Lieber FCK,
ich fühle mich durch deinen Beitrag angesprochen, da ich das Gefühl habe, dass ich dir in deiner Erkenntnis sowie den grunlegenden Prämissen/Unterscheidungen/Alternativen deiner Beschreibung nicht zustimmen kann, weshalb ich dir hier antworten möchte.
Eine besondere Form des Selbst-Missbrauchs besteht darin, zu wissen, dass man selbst klüger ist als ein anderer, aber man aus irgendeinem Motiv heraus (z.B. Mitgefühl) freundlich der anderen Person einen Sachverhalt erklärt.
Ich findes hier interessant, dass du dich für das "Klüger-Sein" interessierst. Wenn ich einer anderen Person begegne, dann kann ich ja 1. auch ganz andere Verlgeichsaspekte wahrnehmen: bin ich schöner, bin ich älter, bin ich weiser, bin ich aggressiver, bin ich mitfühlender, bin ich ... ?
Außerdem fällt mir auf, dass du 2. überhaupt diesen Vergleich vornimmst. Ich kann ja auch mit einem Menschen sprechen, ohne all diese Vergleiche vorzunehmen. Der Vergleich entsteht ja lediglich durch mich, durch meine den Vergleich vornehmenden Gedanken.
Der Missbrauch liegt darin, dass man erstens den eigenen durch die höhere Klugheit legitimierten höheren Status negiert bzw. vor dem Anderen zu verbergen sucht
Die beiden letzten von mir angeführten Punkte kann ich nun auch auf deine Bestimmung des Selbst-Missbrauches beziehen. Der Missbrauch besteht für dich also erstens darin, dass ein Mensch durch dieses Verhalten den eigenen durch die höhere Klugheit legitimierten Status negiert.
Ich finde hier erstens - wie der vorige erste von mir markierte Punkt zeigt - interessant, dass du dich also wirklich für die Klugheit und den damit verbundenen Status interessierst. Aus meiner Sicht gibt es keinen "Status" an sich. Ein "Status" wird in einer Gesellschaft konstruiert und Menschen können sich damit identifizieren. Du nimmst nun - mehr oder weniger explizit - an, dass ein Mensch dieses Bedürfnis nach Status hat und dass er dieses negiert, wenn er es nicht zum Ausdruck bringt.
Das ist ein nachvollziehbarer Gedanke, wie ich finde. Fraglich ist natürlich, wieso ein Mensch ein derartiges Bedürfnis hat und warum du hierfür ausgerechnet die Klugheit, nicht aber Schönheiter, Weisheit, etc. heranziehst.
und dadurch - zweitens - sich damit aus eigensüchtigen statt den genannten faktischen Gründen über den anderen stellt.
Hier schwenkst du nun zu einem quasi-objektiven Standpunkt über: das Verhalten des Menschen, der seine "höhere" Klugheit nicht zum Ausdruck bringt, ist aus deiner Sicht eigensüchtig.
Anders formuliert: Wenn ich sehe, dass der Andere dümmer ist als ich, und ihm das nicht sage, sondern zu ihm freundlich mich verhalte und beispielsweise aus scheinbarer Güte erkläre, zementiere ich seine relative Dummheit in dem Vorgang, dass ich ihm mein faktisches Klügersein vorenthalte (und davon ausgehe, dass jener dieses Klügersein noch nicht einmal zu erkennen in der Lage ist). Insofern verhalte ich mich unethisch weil unehrlich.
Und hier ziehst du nun aus dem anscheinenden seienden, objektiven Vorgang einen ethischer Schluss - du schließt von einem beschriebenen Seinszustand (unehrliches Verhalten, da die Klugheit negiert wird) auf ein ethisches Urteil.
Wenn ich jetzt zunächst wieder meinen ersten oben genannten Punkt aufnehmen, dann wäre es ja meine ethische Pflicht, dem anderen nicht nur zusagen, dass ich klüger bin, sondern auch schöner, weiser, ... etc. .
Wenn ich in deinem Sinne ehrlich und authentisch handeln würde, dann müsste ich quasi in meinem Auftreten all die Verhältnisse zum Ausdruck bringen. Und je mehr ich dem anderen klarmachen würde, dass ich klüger, schöner, weiser, .... bin, desto ehrlicher und damit ethischer würde ich mich verhalten.
Die Frage stellt sich hier also wieder, warum du ausgerechnet auf die Klugheit abzielst. Es stellt sich auch die Frage, warum etwas "ausgesprochen" werden muss, das der andere vielleicht selbst erkennen kann.
Was anfänglich ein selbstmissbrauchendes Verhalten war, das ist ja nun auch zu einem unethischen, unehrlichen Verhalten geworden.
Interessant finde ich hier auch die Stellung des Mitgefühls. Anfangs erwähnst du, dass es ja aus Mitgefühl passieren könne, dass ein Mensch sein eigenes Klügersein negiert. Nun scheint es ja fast so, dass ein Mensch gerade aus wirklichem Mitgefühl dem anderen gegenüber ehrlich sein müsste, weil die "scheinbare Güte", das scheinbare Mitgefühl lediglich erkläre die relative Dummheit des anderen in diesem Vorgang zementiere.
Derjenige der scheinbar aus Mitgefühl handelt, der erscheint zwar "womöglich nett und philantropisch", in Wahrheit jedoch straft ihn seine "Inauthentizität Lügen".
Interessant finde ich hier, dass aus einer beobachtenden Perspektive überhaupt erst das Problem aufgeworfen wird, dass ein Mensch dem anderen entweder sagen müsste, dass er dümmer ist oder nicht. Wenn er dies nicht tut, dann handelt er unehrlich und unethisch und zementiert anscheinend die Dummheit des anderen. Wenn er dies tut, dann vermittelt er dem anderen die "Wahrheit".
Eine Frage ist hier, wieso ich es überhaupt als meinen Auftrag ansehen soll, dem anderen zu spiegeln, dass er dümmer ist und ob der andere hierdurch wirklich schlauer wird.
Das interessante scheint mir bis zu diesem Punkt, dass mich dies alles ein wenig an Nietzsches Philosophie erinnert: dass hier ein Verhalten unter bestimmten Kriterien als scheinhaft entlarvt wird und dass genau das Verhalten, gegen welches sich diese scheinhafte Verhalten richtetet, nun als das erweist, was wirklich den Anspruch einlöst, welches jenes verfolgte.
Man kann hierbei jedoch deutlich erkennen, dass beide Seiten die gleiche Konstruktion aufweisen. Beiden Seiten geht es letztlich darum, vor einem bestimmten Kriterium zu bestehen. Und dieses Kriterium wird von außen an die Situation herangetragen. In beiden Fällen ist dies überhaupt die Reflexion darauf, dass ich als Person klüger bin und deshalb einen höheren Status einnehme. Man kann sich hier überhaupt fragen, welche Menschen überhaupt auf diese Weise denken. Das scheint mir der wesentliche Punkt zu sein. Akzeptiert man diese Konstruktion, dann stellt sich das Problem, dass man deshalb das Bedürfnis haben könnte, dieses Bedürfnis auch auszudrücken.
dass ich deshalb mich selbst missbrauche, wenn ich dies nicht vornehme, deshalb unehrlich gegenüber dem anderen handele und hierbei zugleich dem anderen nicht zeige, wie dumm er ist, wodurch ich ihm ja seine Wahrheitserkenntnis abnehmen könnte.
Hinter diesem Muster steckt meiner Meinung nach meist ein nicht offen zur Schau getragener Herrschaftsanspruch, welcher sich hinter der philantropischen Maske verbirgt. Droht das Doppelspiel einer solchen Person mit Herrschaftsanspruch aufzufliegen, beruft sich sich nicht selten flugs auf die eigene Fehlbarkeit, versucht die Gemüter zu besänftigen, indem sie Tiefstatus spielt, die eigene Menschlichkeit anpreist, während sie doch in Wahrheit einen übermenschlichen Hochstatus anstrebt. Eine reichlich billigere Masche wiederum ist es, den Ahnungs- und Arglosen zu spielen.
Interessant finde ich nun, dass du das alles nun noch machtphilosophisch ausdehnst. Du nimmst ja ohnehin schon an, dass Menschen stets darauf reflektieren, ob sie klüger als andere Menschen sind oder nicht, dass sie das Bedürfnis haben, dies auszudrücken und nur dann ehrlich und ethisch handeln, wenn sie dies tun.
Es kommt nun hinzu, dass du in diesem Verhalten auch noch einen Herrschaftsanspruch zu erkennen glaubst, der verdeckt wird.
Somit ist ein grössenwahnsinniger Spinner ehrlicher und damit ethischer, wenn er seinen Grössenwahnsinn offen kommuniziert, als ein heimlich von übermenschlicher Grösse träumender, aufgrund seines angenehmen Äusseren allseits beliebter Philantrop, der sich "nur als Menschen" ausgibt, anstatt den genannten Anspruch auf den Übermenschen zuzugeben.
Es ist ja schon anhand meiner Rekonstruktion klar geworden, dass du selbst ein ganz bestimmtest Bild von den Menschen und von dir selbst hast, nämlich dass sie stets auf die Überlegenheit von Eigenschaften und den Status reflektierten und das Bedürfnis haben, dies auszudrücken.
Dieses aus meiner Sicht recht einseitige Bild untermauerst du nun schließlich in der Alternative,
entweder ein grössenwahnsinniger Spinner zu sein und ehrlicher und damit ethischer, der seinen Grössenwahnsinn offen kommuniziert,
oder ein heimlich von übermenschlicher Grösse träumender, aufgrund seines angenehmen Äusseren allseits beliebter Philantrop zu sein, der sich "nur als Menschen" ausgibt, anstatt den genannten Anspruch auf den Übermenschen zuzugeben.
Es wird also hier ganz klar, gegen wen dein Beitrag zielt und auf welcher Seite du dich selbst verortest.
Aus meiner Sicht kann man deinen Beitrag als ein Ressentiment gegenüber Menschen lesen, die dua als Philanthrophen erlebst.
Wichtiger scheint mir jedoch, dass du hier eine ganz bestimmte Welt zeichnest, wie Menschen immer schon existieren: entweder größenwahnsinnige Spinner oder Philanthrophen, also Menschen, die ständig darauf reflektieren, welche Eigenschaften und welchen Status sie haben und die dann andauernd vor der Entscheidung stehen, entweder ihrer Überlegenheit Ausdruck zu geben oder diese zu negieren und damit unethisch zu handeln.
Mich erinnert all das wirklich sehr an das Lebensgefühl Nietzsches und auch den Tolle-Thread, den wir gerade bearbeiten. Du scheinst hier einen Konflikt wahrzunehmen, den Nietzsche auch sein Leben lang verspürte: den Konflikt zwischen dem Mitgefühl gegenüber anderen und den eigenen subjektiven Trieben. Dieser Konflikt scheint in dir so stark zu sein, dass du dich gezwungen siehst, dich auf eine Seite zu schlagen - eine Vermittlung scheint nicht möglich zu sein: entweder drücke ich meine Bedürfnisse aus oder ich fühle mit dem anderen mit.
Dabei gehst du auch so vor, dass du das Mitgefühl, das du mit dem anderen fühlst, wenn du spürst, dass es ihm weh tut, wenn er sich unterlegen fühlt, falls du deine Überlegenheit zur Schau stellst, negierst und ethisch folgerst, dass genau diese Handeln eigentliches Mitgefühl ausmacht.
Dir scheint also "Mitgefühl" doch sehr wichtig zu sein und du versuchst es mit deinen subjektiven Trieben durch diese Konstruktion in Einklang zu bringen.
Mir scheint, dass diesen Konflikt vor allem Menschen erleben, die einerseits sehr mitfühlende Menschen sind, die andererseits jedoch auch eine dionysische, künstlerische Veranlagung mitbringen, die sie mehr oder weniger literarisch sublimieren. Was ich von dir bis jetzt gelesen habe, scheint mir dies auf dich zuzutreffen.
Mit George Herbert Mead kann I, Me und Self unterscheiden. "I" steht für die subjektiven, unmittelbaren, authentisch Bedürfnisse. "Me" steht für die Perspektive, die ich gegenüber anderen einnehmen kann. Und "Self" steht für die Perspektive, aus der ich I und Me vermitteln kann. Der konflikt zwischen I und Me erscheint umso stärker, je weniger das Self ausgebildet ist und eine "erwachsene", I und Me vermittelnde Struktur entwickelt hat, denn tatsächlich ist es ja so, dass es gar nicht unmöglich ist, I und Me zu vermitteln. Je mehr ein Mensch sein Self ausprägt, das zeigt sich auch daran, wie sehr er sich überhaupt auch von sozalen Konstruktionen wie "Prestige" etc. distanzieren und ein eigenes Maß für sich selbst ausgebildet hat. Dies setzt auch immer voraus, dass ein Mensch fähig ist, sich selbst zu lieben, anzunehmen, sich nicht von den konventionellen Maßstäben abhängig zu machen, weil gerade hierdruch der Konflitk zwischen I und Me besonders aufgeladen wird.
Insofern greift auch Ken Wilber Meads Ansatz auf und sieht im Self eine wichtige Komponente für die spirituelle Entwicklung. Er macht aber auch deutlich, dass es wichtig ist, dass die Entwicklung, die das Self in seiner Dezentrierung entwickelt, auch wirklich bis in das I, bis in die Authentizität, umgesetzt wird: ein Self, das lediglich dezentiert, aber praktisch I und Me nicht entwickelt, kann vielleicht ein hohes Zeugenbewusstsein erlangen, wird jedoch den ungelösten Neurosen (I-Me-Konflikt) weiterhin zusehen. Wilber betont also - wie Mead - die Verschränkung von I, Me und Self.
Wie würde sich dies nun also auf deinen Fall deines Beitrags bezogen widerspiegeln? Nun, ein dezentriertes Self würde gleich zu Beginn verhindern, dass überhaupt eine Reflexion auf ein Klugheitsgefälle entsteht und eine derartige Identifizierung zu einem Bedürfnis führt, es würde sich vielmehr individuell und liebevoll um die Bedürfnisse des eigenen I kümmern, anstatt es lediglich durch "sozial legitimierte Anerkennung" zu füttern. Es würde auch über das ME das wirklich gegenwärtige Mitgefühl für andere Menschen aufrecht erhalten, dieses also nicht ethisch rationalisieren, ohne jedoch sich in diesem Mitfühlen mit anderen zu verlieren, sondern dieses immer an den eigenen I-Bedürfnissen begrenzen, die jedoch in diesem Falle nicht mehr zu einem derartigen widersprechenden Konflikt führen, sondern Hand ind Hand gehen.
Dies zeigt dann auch, dass es auch Menschen jenseits der Alternative von kommuniziertem Größenwahn und gespielter Philanthrophie geben kann.
Natürlich kannst du jetzt diesen Beitrag wieder daraufhin lesen, ob ich klüger bin oder du klüger bist, ob ich einen höheren Status einnehme oder du, ob ich einen Herrschaftsanspruch geheim oder explizit erhebe - aber vielleicht zeigen dir auch diese Beschreibungen, dass diese Welt, die du mit diesen Gedanken konstruierst, dann in diesem Falle deine Welt ist; ein anderer vollzieht all diese Unterscheidungen vielleicht überhaupt nicht, sondern ganz andere, lebt also auch in einer anderen, vielleicht weniger polaren Welt.
Liebe Grüße,
Energeia