Das spirituelle Selbst
Schon für C.G. Jung ist das Selbst mehr als das Ergebnis unserer Lebensgeschichte. Wer wir in Wirklichkeit sind, das entdecken wir erst, wenn wir unsere vielen Identifikationen aufheben. Wir identifizieren uns oft mit den Meinungen unserer Eltern, wir definieren uns über Erfolg und Leistung, über Anerkennung und Bestätigung, über Zuwendung und Beziehungen. Solange wir uns mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen, mit unserer Krankheit oder Gesundheit identifizieren, sind wir davon abhängig und werden blind für die eigentliche Wirklichkeit des wahren Selbst. Wir müssen die Identifikation mit Menschen, mit Rollen, mit unserer Arbeit und Leistung aufgeben, um zu entdecken, wer wir eigentlich sind. Wir müssen uns disidentifizieren, um unser spirituelles Selbst zu finden.
Die transpersonale Psychologie hat die Disidentifikation entwickelt. Ich beobachte meine Gedanken, Gefühle, Leidenschaften und sage mir dann vor: Ich spüre meinen Ärger, ich beobachte ihn. Aber ich bin nicht mit meinem Ärger identisch. Ich bin nicht mein Ärger. In mir ist ein Punkt, der den Ärger beobachten kann, der selbst nicht mehr vom Ärger bestimmt wird. Es ist der unbeobachtete Zeuge, das wahre Selbst.
Roberto Assagioli, ein italienischer Psychiater, hat diese Disidentifikationsübung entwickelt. Zuerst soll man seinen Körper spüren und sich dann bewusst machen, dass er wandelbar ist. Vom Körper soll man dann zum spirituellen Selbst zurückgehen, zum Zentrum reinen Bewusstseins, das den veränderlichen Körper beobachtet und selbst konstant und unveränderlich bleibt. Das macht unsere wahre Identität aus. Dieses spirituelle Selbst nennt Assagioli auch ein Zentrum reiner Selbst-Bewusstheit und Selbst-Verwirklichung.
Wir sind also mehr als das Ich, das sich behaupten möchte, das sicher und selbstbewusst auf tritt. Das spirituelle Selbst ist die innere Heimat, in der wir ganz bei uns sind, in der wir entdecken, dass unser wahres Selbst von Gott geformt worden ist. ES ist das einmalige und unverwechselbare Bild, das Gott sich von uns gemacht hat. ES geht also nicht darum, nur selbstsicher und bewusst aufzutreten. Wir sind mehr als das, was wir nach außen hin leben, ob wir da sicher oder unsicher sind, ob wir da stark oder schwach erscheinen. Daher ist es unsere Aufgabe, die eigene Selbsteinschätzung loszulassen. Es ist nicht wichtig, wie ich mich selbst einschätze, ob ich mich als besser oder stärker beurteile als die anderen. Ich entdecke mein Selbst nicht, indem ich die Wunden meiner Kindheit betrachte und meine Ängste analysiere, die von meinem mangelnden Selbstvertrauen herrühren. Entscheidend ist, , das ich das Geheimnis meines wahren Selbst entdecke. Für den transpersonalen Psychologen Bugental liegt unser Problem darin, dass wir unser Selbst im außen suchen, in äußerer Bestätigung, in äußeren Erfolgen, in äußerer Sicherheit. Wir können es aber nur innen finden, in der inneren Welt unserer Seele, in unserer wahren Heimat: Unsere Heimat liegt innen. Und dort sind wir souverän. Solange wir diese uralte Wahrheit nicht neu entdecken, und zwar jeder für sich und auf seine Weise, sind wir dazu verdammt umherzuirren und Trost dort zu suchen, wo es keinen gibt in der Außenwelt. Es ist also zu wenig, nach außen hin ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln, gut aufzutreten, Kritik wegzustecken und mit Widerständen gut umzugehen. Dann erscheinen wir zwar nach außen selbstsicher und selbstbewusst. Aber unser wahres Selbst haben wir nicht entdeckt. So ist dieses Selbstbewusstsein auf Sand gebaut. Wir sind nicht wirklich in Berührung mit unserem wahren Selbst.
Mein wahres Selbst ist mehr als das Ergebnis meiner Lebensgeschichtee, mehr als das Ergebnis meiner Erziehung und meiner Arbeit an mir selbst. Es ist etwas Gottunmittelbares, ein Geheimnis, weil Gott selbst sich darin auf einmalige Weise ausdrückt. Es ist das ursprüngliche Bild, das Gott sich von mir gemacht hat. Es ist das einzigartige Wort Gottes, das in mir Fleisch wer den will. ES ist das Urwort Gottes, von dem Romano Guardini sagt, dass es einzig und allein diesen einen Menschen meint. Das Wort das durch uns vernehmbar werden soll in der Welt. Das spirituelle Selbst ist dieses einmalige und unverwechselbare Wort Gottes, das in mir sichtbar und hörbar werden möchte.
Es gibt viele Bilder für das Selbstwertgefühl, Bilder wie sie die verschiedenen Psychologen entworfen haben, wir könnten aber auch die Bilder anschauen, wie sie die Bibel für ein gesundes Selbstwertgefühl wählt. Da ist das Bild des Baumes, der aus dem kleinen unscheinbaren Senfkorn entsteht (Mt 13,31f). Der Baum ragt hoch empor, er treibt seine Wurzeln tief in die Erde hinein. Er ist das Bild für einen Menschen, der zu sich steht, der sich nicht so leicht umwerfen lässt. Er ist fest gegründet in Gott. Nun kann sich jemand an ihn anlehnen, in seinem Schatten Schutz suchen und Heimat. Da ist das Bild vom Schatz im Acker (Mt 13,44f) Der kostbare Schatz steht für unser Selbst. Er ist mitten im Acker, mitten im Dreck. Wir müssen die Erde aufgraben, um unser wahres Selbst zu finden. Da ist das Bild von der kostbaren Perle (Mt 13,45f) Die Perle wächst in der Wunde der Auster. Mitten in unseren Wunden können wir unser Selbst finden, das Bild das Gott sich von uns gemacht hat. Die Wunde zerbricht all die Bilder, die wir uns übergestülpt haben und mit denen wir unser wahres Selbst verdecken.
Mit diesen Bildern will uns die Bibel zeigen, wer wir eigentlich sind, dass unser Selbst ein Geheimnis ist, in dem Gott selbst sich zeigt, in dem wir Anteil haben an Gott. Und sie will uns zeigen, dass wir mehr sind als unsere Lebensgeschichte und die Vergangenheit, die uns geprägt hat. Das wird etwas im Bild des Baumstamms, aus dem ein Reis hervorwächst. Aus dem Abgehauenen, Abgerissenen, Verwundeten, Gescheiterten wächst ein neues Reis hervor. Das Selbst ist nicht etwas, das wir festhalten können. Es wird gerade dann sichtbar, wenn etwas in unserem Leben abgehauen oder abgeschnitten wird. Das ist die tröstliche Botschaft der Bibel, dass dieses Selbst aus den Scherben unseres Lebens neu erstehen kann, dass es gerade dort, wo alles unfruchtbar erscheint, aufblüht und für andere zum Segen wird (vgl. Jes11,1). Das ist ein tröstliches Bild, das unser Selbst nicht mit äußerem Erfolg und äußere Sicherheit verwechselt, sondern mitten im Scheitern, mitten in den Verletzungen und Verwundungen ein von Gott geformtes Selbst entdeckt, das jede äußere Verwüstung und Zerstörung übersteht, weil es aus Gottes Hand kommt.
(Aus: Anselm Grün Mit dem Leben in Berührung kommen)