Selbst-Missbrauch

Soeben ist mir noch der Faust in den Sinn gekommen. Der sagt an einer Stelle über sich selbst:
"[...] Heisse Magister, heisse Doktor gar,
und ziehe schon an die zeh'en Jahr
herauf, herab und quer und krumm,
meine Schüler an der Nase herum -
Und sehe, dass wir nichts wissen können [...]
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
die Menschen zu bessern und zu bekehren."

Ungefähr so ging's (zum Glück gibt's Lehrer in der Schule, die einem das Theaterspielen beibringen...).
Das ist es, was ich sagen wollte. Genau das. Faust ist völlig desillusioniert (bevor er dann grad auf einen komplett schwachsinnigen Handel mit Mephisto einsteigt). Man stelle sich einen buddhistischen Lehrer, oder auch einen christlichen Pfarrer vor, der vor seiner Gemeinde sitzt und ihnen erklärt, dass er überhaupt nichts mehr zu sagen wisse und alles bisherige blosser Irrtum gewesen sei. Das wäre wenigstens ehrlich. Aber anscheinend wünscht diese Ehrlichkeit niemand, weder die Gemeinde, noch der Lehrer oder der Pfarrer. Lieber belässt man es beim Staus Quo, erfindet neue Medtationstechniken und wärmt tausend Jahre alte Geschichten immer wieder aufs Neue auf. Als ob das tägliche Leben nicht schon genügend Zündstoff zu bieten hätte.

So. Genug geschwatzt für heute. Wünsche auf jeden Fall ein schönes WE.
 
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Es gibt neben dem Machbarkeitsdenken eine noch tieferliegendere Selbsttäuschung (eigentlich sollte man "Lüge" sagen, das käme der Wahrheit näher). Es ist die Selbstverwirklichung.
Selbstverwiklichung ist die Idee, dass ich mich in meinem Leben verwirkliche, mit andern Worten, dass ich im Laufe des Lebens etwas zustande bringe, worauf ich im Moment meines Todes zurückblicken kann und sagen kann: Das ist mein, ich habe es erschaffen und mit mir wird es untergehen. Mein Leben lang habe ich etwas darauf hingearbeitet, jetzt weiss ich etwas, was ich zuvor, z.B. als Jugendlicher, noch nicht gewusst oder gehabt habe.

Der Inhalte sind meist vielerlei:

1. Erfolg im Beruf und im sozialen Umfeld. Der typische Self-made-man à la Bill Gates. Wirklich erstaunlich, seine Leistung, nicht? Wahrscheinlich ist es nicht einmal wirklich das soziale Ansehen und all das Geld, dass für Herrn Gates den innern Antrieb darstellt, das wäre zu einfach gesagt. Wahrscheinlich ist es das Gefühl, etwas erschaffen zu haben, ähnlich einem Künstler, das Gefühl ein Schöpfer zu sein von etwas Lebendigem, etwas das lebt und sich entwickelt, wie man etwa "seinen" Konzern Microsoft betrachten könnte. Es muss eine gewisse Genugtuung dabei sein zu sehen, wie sich das eigene Streben verselbstständigt hat und seinerseits wieder schöpferisch tätig ist.
Bloss: Wozu überhaupt die Genugtuung? Was bedeutet es denn für einen Menschen, Genugtuung zu haben? Sich bestätigt zu sehen? Ist der Mensch nicht unendlich viel mehr als das blasse Gefühl von Genugtuung? Warum sollte er sich freiwillig darauf beschränken, im Leben diese Art von Genugtuung erhalten zu wollen? Dafür aber scheint Herr Gates sein ganzes Leben geopfert zu haben. All sein Streben und sein Tun scheint hierauf ausgerichtet zu sein. Ob er wohl selbst die unendliche Hohlheit und Leere dahinter überhaupt wahrnimmt?

2. Familie und Freunde. Eine schöne Frau zu haben gehört für viele Männer zur Selbstverwirklichung dazu. Wenn der Mann selbst überdies bei den Damen i.a. nicht geringe Chancen hat, dann läuft er grösste Gefahr, sich in diesem Spiel völlig zu verlieren.
Die häusliche Variante gibt's auch. Trautes Eigenheim, zwei Kinder in der Garage und einen Audi im Kinderzimmer. Hier spiegelt sich jemand falsche Sicherheit vor. Sicherheit, vor plötzlichen Schicksalsschlägen gefeit zu sein, die Illusion, das Chaos könne nicht jederzeit über einen herbrechen. Dabei bestehen unüberbrückbare Abgründe im Innersten der Atome des Körpers, Abgründe, die so abgrundtief sind, dass sie buchstäblich jede Illusion von Sicherheit im Leben im Nu platzen lassen können.

3. Die spirituelle Selbstverwirklichung. Diese Selbstverwirklichung geniesst einen Sonderstatus in der Hinsicht, als dass sie besonders perfide daherkommt. Zu meiner Scham muss ich eingestehen, dass ich ihr für längere Zeit aufgesessen bin.
Was sie verspricht ist, dich von deinem Selbst zu heilen an dem du krankst. Sie verspricht dir, dich einen Gott finden zu lassen, der in dir vorhanden ist und aus dem alles gemacht ist. Sie verspricht dir, sie sei der weisere Weg als die andern beiden oder viele andere weitere, sei die klügere Wahl.
Die spirituelle Suche hat viele Gesichter und kennt viele verschiedene Färbungen, es ist schwierig, die unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Nur so viel: Sie bringt dich nirgendwo hin. Sie hat nicht die Kraft, deinem Leben einen Sinn zu vergeben. Und du wirst am Ende des Lebens nicht Gott sehen oder mit ihm eins sein, (auch) wenn du dich schon vorher um ihn bemüht hast. "Nein, mein Leben ist nicht die Antwort, und würde ich auch alles dafür versuchen und in Bewegung setzen!" Es ist nicht so, dass ich am Schluss etwas grundsätzliches erkennen werde.

Lese ich die Bücher von Paulo Coelho, so muss ich sagen, dass er leider einem grundlegenden Irrtum unterliegt.
Zwar vermögen seine Bücher Hoffnung zu stiften, sie vermögen die eingeschlafene Seele in einem wachzurütteln, das will ich gar nicht bestreiten und darin haben sie auch einen gewissen Wert. Aber alles was er schreibt und aussagt, unterliegt demselben Irrtum wie auch Wilber. Dass da eine Entwicklung stattfinde von A nach O, dass diese Entwicklung zur Wahrheit hinführe und dass sich der Mensch hierin selbst verwirkliche. Wer das glaubt, betrügt sich selbst. "Das Leben selbst und alles, was dazugehört, ist eine bloße Fassade." Alles meint alles. Alles schliesst auch die Hoffnung ein, da könne mehr sein als blosse Fassade. Coelho erschafft aber gerade diese Hoffnung, er bestärkt sie.

Damit bietet er denen eine Stütze, die diese Hoffnung dringend benötigen, und es gibt viele Menschen, die es dringend benötigen würden, würde ihre Seele mal wieder so richtig wachgerüttelt.
All den andern tut er hingegen keinen Freundschaftsdienst mit seinen Büchern. Alles was er bekräftigt sind düstere Gespenster, hohle Illusionen die aber im Schein der Gestirne umso kräftiger funkeln und glitzern und dem Menschen das Gefühl vermitteln, etwas Wertvolles werde hier geschenkt. Es ist Katzengold und damit der Mühe nicht wert.

Ich will mich bei all dem oben beschriebenen gar nicht ausschliessen. Ich gehe durch dieselben Fehler und Irrungen. Gerade weil ich sie mit mir herumschleppe, bin ich befähigt, darüber etwas auszusagen. Ich frage mich bloss, warum ich immer erst durch andere auf sowas gestossen werden muss, bevor ich das an mir selbst erkenne. Wahrscheinlich ist es an sich selbst einfach zu nahe, als dass man es leicht sehen könnte. Noch wahrscheinlicher ist aber, dass ich schlicht nicht sehen will und deshalb auch nichts sehe. Da braucht es dann den Funken von aussen.
 
Wenn man mal die Vorstellung über sein Ich nur ein bisschen hinterfragt, dann plötzlich enthüllen sich die seltsamsten Gedankengespinste, die man zuvor hatte. Gestern Abend vor dem Ins-Bett-gehen (es ist IMMER vor dem ins Bett gehen, dass ich sowas bemerke ;) ), entdeckte ich also, dass, wenn man mal diese Vorstellung des kontinuierlichen Ichs fallen lässt, dass es dann keine Liebe mehr geben kann (und auch kein Hass). Jedenfalls nicht so, wie sie im herkömmlichen Sinne verstanden wird.

Wenn es kein Ich gibt, gibt es auch kein Du. Dann gibt es nichts zwischen uns beiden, erst recht gar keine Liebe. Alles, was ich also für Liebe halte, ist blosse Einbildung. Die purste Illusion.
Natürlich gilt dasselbe für Abneigung oder Hass.

Ich habe mich dann weiter gefragt, ob es nicht doch sowas wie Liebe geben könnte. Nun ja, das hängt davon ab, was man darunter versteht.
Es müsste eine Liebe sein, welche nicht vom Ich oder Du ausgeht, sondern völlig frei und schwerelos einfach so im Raum schwebt. Sie müsste obendrein gänzlich unterschiedslos alles und jedes kleinste Teilchen im Universum genau gleich lieben, also wenn dir jemand ins Gesicht schlägt genauso wie einen wunderschönen Augenblick, wenn die Sonne durch die Bäume scheint. Diese Liebe wäre in höchstem Grade unpersönlich, allgemein und vor allem ungebunden, da sie sich im wahrsten Sinne des Wortes an nichts binden liesse. So eine Liebe könnte ich mir vorstellen. (Bloss wäre dann wahrscheinlich die Bezeichnung "Liebe" sehr unpassend, weil völlig mit herkömmlichen Vorstellungen falsch überladen).

ps: Das scheint hier langsam zu meinem persönlichen Forum oder Tagebuch auszuufern... :winken5:
 
Ich habe mich dann weiter gefragt, ob es nicht doch sowas wie Liebe geben könnte. Nun ja, das hängt davon ab, was man darunter versteht.
Es müsste eine Liebe sein, welche nicht vom Ich oder Du ausgeht, sondern völlig frei und schwerelos einfach so im Raum schwebt. Sie müsste obendrein gänzlich unterschiedslos alles und jedes kleinste Teilchen im Universum genau gleich lieben, also wenn dir jemand ins Gesicht schlägt genauso wie einen wunderschönen Augenblick, wenn die Sonne durch die Bäume scheint. Diese Liebe wäre in höchstem Grade unpersönlich, allgemein und vor allem ungebunden, da sie sich im wahrsten Sinne des Wortes an nichts binden liesse. So eine Liebe könnte ich mir vorstellen.

das klingt interessant. Spürst Du diese nicht von einem Menschen ausgehende Liebe?
 
@fckw:

Liebe ist tatsaechlich etwas nicht personifizierbares. Sie kann nicht erfasst werden, nur umschrieben werden, an ihren Attributen erkannt werden. Du bist mit Deinen Gedanken ihr sehr nah gekommen. Allerdings ist es so: Liebe loest Begrenzungen auf, also auch das "ích" und "du". Wenn "ich" und "du" nicht mehr da ist, dann ist Liebe da.

Liebe IST.


lg
Chris
 
Was ich oben über die "universelle Liebe" geschrieben habe, mag ja eigentlich ganz schön klingen oder von mir aus auch sehr spirituell - aber bloss aus oberflächlicher Betrachtungsweise. Überlegt man sich einmal, was eine solche Sichtweise für den eigenen Alltag denn wirklich bedeutet, so wird es plötzlich ziemlich krass.
Denn, mit andern Worten, alle "herkömmliche Liebe", die zwischen einem Mann und einer Frau (oder von mir aus auch gleichgeschlechtlich, das ist mir Wurscht) herrscht, entpuppt sich als völlige Illusion. Ich liebe nicht wirklich meinen Partner, genausowenig wie er/sie mich wirklich liebt. Was ich zu lieben meine, das sind alles blosse Einbildungen, die ich in mir trage und meinem Partner als Charaktereigenschaften zuschreibe. Wäre mein Parter nicht mehr da aber mein Glaube an die Charaktereigenschaften dennoch, dann würde sich an dieser Art der Liebe überhaupt nichts ändern! Diese Liebe ist also völlig unabhängig davon, ob mein Partner wirklich anwesend ist oder nicht, weil sie auf willkürlich getroffenen Annahmen über die Welt und meinen Partner beruht, die einfach nicht der Wahrheit entsprechen.

Mit andern Worten: Eine derartige Sichtweise, konsequent umgesetzt, kann einem in ernsthafte Beziehungsschwierigkeiten bringen - denn heutzutage gilt es als vollkommen, und das muss betont werden, als absolut normal, dass zwei Leute, die zusammen eine Beziehung haben, einander fragen: "Liebst du mich?" Und eigentlich meinen: "Liebst du mich, aber mehr als jemand beliebigen anderen?"

In dieser Frage "Liebst du mich?" stecken aber 3 Fehler drin. Erstens, es existiert kein Ich. Zweitens, es existiert kein Du. Drittens: Das, was hier mit Liebe umschrieben ist, kann es also gar nicht geben, es ist eigentlich blosser Ego-Zentrismus, wodurch das innere Bildnis auf den Partner projiziert wird und ihn in ein künstliches, von mir geschaffenes Gefängnis zwängt.

Die zweite von mir genannte Variante einer unpersönlichen Liebe hingegen, würde wiederum überhaupt keinen Unterschied machen, welchen Partner ich gerade vor mir habe. Damit wäre aber eigentlich eine klassische auf "Liebe" beruhende Beziehung in dieser Hinsicht obsolet, da sie ihren Sonderstatus völlig verlieren würde und dem einzelnen nichts besonderes mehr zu bieten hätte (vielleicht mal mit Ausnahme von rein wirtschaftlichen Überlegungen).

Hmm, das war jetzt vielleicht ein bisschen wirr formuliert.
 
fckw, so wie Du sehe und erlebe ich es auch.

Fühle mich wie ein halbgebackenes Brötchen dabei.

DIE Liebe, das Universale, der Gott, das Alles-was-ist, Liebe 2 zu nennen, wär schon was. Für die Liebe 1 schlage ich vor: Vergleichende Zuwendung. Heisst im Klartext, dass wir ähnlich Einsichtigen in der nächsten Verliebtheit der Holden "Ich wende mich dir vergleichend zu" ins Ohr flüstern werden.

Im ernst, ich würde mich sehr freuen, wenn wir, wie das in anderen Kulturen brauch ist, vielfach schillernde Begriffe für Abstufungen der Liebe finden könnten.

Ist ja klar, dass im"Ich wende mich dir vergleichend zu" DIE Liebe auch die Kernessenz ist, und doch ist es doof, dieses Ding auch einfach mit Liebe zu etikettieren.

danke für Dein halböffentliches Tagebuch, lieber fckw, eine feine Sache das.

Thomas
 
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