo Rita,
ist es richtig sich nicht mit dem Körper zu identifizieren um zum wahren Selbst zu gelangen ?
Wie kann man zu seinem wahren Selbst gelangen ohne sich zu identifizieren ?
 
"Selbstverwirklichung" ist DAS Beispiel für einen Begriff, der es nicht geschafft hat, aus dem fachlichen Diskurs in die gesellschaftliche Debatte überführt zu werden, ohne danach vollständig entstellt zu sein.
Der Normalmensch versteht, wenn er "Selbstverwirklichung" hört, die junge Mutter, die ihr Kind mit 6 Monaten für 8 Stunden täglich in die Krippe abschiebt, damit sie Karriere machen kann.
Karl Rogers, der den Begriff geprägt hat, meinte damit aber was völlig anderes - nämlich die Aktualisierungstendenz der Seele (auf Englisch heißt es auch dementsprechend "self-actualization"). Und damit ist nicht anderes gemeint, als die Tendenz der Seele, immer zum Heilwerden zu streben, egal wie kaputt oder beeinträchtigt sie zu sein scheint. Also etwas vollkommen Anderes.
 
In dem Maße aber, wie man dieses „Selbst“ kennenlernt, wird man es – wie in beiden Zitaten angeklungen – verwirklichen.

Nö.

Es ist nicht so einfach, weil es ganz einfach ist.
Erstmal ist jede Mensch in ihrer eigenen Entwicklung und die geht individuell.

Was individuell ist, wird gerne missverstanden.
Es gibt zwei richtige und wichtige Arten der Selbstverwirklichung:
1. Ego-Selbstverwirklichung (jiva)
2. Seelen-Selbstverwirkichung (atman)

Das ist in der Entwicklung des Menschen normal: zuerst die Ego-Selbstverwirklichung, dann die Seelen-Selbstverwirklichung. Geist (ICH-BIN Gegenwart [brahman]) ist immer selbstverwirklicht, der kann nicht anders.

Die Ego-Selbstverwirklichung kommt an ein natürliches Ende, Du musst dafür nix tun, ausser Dein Ego zu verwirklichen. Echt jetzt. Dem Ego wird es irgendwann mal fad und öd und langweilig.

Wer sich – interessanterweise meist aus Ego-Gründen – darum bemüht, sein "wahres Selbst" zu verwirklichen, tappt meist in eine Ego-Falle und bläht sein Ego bis in die scheinbar spirituelle Meisterschaft hinein aus (Ein Beispiel: Sogyal Rinpoche).

Meine Erfahrung ist, dass es sinnvoll ist, MIT dem Ego die Seelen-Selbstverwirklichung umzusetzen.
Es ist nicht vorgesehen "egolos" zu sein, "ohne Ego" ist meist ein Ego-Trip, das Ego versteckt sich hinter der Egolosigkeit und kann so ungehindert Ego-Trips fahren. Nice try.

Wenn Du Dir die Mühe macht, Dein Ego mitzunehmen, Dein Ego in die Seelen-Selbstverwirklichung mit einzubeziehen, dann dauert das natürlich länger, als so eine Yoga-Schnellbleiche mit Retreat im ayurvedischen Ashram ... aber Du stehst satt im Leben, die Füsse auf der Erde, Deine Wurzeln in der Erde, Dein Herz zwischen Himmel und Erde, Deine Flügel startklar und Dein Kopf dient der Seele, dem Geist und reicht bis weit in den Himmel hinein.

Doppelmeisterschaft ist angestrebt: Ego-Meisterin und dann Seelen-Meisterin ohne das Ego zu leugnen.
Das Ego weghaben zu wollen ist ein Irrweg, wahrscheinlich eine Falschübersetzung indischer/buddhistischer/hinduistischer Lehren.
 
Die Ego-Selbstverwirklichung kommt an ein natürliches Ende, Du musst dafür nix tun, ausser Dein Ego zu verwirklichen. Echt jetzt. Dem Ego wird es irgendwann mal fad und öd und langweilig.
Außerdem ist Ego ja nix Anderes, als ein extrem bedürftiger Teil ins uns. Der will halt Liebe und Aufmerksamkeit. Und ja, der muss schon auch mal ausprobieren, ob ihn das, wonach er verlangt, glücklich macht (eh nicht, in der Regel). Und je enger der Seelenkontakt, desto kleiner wird Ego. :)
 
Außerdem ist Ego ja nix Anderes, als ein extrem bedürftiger Teil ins uns.
Der Begriff wurde erstmal von Freud geprägt. Er entspricht in der Psychoanalyse ungefähr dem, was wir heute als "Ich" bezeichnen würden. Also überhaupt nix von "extrem bedürftig" - es sei denn, du hältst dein Ich für extrem bedürftig.

Wie genau aus diesem an und für sich sehr neutralen Begriff dann diese Negativbeurteilung wurde, das ist für sich selbst einen spannende Geschichte. Offenbar "verdanken" wir da so einiges den Esoterikern, die glaubten, sie seien bereits bedeutend weiter
 
CG Jung hat übrigens ausdrücklich davor gewarnt, zu versuchen, das "Selbst" zu verwirklichen im Sinne der absichtsvollen Identifikation damit, wenn man noch keine gefestigte Persönlichkeit ist oder hat. Einfach als Faustregel kann man sagen, dass Personen in der ersten Lebenshälfte im Grunde gar nicht reif genug sind, um das Selbst zu verwirklichen. Damit sind all jene unreifen Personen, die sich bereits in ihren 20ern mit Meditation und dergleichen beschäftigen, im Grunde genommen von Selbstverwirklichung ausgenommen. Das, was sie verwirklichen oder zu verwirklichen versuchen, ist folglich nicht das Selbst, sondern die Vorstellung von Selbst.

Ich hab ja selbst bereits mit 20 Jahren begonnen zu meditieren, und eine ganze Menge in dieser Hinsicht realisiert - und jetzt, in der Lebensmitte, sehe ich, was da alles früher an Lebensinhalten gefehlt hat. Eine ganze Menge, nämlich.

@MingJue hat das ganz klar und deutlich ausgedrückt.
Wer sich – interessanterweise meist aus Ego-Gründen – darum bemüht, sein "wahres Selbst" zu verwirklichen, tappt meist in eine Ego-Falle und bläht sein Ego bis in die scheinbar spirituelle Meisterschaft hinein aus (Ein Beispiel: Sogyal Rinpoche).
Das Faszinierende ist dann auch, dass gerade Realisationen, die z.B. durch Meditation erreicht wurden, den inneren Narzissten ganz gehörig aufblähen können. Ich habe das nicht nur an mir selbst erlebt, sondern erlebe es dauernd in "spirituellen Gruppen". Man braucht den Menschen bloss zuzuhören, was sie so alles erreicht zu haben glauben. Und dann zu schauen, was ihr reales Verhalten ist. Das beste Gegenmittel besteht darin, möglichst viele Arten von Beziehungen auf Augenhöhe einzugehen. All diese lieben Mitmenschen arbeiten dann mit grosser Ausdauer daran, den eigenen aufgeblähten Narzissten wieder auf den Boden der Tatsachen runterzubringen.
 
CG Jung hat übrigens ausdrücklich davor gewarnt, zu versuchen, das "Selbst" zu verwirklichen im Sinne der absichtsvollen Identifikation damit, wenn man noch keine gefestigte Persönlichkeit ist oder hat. Einfach als Faustregel kann man sagen, dass Personen in der ersten Lebenshälfte im Grunde gar nicht reif genug sind, um das Selbst zu verwirklichen. Damit sind all jene unreifen Personen, die sich bereits in ihren 20ern mit Meditation und dergleichen beschäftigen, im Grunde genommen von Selbstverwirklichung ausgenommen. Das, was sie verwirklichen oder zu verwirklichen versuchen, ist folglich nicht das Selbst, sondern die Vorstellung von Selbst.

Ich hab ja selbst bereits mit 20 Jahren begonnen zu meditieren, und eine ganze Menge in dieser Hinsicht realisiert - und jetzt, in der Lebensmitte, sehe ich, was da alles früher an Lebensinhalten gefehlt hat. Eine ganze Menge, nämlich.

Hat Selbstverwirklichung insofern nicht eher mit dem eigenen Schatten zu tun?
So jedenfalls sehe ich das...
 
Hat Selbstverwirklichung insofern nicht eher mit dem eigenen Schatten zu tun?
So jedenfalls sehe ich das...
Ich würde sagen, aus psychologischer Sicht wäre das EINE der zu leistenden Aufgaben.

Aber hier ist eben der Vergleich zwischen östlichen Traditionen und der (westlich geprägten) Psychoanalyse schwierig. In den östlichen Traditionen existieren Ideen wie "der Schatten" oder "das Unbewusste" gar nicht wirklich. Wir können zwar versuchen, gewisse Konzepte miteinander in Einklang zu bringen, aber einen völligen Match kriegen wir nicht hin.
 
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Ich würde sagen, aus psychologischer Sicht wäre das EINE der zu leistenden Aufgaben.

Aber hier ist eben der Vergleich zwischen östlichen Traditionen und der (westlich geprägten) Psychoanalyse schwierig. In den östlichen Traditionen existieren Ideen wie "der Schatten" oder "das Unbewusste" gar nicht wirklich. Wir können zwar versuchen, gewisse Konzepte miteinander in Einklang zu bringen, aber einen völligen Match kriegen wir nicht hin.

Das ist ja auch die Schwierigkeit mit den Konzepten, aber auch mit den Gegenkonzepten, wenn man sich ihnen zu sehr hingibt. Man verlernt, auf sich selbst zu hören.

Ich spreche daher eigentlich lieber von Selbstfindung.
 
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