Der
M., 85, ist sooo eklig - das jedenfalls meinte meine Kollegin.
Wieso denn?
Na der hat doch immer seine Frau geschlagen, wenn sie nicht wollte..., na du weißt schon...,
das hat mir der Sohn erzählt, der seinen Vater hasst und deshalb nur so selten zu Besuch kommt.
Aha.
Was geschieht hier?
Frauensolidarität... ?
Ich schalte meine diesbezüglichen Gefühle aus und das Schulwissen ein.
Ich schaue,
WAS IST.
Und darauf habe ich zu reagieren.
M. ist zu mir sehr liebenswürdig.
Er arbeitet gut mit, ist motivierbar.
Bei den Kolleginnen nicht, weil diese ihn spüren lassen, dass sie ihn absolut ablehnen als Menschen.
Er ist darüber verwundert, schüttet mir sein Herz aus.
Was die wohl gegen mich haben? Ich weiß ja, dass ich Ihnen viel Arbeit mache...
Er fühlt sich sichtlich unbehaglich und ist froh, dass er mit mir reden kann und
ich ihm verspreche, das für mich zu behalten.
Anfangs bin ich irritiert und zweifle an mir.
Naja, Berufsanfängerunsicherheiten.
Selbstvertrauen wohl im Urlaub, da ich mich,
WIE M.(!) allein auf weiter Flur fühle.
Ich beschließe, nach Schulwissen zu handeln und weiterhin in
M. die Person zu sehen, der ich Hilfe schulde.
Er ist mein Schutzbefohlener. Das ist offiziell und da lasse ich nicht mit mir reden.
Das ist mein Beruf, dafür bezahlt er Geld.
Was geht mich an, was früher war?
Ich nehme
M. so an, wie er sich
JETZT verhält.
Und zu mir ist er korrekt.
Nach einigen Tagen Heimaufenthaltes bemerke ich, wie er beim Medikamenteneinnehmen
aus diesen winzigen Plastikbecherchen immer so zufasst, dass seine Hand meine Finger berühren.
Ist das Absicht?
Darf ich das zulassen?
Wo oder was fängt da an bzw. wo soll das, was ich nicht benennen kann oder unbewusst nicht können will, enden?
Niemand da, mit dem ich mich beraten kann.
Ich lasse ihn weiter gewähren.
Nach noch einigen Tagen greift
M. beim Tablettenüberreichen nach meiner ganzen Hand.
Ich bin kurz davor, zurückzuzucken.
Aber ich besinne mich und beherrsche die Situation.
Er sucht Berührung.
Er ist einsam und hat so große Angst.
Das Heimleben ist eben nicht, wie zu Hause.
Er ist nicht mehr der Boss.
Die Rollen sind neu und anders.
Er begreift, dass seine Frau nicht zu Besuch kommen will.
Ihn packte der Katzenjammer.
Steht es mir zu, zu verurteilen?
Weiß ich, was er alles erlebt hat und woraus seine Verhaltensweise resultieren?
Ich drücke seine Hand zurück.
Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich einem Leidenden kurz die Hand halte.
Er strahlt und fühlt sich besser.
Wir sind uns nun einig, wo die Grenzen sind, sowohl was das Berühren betrifft als auch die Zeit,
die ich ihm dienstlich widmen darf, da ja auch noch andere Menschen auf mich warten.
Da er von mir "geliebt" werden will, gibt er sich größte Mühe, die Grundpflege neuerdings allein hinzubekommen,
damit noch Zeit bleibt, wo wir einfach nur unsere Hände berühren und er mir seine Sorgen erzählen kann.
Dieses Um-Liebe-Betteln lässt ihn in einem kindlichen Geist erscheinen.
Nein, das ist nichts Sexuelles.
Ein wenig bin ich erstaunt, wie schwer es doch sein kann,
jemanden zu versorgen, der nicht meinem Geschlecht angehört.
Bei KEINER Frau, die ich versorge, mache ich mir je Gedanken,
ob es sexuell ankommen könnte, wenn ich ihre Hand halte!
Wie wenig wurde uns letztendlich doch in der Ausbildung gelehrt.
Ich strample mich nun allein durch.
Kurze Zeit später stürzt
M. im Zimmer. Der Rollator ist ihm weggerollt,
als sein Parkinson ihm die Kontrolle über die Muskeln versagte.
Er hat schlimme Schmerzen.
Der Arzt findet nichts. Sicherlich nur Prellungen.
Mit Salbe einreiben, kühlen.
Die Kolleginnen sprechen vom eingebildeten Kranken und meinen,
M. wolle nur Liebe erbetteln, aber da wäre er bei ihnen an der falschen Adresse.
M. schreit beim kleinsten Lagerungsversuch. Er vegetiert drei Tage im Sessel herum.
Auf mein Drängen kommt der Arzt noch einmal raus zu uns und schreibt endlich eine Überweisung zum Röntgen.
Er hat ja nichts tasten können!
Im Krankenhaus kann man auch beim Röntgen nichts finden.
Wieder zurück im Heim, leidet
M. weiter.
Die Schmerzmedikation dröhnt ihn zu, aber wenigstens kann er jetzt schlafen.
Er bekommt Fieber.
Als ich ihm die Stirn kühle, spüre ich, dass er nicht mehr lange hier weilen wird.
Schüttelfrost.
Er wispert: "Ich will nicht mehr..."
Nun doch die Krankenhauseinweisung.
Nach nochmaligem Röntgen wird eine Beckenringfraktur erkannt.
Ein Haarriss, der nicht erkannt wurde!
Zwei Tage später ist
M. im Krankenhaus in fremder Umgebung einsam verstorben.
Ich kann über seinen Tod nicht erschüttert sein.
Erschüttert war ich über das Verhalten meiner Kolleginnen.
Anmaßung.
Übertragung.
Eigene Verletzungen von Männern wurden hier am Patienten ausgelassen!
Innerlich kündige ich.
Dieses Team ist nicht meins.
Einen Monat später war ich dort weg.
Heute habe ich mich daran erinnert und musste es aufschreiben.
Danke, M. - ich habe sehr viel in sehr kurzer Zeit an dir über mich
und meinen Beruf lernen dürfen!
Heute bin ich so weit, dass ich eine Kerze für dich aufstelle.
Und ich reiche dir die Hand.
Im nächsten Leben bist du sicher einfühlsamer zu deiner Frau. Versprochen?
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Trixi Maus, wo bist du?
Du fehlst mir, Bruder!