Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich ein schlechterer Zuhörer wurde, als ich begann, "bei mir" zu sein. Vorher war ich ganz beim anderen, da konnte ich mich komplett ausblenden und war wirklich 200% beim anderen. Das geht nun nicht mehr so intensiv. Aber es ist gut so, denn ich werde mich nie mehr derart vereinnahmen lassen und grenze mich auch ab, will auch keine Einheit, eben wegen dieser Vereinnahmung. Ich finde, niemand hat das Recht, eine derart vollumfängliche Präsenz zu fordern, wo eben dann von dieser Einheit gesprochen wird. Das ist mir suspekt, eben weil ich weiß, wie ungut Einheit sein kann.
Das verstehe ich. Ebenfalls aus Erfahrung.
Ich persönlich habe es so erlebt, Lynn: erst ging es hinein in mich selber, so wie Du das auch erlebt zu haben scheinst. Aus dem Selbstverlorenen hinein in mein Ich. Eine Form von Abgrenzung, die zur Selbstfindung führt. Ein sehr schmerzlicher Prozeß, den Du sicher auch dann erfahren hast.
Ist das nicht ein Leid? Meine Güte!
Bei mir ist es erst mit 31 dazu gekommen, wie Du vielleicht weißt hatte ich eine Teilamnesie. Ich hatte etwa die ersten 12 Jahre meines Lebens vergessen, weil mein Vater verstorben war und ich ihn verdrängt hatte. Da ist dann nicht wirklich ein Ich übrig, wenn Du keine Kindheit kennst.
Und dann ging es etwa ab dem 30. Lebensjahr gemeinsam mit Krankheit hinein in dieses Ich. Ich fühlte mich dem Tode nahe, weil ich mich so verloren hatte. Und mein Ich hat dann eine gewisse Grösse bekommen, phasenweise auch eine gewisse Übergrösse entwickelt. Es war wie ein Gummi, das man spannt und dann nur an einem Ende loslässt: es schiesst über das festgehaltene ende hinaus.
Meine eigene Spiritualität - das ist halt bei jedem anders - geht aber weiter. Sie endet nicht im Ich. Das ist nicht mein Wunsch. Sondern sie will in die Einheit mit einem Du. Bei Ehepaaren habe ich das nur wenige Male erkannt, daher weiß ich, daß es wohl möglich ist mit einem anderen Menschen. Diese Paare, bei denen ich das wahrgenommen habe, waren steinalt, über 80. Und die waren daher über 60 Jahre zusammen. Ich kann nicht wissen, wie das ist, weil es mir nicht vergönnt ist, das zu erleben aber immerhin habe ich wahrgenommen, daß es das gibt. Natürlich war es dann auch unerträglich, wenn einer der Partner starb und der andere ist ihm nach kurzer Zeit gefolgt. Es gibt eine für mich sehr bewundernswerte Liebe zwischen Menschen, die ich tatsächlich bisher nicht erleben durfte. Es liegt aber eben auch daran, daß ich bin wie ich bin, das habe ich verstanden, ich strebe es daher auch nicht an.
Stattdessen will ich, wie Du vielleicht weißt, erfahren, wie es ist, eine spirituelle Einheit mit Jesus Christus und gott einzugehen, im Heiligen Geist dürfte das gelingen. Ich will nicht sagen, daß mein Geist heilig ist, aber er ist einigermaßen heil, ebenso meine Psyche. Ich bin mir der Eigenheiten meines Geistes und meiner Psyche bewusst und unterscheide Beide in mir säuberlich. Und doch merke ich, bei allem was "ich" bin und was "ich bin", daß mir eine Vereinigung noch bevorsteht, die ich noch nicht lebe. Die ich zwar erlebe, immer wieder, aber ich lebe sie noch nicht so, wie ich es könnte, sollte und möchte.
Daher habe ich wie naglegt diese Sehnsucht nach dieser Einheit. Wohlgemerkt nach
dieser Einheit, und nicht nach irgendeiner anderen Einheit. Im Grunde weiß ich, daß ich diese Einheit während des Lebens wohl häufiger vermissen werde. Aber das sagt mir nur mein Verstand, der mich begrenzt und klein hält. Was ich wirklich erleben könnte, Lynn, das weiß ich persönlich nicht. Das weiß aber vielleicht Gott und es wissen sicher andere Menschen, die diese gleiche Einheit ebenfalls suchen. Ich verbinde es mit Freude und Glück, ich erfahre Beides auch, aber aufgrund meines Lebens noch nicht so, daß ich sagen könnte daß ich freudig und glücklich bin. Ich will aber gerne so sein, und das nicht nur, wenn ich anderen Menschen begegne (da schaffe ich es meist), sondern auch in mir selber, für mich selber. Für mich selber, nicht für mein Ich. Ich bin nicht mein Ich, das Grenzen hat und sich schützen muß und stark und autark sein muß - das habe ich alles ausgekostet und will es hinter mir lassen. Ich will, kann man sagen "wir" werden. Viel mehr ein Wir werden.
Und ich glaube das meint auch naglegt, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene. Mag sein, daß ich ihn mißinterpretiere.
lg + Drückerli