Der "Prozeß"-Roman ist der alptraumhafteste Roman und die extremste negative Utopie, die ich jemals gelesen habe. Hier besteht die Welt nur noch aus Erfassten und Erfassern. Der Hammer kann jederzeit zuschlagen und aus dem Erfassten wird ein Angeklagter. Die alptraumartige Atmosphäre stellt Kafka durch einem genialen "Trick" her. Hauptfigur ist ein "K.", der eines morgens verhaftet wird und im Laufe der Handlung nach und nach erkennt, daß alle Figuren um ihn herum, alle Figuren seiner vermeintlich heilen Lebenswelt mit zur Prozeßwelt gehören. Selbst sein Verteidiger, der ihm dann an einer entscheidenden Stelle im Roman sagt:
Klingt wie eine späte und zynische Antwort auf den ersten und berühmten Satz des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags ("Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.")
K. erkennt im Laufe des Romans auch immer deutlicher, daß die Prozeß- und die Lebenswelt ineinander übergehen und zu einer Einheit verschmelzen. Die erfassende Gerichtswelt ist überall, auch dort, wo er (und mit ihm der Leser) es nicht vermuten:
Solche Schocks sind zahlreich, daraus bezieht der Roman seine absurde und zugleich alptraumhafte Atmosphäre. K., der von Beruf Bankangestellter ist, öffnet eine Tür im Bankgebäude und sofort ist er mitten in der Prozeßwelt, wo Bedienstete des Gerichtsapparats wegen Fehlverhalten abgestraft werden (das berühmte Prügler-Kapitel). Es gibt aus dieser Welt kein Entrinnen, es gibt kein Draußen.
Charakteristischerweise läßt Kafka nirgendwo im Roman eine Ahnung aufkommen, warum K. eigentlich angeklagt ist, wessen er schuldig ist. Das gehört mit zur Romanaussage.
Als Sigmar Gabriel gestern bei Anne Will von einer "Auflösung der Wertsphäre" sprach, hat mich das sofort an den Prozeß-Roman erinnert. Im vorletzten Kapitel, dem Domkapitel, trifft der gehetzte K., schon fast am Ende seiner Kraft, auf einen Geistlichen, der ihm die berühmte "Türhüter"-Parabel erzählt, die Kafka aus dem Prozeß-Roman auskoppelte und gesondert publizierte. Erwartungsgemäß gehört dieser Geistliche auch zum Apparat und die Botschaft, die er erteilt, ist diese:
In vielen Belangen erinnert mich dieser K. an Snowden. Da ist zunächst, ganz am Anfang des Romans, der Glaube an die Rechtsstaalichkeit:
Dann nimmt K. den Kampf auf, hält vor dem Gericht aufklärerische Reden, schließlich sucht er Zuflucht bei allen möglichen Instanzen und Gestalten, die aber alle nur Funktionäre des Erfassungsapparates sind, wie sich herausstellt. Und schließlich gibts noch den entscheidenden Diskurs mit dem Geistlichen im Domkapitel, bevor er resigniert.
Snowden 2.0 reloaded
Bleibt nur zu hoffen, daß Snowden nicht das Schicksal von K. im letzten Kapitel teilt.