Die Frau wurde dieser Vorstellung nach für die Liebe des Mannes geschaffen, um dann durch diese Liebe Söhne (Töchter) zu zeugen. Doch darf dies nicht so verstanden werden, als ob Hildegard jede Form der Geschlechtlichkeit in der Ehe bzw. generell gut hieße. Hildegard hat eine klare Forderung an einen legitimen Geschlechtsakt. So wie die menschliche Natur lehrt, soll der Mann in der Kraft seiner Glut und mit dem Lebenssaft seines Samens seiner Gattin gegenüber den rechten Weg suchen, in Selbstbeherrschung und aus dem Verlangen nach Nachkommenschaft. Auch wenn es sich um ein Zitat aus Hildegards Buch "Scivias" (Wisse die Wege des Herrn.) handelt, beruft sich Hildegard auf die menschliche Natur. Für Hildegard gibt es zusammengefasst vier Kriterien, die den Geschlechtsakt als Gott gefällig legitimieren.
- Erstens muss der Akt in der Ehe stattfinden.
- Zweitens ist gegenseitige Liebe vorauszusetzen.
- Drittens soll der Willen zur Kindeszeugung und nicht der Wunsch zur Lust die Absicht des Vollzugs beherrschen.
- Das vierte Kriterium umfasst eher die Art und Weise des Geschlechtsaktes. Dieser soll nämlich in ehrenhafter Selbstbeherrschung vollzogen werden.
Nun stellt sich immer noch die Frage, wie genau sich hier die Lust einfügen soll. Ist die Frage nach der Sünde in diesem Kontext eine Frage nach der Lust? Noch einmal im Rückblick auf die vier Kriterien für den legitimierten Geschlechtsakt, kann die Frage um die Lust lediglich innerhalb dieser vier Kriterien diskutiert werden, denn Geschlechtlichkeit außerhalb dieser vier Kriterien ist als nicht gottgewollt und sündhaft abzulehnen, und muss daher in die Betrachtungen nicht einbezogen werden.
Im Einklang mit dem momentanen Forschungsstand ist davon auszugehen, dass Hildegard die Lust positiv bewertet, solange sie innerhalb einer rechten Vereinigung von Mann und Frau zustandekommt. Trotz allem bleibt bei der Lust eine immer drohende Gefahr. Die Lust ist es, die dem Teufel als Einfluss auf den Menschen dient und hinter welcher dieser ständig lauert. Hildegard war der Meinung, der Mensch hat etwas an sich, das die alte Schlange immer verfolgt. Was ist das? Die Begierde des Fleisches, welcher der boshafte Feind im Hintergrund liegend auflauert.
Was sagte Hildegard von Bingen zur Enthaltsamkeit und zum Zölibat?
Auch Hildegard lebte natürlich als Ordensfrau in sexueller Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit. Wie bei den Ausführungen über die Ehe schon angedeutet, ordnete Hildegard die Laien, und somit auch die Eheleute, dem Rang der Priester nach. An dieser Stelle soll nun noch etwas genauer betrachtet werden, wie Hildegard die Ehe im Hinblick auf das Zölibat, die sexuelle Enthaltsamkeit und in einem weiteren Schritt auch die konkrete Nachfolge Jesu einordnet und bewertet.
Doch weiter soll das Augenmerk nun auf die Frage des Stellenwertes der Enthaltsamkeit liegen. Hildegard beruft sich in der "Scivias" auf den Menschensohn, der in einer Vision selbst spricht. Dieser vergleicht sich selbst mit einer Blume des Feldes. Denn er sei ohne eine Vereinigung mit einem Mann aus einer Jungfrau geboren. Der Mensch aber wurde in den Sünden der
Verderbnis geboren. Weiterhin sagt der Menschensohn: Ich verleihe dir, angesichts meines Vaters in Jungfräulichkeit mit mir Gemeinschaft zu haben.
Da Hildegard, wie schon erwähnt, die Ehe in den Ständen der Kirche nicht an oberster Stelle stehen hat, bleibt nun die Frage nach dem Anspruch an die Priester. Das beinhaltet auch die Frage einer möglichen Jesusnachfolge. Hildegards Ansprüche an einen Priester überträgt sie aus alttestamentlichen Reinheits- und Kultvorstellungen auf die Priester ihrer Zeit. Sie postulierte ein reines Priestertum. Da er (Christus) in unversehrter jungfräulicher Keuschheit Fleisch annahm, deshalb müssen auch die keusch sein, welche ihm dienen möchten. Den fleischlichen Begierden in den Werken der Zeugung von Kindern ist er (der Priester) nämlich entzogen und kann deshalb so nüchtern und unbefleckt jenes Brot darbringen, das zum Heil der Menschen auf den Altar gelegt wird. Hildegard geht es hier also um die kultische Reinheit, das Werk des Priesters soll unbefleckt bleiben. An anderer Stelle wird dies noch deutlicher. Da ist von den reinen Herzen und Händen die Rede. Diese bringen das heilige Opfer auf den geweihten Altar. Der Begriff der reinen Hände steht für die geschlechtliche Enthaltsamkeit. Hildegard fordert also, und zwar durch die Autorität Gottes, welche sie ja in den Visionen in Anspruch nimmt, dass die Priester rein sein müssen.