Auszug aus meinem Roman "Kismet"
der zum Teil in Indien
zum Teil auf der Arabischen Halbinsel spielt
Ich war im Februar 2002 in Indien:
Die Zeit wollte nicht vergehen. Stella saß seit vier Stunden in einem der vielen Kunstledersessel am Flughafen von Delhi und war müde. Sie versuchte zu schlafen, aber vergeblich, dafür sorgten allein schon die indischen Videoclips, die auf dem Bildschirm liefen. Sängerinnen mit unnatürlich hohen Stimmen gaben ihr Bestes, um sie wach zu halten.
Eine Stunde später kamen zwei Frauen und setzten sich Stella gegenüber hin. Es müssen Tibeterinnen sein, überlegte sie und betrachtete die beiden interessiert. Die eine war Mitte Dreißig, die andere musste uralt sein und sah aus wie eine greise Indianerin. Sie trug tibetische Kleider und hatte einen Haarzopf, der ihr bis zur Taille reichte.
Fliegt ihr auch nach Patna?, fragte Stella.
Ja, antwortete die Jüngere der beiden.
Sie hatte hohe Wangenknochen und auffallend milde Augen, die Stella offen anschauten. Ihre langen, schwarzen Haare trug sie hinten zusammengebunden. Willst du auch nach Bodh Gaya?
Ja, Stella nickte. Endlich habe ich jemanden gefunden, der auch dorthin fliegt. Ich heiße Stella.
Stella?, Die junge Frau lächelte. Und ich Angmo. Das ist meine Mutter, sie heißt Pasangma, spricht aber kein Englisch.
Angmos Mutter blickte Stella aufmerksam an, aus Augen, die wie Schlitze aussahen. Sie nickte ihr freundlich zu.
Seid ihr Tibeter?
Ja, antwortete Angmo, und von wo kommst du?
Aus Portugal.
Portugal? Sie hob fragend die Brauen, wo ist Portugal?
In Europa, neben Spanien.
Ah ja, sie nickte.
Und von wo kommt ihr?
Aus Ladakh.
Ladakh? Stella musste lächeln, denn auch sie hatte keine Ahnung, wo Ladakh war. Bewusst hatte sie diesen Namen jedenfalls noch nie gehört.
Das sind Welten, dachte sie, Welten, die uns trennen.
Jetzt muss ich fragen, wo Ladakh ist?
Oben in den Himalajas, gehört aber zu Indien.
Dann ist es bei euch sicherlich sehr kalt.
Bei uns liegt jetzt Schnee.
Wir können uns die Fahrt mit dem Taxi von Patna nach Bodh Gaya vielleicht teilen, meinte Stella.
Genau das gleiche wollte ich dir auch vorschlagen, wir sparen so zweitausend Rupien.
Sie stand auf und sagte, sie wolle Tee kaufen.
Ich komme mit.
Angmo sprach mit ihrer Mutter und folgte dann Stella zum Coffee-Shop.
Bist du alleine gekommen, Stella?
Ich kam allein, war aber heute morgen hier in Delhi mit einem jungen Mann verabredet. Doch dann verpasste ich die Maschine in Bombay und somit auch den jungen Mann.
Sie warteten auf den Tee, Angmo betrachtete Stella nachdenklich.
Das ist Karma, meinte sie schließlich, es sollte nicht sein. Ich sehe eine große Traurigkeit in deinen Augen, aber sie wird nur von kurzer Dauer sein...
Der Tee war in Plastikbecher gefüllt, aber er schmeckte besser, als jeder Tee aus Europa.
Sie schlenderten zurück zu Angmos Mutter und nahmen ihr einen Becher mit. Im Hintergrund liefen immer noch die indischen Videoclips. Stella schaute auf die Uhr, noch eine Stunde bis zum Abflug, dachte sie.
Was meintest du eben mit der Traurigkeit?
Ich sage manchmal Dinge und weiß selbst nicht, warum. Du solltest in Bodh Gaya zum Lama Ling Rinpochet gehen, damit er dich segnet und dir hilft, dich von Deinem alten Karma zu befreien.
Ling Rinpochet?
Ling Rinpochet. Angmo nickte ernst. Der ehrwürdige Lama kommt aus einem Kloster oben von Ladakh und ist wegen der Kalachakra Initiation in Bodh Gaya. Ich kann dich zu ihm bringen, wenn du es wünschst, denn ich kenne ihn persönlich.
Danke, Angmo, das ist sehr freundlich von dir.
Die Wartehalle füllte sich langsam. Mehr und mehr Passagiere für Patna trafen ein.
Du sprichst sehr gut Englisch.
Ich arbeite als Sekretärin bei Air India.
In Ladakh?
In Leh, das ist die Hauptstadt von Ladakh.
Als die Maschine nach Patna startete, war sie bis auf den letzten Platz besetzt.
Schon wieder Abendessen, dachte Stella, während sie das scharf gewürzte Linsengericht aß. Da fiel ihr ein, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
Am Flughafen in Patna wartete beim Gepäckband ein Schwarm Taxifahrer.
Nach Bodh Gaya? - Heute fahren wir nicht mehr. Darin waren sich alle Fahrer einig, die Straßen seien nachts nicht sicher. Morgen früh um fünf, hieß es, können wir losfahren und sind dann gegen neun Uhr in Bodh Gaya.
Sie bekamen einen Raum zum Übernachten zugewiesen, direkt im Flughafengebäude. Stella fiel müde ins Bett und schlief augenblicklich ein.
Um fünf Uhr morgens wurde Stella durch lautes Klopfen wach. Anfangs wusste sie nicht, wo sie war, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie verlassen wurde und in Indien weilte. Auf der Suche nach Buddhas Licht. Einer Reise, die lange dauern sollte.
Sie starteten noch bei Dunkelheit. Das Taxi war ein uralter Mercedes, aber in gepflegtem Zustand. Die Fahrt nach Bodh Gaya sollte drei Stunden dauern.
Langsam tauchten die Felder aus dem Dunkel auf, hin und wieder eine Palme. Es wurde heller. Über der weiten Ebene schwebte Morgendunst. Rechts von ihnen ging am Horizont die Sonne auf, Indien erwachte zu einem neuen Tag.
Oh Indien, wie bist du schön, dachte Stella.
Es war bereits Montag, das Gefühl gespannter Erwartung nahm zu. Ja, sie war in Indien! Kleine Dörfer zogen vorüber und der Fahrer fuhr laut hupend an Hühnern, Hunden, Ziegen und heiligen Kühen vorbei. Heilige Kühe - natürlich. Die Menschen in den Dörfern bereiteten schon emsig ihre Marktstände vor.
Der Fahrer hieß Maksoud. Ein dunkelhäutiger Typ, mit einem imposant gezwirbelten Schnurrbart. Auf seinem Kopf thronte ein weißer Turban.
Zweimal begegnete ihnen die Eisenbahn. Die Menschen hingen wie Trauben aus den Fenstern der überfüllten Eisenwaggons. Angmo erklärte, dies sei die Strecke zwischen Kalkutta und Delhi.
Dann fuhren sie durch ein kleines Städtchen, Maksoud nannte den Namen: Gaya.
Die Fahrt ging weiter an palmenumsäumten Feldern vorbei. Nach einer halben Stunde erreichten sie endlich Bodh Gaya.
Karuna