Natürlich ist es dieser "pädagogische Ansatz" bzw. Anspruch, der vielen übel aufstößt. Sowas kann tierisch auf die Nerven gehen. Ist es deswegen falsch?
Das kommt auf den Kontext einer Situation an. Wenn ich z.B. Nachrichten angucke und da wird gegendert, dann werde ich deshalb nicht wütend oder so, aber es gefällt mir definitiv nicht. Denn ich habe die eingeschaltet um informiert zu werden, nicht um belehrt zu werden -- das ist ein Unterschied. In einem persönlichen Gespräch noch mehr, egal ob privat oder geschäftlich. Das Paradox ist doch auch hier wieder: Die Grundidee hinter dem Gendern ist etwas gegen Diskriminierung zu tun. Nun hat Diskriminierung immer auch mit einer Hierarchisierung zu tun, also im Sinne eines "Ich bin besser als Du weil ich ein Mann bin und Du eine Frau" oder "(...) weil ich weiße Haut habe und Du nicht" usw. Wenn man mir gegenüber gendert um vermeintliche Klischees in meinem Kopf zu adressieren erzeugt auch das eine Hierarchie, denn in der Nachricht schwingt ja zudem noch mit "Ich bin der Richtige um Dich an dieser Stelle zu belehren." Und da schwingt auch eine Unterstellung mit, in etwa "Du hast wahrscheinlich Klischees und Vorurteile im Kopf über die ich schon hinweg bin."
Gendern kommuniziert einfach noch wesentlich mehr als das was beabsichtigt ist und davon wird die eigentliche Nachricht, die von der Sache her vollkommen anders gelagert sein kann, überlagert.
Bleiben wir bei meinem Beispiel und der guten Erweiterung von Dir: Ich erzähle also von irgendwelchen Geschäftsplänen und meinem Vorhaben, die Idee mit Anwälten - im generischen Maskulin formuliert - zu diskutieren. Das Geschlecht der Anwälte ist dabei völlig zweitrangig bzw. irrelevant. Dennoch werden viele eben in ihren Köpfen - vom Klischee her - ein Bild haben, dass ich da mit Männern reden werde.
Ich glaube, Du solltest an der Stelle zuerst die Frage stellen inwiefern Du da nicht projezierst. Ich z.B. habe tatsächlich oft mit Anwälten und auch Anwältinnen zu tun gehabt und auch immer noch. Ich hatte eine Anwältin und aktuell habe ich einen Anwalt und dann gibt es da auch noch ein Team in dem auch wieder Frauen dabei sind. Der Punkt für mich ist: Würdest Du mir gegenüber sagen dass Du noch mit Deinen Anwälten sprechen möchtest, dann wären meine Gedanken gar nicht bei dem Thema Geschlecht sondern bei der Sache um die es geht. Ich glaube nicht mal dass ich da überhaupt ein Bild vor Augen hätte... Nun kann man natürlich einwenden, dass ich nicht im Klischee denke weil ich nun zufälligerweise (auf viele trifft das ja wahrscheinlich nicht oder selten zu) Kontakt zu Anwälten und Anwältinnen habe. Aber so oder so, ich finde nicht dass es an mir oder irgendwem ist Mutßmaßungen über mögliche Klischees anderer Menschen anzustellen und auf dieser Basis "pädagogischen Einfluss" nehmen zu wollen. Ich halte die Mutmaßungen für anmaßend und ich halte den Ansatz lehrerhaft auftreten zu müssen für anmaßend.
Lass uns die Geschichte kurz ändern. Stell Dir eine private Situation vor, etwa ein Gespräch mit einem guten Freund. Du erzählst ihm von einer Situation in der Du Dich entschieden hast erst mit Deinen Anwälten zu sprechen -- oder gegendert: Anwält__innen. Nun entscheidest Du Dich für den pädagogischen Ansatz und genderst... Würdest Du damit nicht sofort eine Hierarchie einführen, im Sinne von "Ich vermute Du denkst jetzt klischeehaft an Männer, aber nein, ich vermittle Dir hiermit dass der Beruf auch von Frauen ausgeübt wird!". Würde ein Freund sich mir gegenüber so verhalten würde ich sofort fragen warum er das macht. Wenn er einfach gerne gendert... so what. Aber wenn er wirklich mein Denken damit adressieren möchte, dann sollten er und ich ein klärendes Gespräch führen.
Du kannst es Dir auch umgekehrt vorstellen... würdest Du gerne von Geschäftspartnern oder Freunden so behandelt werden?
Ein anderes tatsächlich reales Beispiel: Kürzlich waren wir mit dem Auto in Nord-Schweden unterwegs - eine dünn besiedelte Region. Dabei wurde einer unserer Reifen punktiert und verlor Luft. Glücklicherweise fanden wir schnell eine Tankstelle mit Werkstatt am Weg, wo der Reifen schnell und spontan geflickt werden konnte.
Aus dem Kontext der Erzählung wirst Du vielleicht schon erahnen, worauf es hinaus läuft: Diese Werkstadt wurde ausschließlich von Frauen geführt - mindestens an dem Tag, wo wir da waren. Es war eine Automechanikerin, die unseren Reifen geflickt hat, und es lief da kein männlicher Mitarbeiter rum.
Und ich würde wetten, dass kaum jemand an diese Möglichkeit gedacht hätte, wenn ich die Geschichte in einem anderen Kontext erzählt hätte. Das Geschlecht der Person, die einen Reifen flickt, ist ja auch vollkommen egal. In einer "idealen Welt", wie ich sie mir wünsche, wäre der Umstand mir wohl nicht einmal groß aufgefallen. Der Punkt ist, dass die Mehrheit aber nicht nur nicht an diese Möglichkeit einer von Frauen geführten Autowerkstatt denkt, sondern auch bei der geschlechtsneutralen Erzählung automatisch schon ein Bild vom hühnenhaft einsiedlerischen Schweden Peer-Olaf im Kopf hat, der sich da um unseren Reifen kümmerte. Selbst ohne dass ich den generischen Maskulin verwende, sondern die Geschichte im Passiv erzähle, so dass die aktive Person auch grammatikalisch absolut geschlechtsneutral bleibt.
Ich glaube nicht, dass man wissen kann was in anderen Köpfen vor sich geht. Wenn ich mich frage wie ich da denken würde, dann wäre es hier wie mit den Anwälten. Mich würde die Sache interessieren, ich habe da keine Bilder im Kopf sondern konzentriere mich auf die relevante Information -- und was relevant ist, das schließe ich aus dem Kontext einer Erzählung.
Du hast sicherlich Recht dass die meisten wenn sie an Auto-Werkstätten denken und sich das vorstellen eher an Männer denken. Ich halte das aber nicht für schlimm. Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass sich das Denken über manche Berufe ändert nur weil man gendert. Trotzdem werden manche Berufe vor allem von Männern ausgeübt während Ausnahmen wiederum niemanden vom Hocker hauen. Ich habe z.B. im anderen Thread (polit. korrekte Sprache) davon erzählt, dass ich als Kind eine junge Frau kannte die Zimmermann lernte und dann auch in dem Beruf arbeitete. Ich sah sie oft in den typischen Klamotten. Und obwohl man den Begriff ja nicht mal gendern kann wurde das in meinem Kopf zu einer Berufsbezeichnung wie z.B. "Lehrer". Ich selbst habe solche Begriffe nicht geschlechtlich assoziiert.
Den meisten wird es vermutlich anders als mir mit dem Begriff "Zimmermann" gehen. Aber meine Güte, niemand ist heute noch überrascht wenn er erfährt "es gibt auch Frauen in dem Beruf", oder "wow, an den Corona-Imfpstoffen arbeiten ja gar nicht nur Männer" oder was auch immer. Sowas finde ich nur lächerlich.
Und ja, ich habe da eine gewisse "pädagogische Zielsetzung", die Klischees da aufzubrechen. Und da halte ich Gendern in Maßen angewendet auch tatsächlich für sinnvoll - eine Art eingebaute Stolperfalle, die fragt: "Ich nenne jetzt explizit kein Geschlecht; an welches hättest Du sonst gedacht?"
Wenn Du einer pädagogischen Zielsetzung folgst, und zwar ungebeten, dann führst Du eine Hierarchie ein. Du implizierst damit, dass Du in dieser Frage weiter bist als die Person mit der Du sprichst, womit Du zudem implizierst zu wissen was und wie die andere Person denkt. Wie gesagt, wenn ein Freund auf die Art mit mir sprechen würde, dann würde ich daraus Schlussfolgerungen ziehen.
Würdest Du das eigentlich auch bei Frauen machen?
Wo ich Dir nach wie vor voll zustimme: Man kann es auch übertreiben. Und ein Zuschauer ist auch vom Klischee her nicht a priori männlich. In solchem Maße kann es schnell sperrig werden und albern wirken zu gendern.
Ich halte es eigentlich nur in wenigen Situationen für positiv bzw. konstruktiv. Würde ich z.B. Einladungen verschicken dann würde ich da vielleicht gendern, wobei ich dann eher zum Ausschreiben neige. Ich würde also nicht schreiben "Liebe Kolleg*innen" sondern eher "Liebe Kolleginnen und Kollegen" oder was auch immer. Der andere Bereich wäre, wie schon gesagt, in der Schule. Aber ich würde da auf keinen Fall einfach losgendern sondern das Gendern tatsächlich lehren. Und wie auch schon gesagt: Nicht nur pro sondern auch contra.