Bis ich in die Schule kam lebte ich die Woche über bei Opa und Oma, da meine Eltern beide arbeiten gingen. Eine Krupp-Siedlung mit jeweils 6-Parteien im Haus. Ein kleinerer Spielplatz direkt vor der Haustür und ein grösserer 100 Meter entfernt.
Es gab viele grüne Wiesen zum Spielen, Gebüsche zum Verstecken, Bäume zum Klettern und jede Menge Spielkameraden. Also für einen kleinen Jungen optimal.
Wenn ich über diese Zeit nachdachte, hatte ich auch schon mal den Gedanken von "Abschieben." Letztlich denke ich dass es in diesem Lebensabschnitt aber eher ein Segen war und es gut war dass ich in diesen ersten sechs prägenden Jahren bei den Grosseltern aufwachsen konnte.
Denn Eines wurde mir später klar: Es war damals sehr sehr schwer eine Wohnung zu bekommen und meine Mutter hatte da für ihren Wunsch die passende Idee: Wir brauchen ein Kind!
Dadurch ging es schneller und als die Wohnung endlich da war, wurde ich zu den Grosseltern abgeschoben. Wer weiss wie es in der Wohnung bei meinen Eltern geworden wäre. Ich glaube dass mein Opa letztlich mein Lebensretter war. Er war immer da und zeigte mir seine kleine Welt in der er glücklich war.
Ich war als Mittel zum Zweck auf die Welt gekommen... benutzt... als Erfüllungsgehilfe für die Bedürfnisse meiner Mutter...
Nicht schön, aber die Wahrheit. Ich weiss es genau.
Als kleiner Junge wurde es mir nicht klar aber dieses Gefühl als Mittel zum Zweck ins Leben gekommen zu sein, hat mich unterbewusst lange begleitet und mein Leben beeinflusst und dies nicht auf positive Weise.
Mit fünf Jahren dann bekam ich Probleme mit meinem rechten Ohr. Es begann zu laufen und wollte nicht besser werden. Nach unzähligen Terminen beim Ohrenarzt machter der Doktor meinem Opa klar, dass nur eine OP helfen würde.
Als ich vom Termin wieder mit ihm bei Oma war und sie fragte was der Arzt gesagt hatte, wollte ich scherzen und sagte, dass ich ins Krankenhaus müsste. Ich wusste nicht wie Recht ich damit hatte.
Dann kam der Tag der Einweisung ins Krankenhaus. Opa brachte mich. Das Bethesda-Krankenhaus war schwesterngeführt und es herrschte ein strenges Regime. Dann die OP. Ich habe gezittert vor Angst und im OP-Zimmer den Arzt gefragt, ob er meine Hand halten könnte. Er tat es tatsächlich! Dann bekam ich Lachgas und schlief endlich ein.
Mit dickem Kopfverband wachte ich irgendwann auf und musste dann noch lange sechs Wochen in diesem fürchterlichen Krankenhaus bleiben. Besucht hatte mich meine Mutter ganze zwei Mal in dieser Zeit, mein Vater kam zwei oder drei mal abends allein vorbei.
Ich war im ersten Schuljahr und lebte nun komplett bei meinen Eltern. Sie stritten sehr oft. Mein Ohr begann wieder zu laufen. Ein zweiter Krankenhausaufenthalt war unvermeidlich. Ich hatte inzwischen ein Loch im rechten Trommelfell, schon so gross wie eine Bohne. Das Hyssenstift in Essen war nun sieben Wochen lang mein Ersatz-Zuhause.
Dann kam die OP. Man setzte mir ein Plastik-Trommelfell ein. Den Kopf dick verbunden brachte ich die nächsten Woche zu. Es juckte wie verrückt und ich kratzte ständig an meinem Ohr herum.
Besuche nur spärlich und am Wochenende - ausser mein Vater - der kam nach Feierabend einige Male zu Besuch.
Weil ich mit dem Kratzen nicht aufhören konnte, verpasste man mir Plastikschienen an den Armen über den Armbeugen, so dass ich sie nicht mehr beugen konnte und nicht an mein Ohr kam. Wie ein Behinderter ruderte ich mit meinen Armen herum und man nahm sie mir nur zum Essen und für die Toilette ab.
Als mein Vater dies bei einem seiner Abendbesuche sah, rief er sofort nach der Schwester und nach dem Arzt. Er sagte: "Diese Dinger machen Sie bei meinem Sohn sofort ab! Und wenn Sie es nicht machen wollen, dann mache ich es. So etwas machen Sie mit meinem Kind nicht!"
Mein Vater konnte sehr energisch sein und sein Auftritt hatte keinen Zweifel gelassen. Drei Minuten später konnte ich mich wieder frei bewegen. Er schärfte mir ein, dass ich nun nicht mehr am Ohr kratzen dürfte und irgendwie schaffte ich es auch.
Am letzten Sonntag vor der Entlassungswoche kamen noch einmal alle zu Besuch. Opa und meine Eltern. Meine Mutter fragte mich was ich mir denn wünschen würde nach dem langen Krankenhausaufenthalt und ich antwortete: Eine Katze! Überraschenderweise stimmte sie zu und ich freute mich umso mehr auf den ersten Tag daheim.
Doch was fehlte war eine Katze. Meine Mutter sagte mir nur, dass sie sich darum nicht auch noch kümmern könnte und dass wir keinen Platz dafür hätten.
Ich hatte nie ein eigenes Zimmer und beneidete Schulfreunde wenn ich sie besuchte und wir in "ihr eigenes" Zimmer gehen durften. Das Leben spielte sich zum grossen Teil in der Küche ab, in der sich auch in einer Ecke mein Bett befand. Wenn ich ganz selten mal einen Freund zu Besuch hatte und wir spielten, musste sofort alles abgeräumt werden, wenn mein Vater von der Arbeit kam.
Irgendwann später dann hatte ich meinen ersten eigenen Raum und ich hatte grosse Probleme ihn einzurichten. Es war nichts Eigenes da. Ich war ja zu anderen Zwecken gerufen worden und fühlte grosse Leere in mir. Es war ein verdammtes Scheißgefühl!
Nach all diesen langen Jahren merke ich jetzt gerade beim Schreiben wie immer noch etwas festsitzt in mir und ich platzen könnte. Und dass ich diese ganze alte Scheisse einfach herausreissen möchte!
Ich will frei sein davon und mein Leben einfach ganz in Besitz nehmen. Ohne irgendwelche Zwänge und alte Muster, die mich so lange behindert haben. Finden, kennen lernen und leben was in mir steckt. Zu 100%.
Kurz bevor ich ganz bei meinen Eltern war starb plötzlich meine Oma. Sie war die zweite Frau meines Opas gewesen und ich spürte wie ihn der Verlust schmerzte. Und ich verstand nicht, dass sie plötzlich nicht mehr da war. Im zweiten Weltkrieg hatte er seine erste Frau verloren. Zweimal wurden sie in Essen ausgebombt und sind dann in eine Notwohnung in Berlin gekommen, zu entfernten Bekannten.
Vor Kriegsende war Luftalarm in Berlin. Alle liefen in den Luftschutzkeller im Haus. Das Haus erhielt einen Volltreffer und stürzte ein. Seine erste Frau - meine richtige Oma - warf sich auf meine Mutter um sie zu schützen und starb dabei. Meine Mutter überlebte und wurde aus den Trümmern gerettet. Meine richtige Oma habe ich leider nie kennen gelernt.
Opa hat es das Herz gebrochen. Er war allein, ich lebte nun bei meinen Eltern. Er veränderte sich. Zweimal die Woche besuchte ich ihn. Einmal alleine, einmal mit meiner Mutter, weil sie bei ihm sauber machte.
Nach einiger Zeit wollte meine Mutter einen Hund haben. Ein kleiner Zwergpudel (Jerry) kam zu uns in die Wohnung. Verhätschelt und verwöhnt genoss er ein schönes Leben. Ständig auf Mutters Schoss und von meinem Vater mit Leckereien verwöhnt - er war Metzgermeister.
Das Gassigehen wurde mir aufgebrummt und als meine Mutter eine neue Arbeit annahm, musste ich das Tier mit dem Fahrrad zu meinem Opa bringen und nach der Schule wieder abholen. Ich mag keine Zwergpudel mehr.
Als ich elf Jahre alt war, starb mein Opa. Er hatte einen schnellen Tod. Beim Zubettgehen ist er über den Bettvorleger gestolpert und mit der Schläfe auf die Kante des Nachttisches aufgeschlagen. Er war sofort tot. Meine Mutter fand ihn, als sie zum Saubermachen kam.
Mich hat sein Tod total erschüttert und ich erinnere mich wie ich mich darüber gewundert habe, dass bei meiner Mutter keine Träne floss. Opa war in einem Marinekameradschaftsverein gewesen und bei seiner Beerdigung spielte eine Marinekapelle. Es war so traurig! Ich konnte mich kurz beherrschen, doch dann heulte ich laut los. Mein Vater herrschte mich an, ich sollte mich gefälligst zusammenreissen...
Einige Monate später wurde unser Hund frühmorgens von einem Bus überfahren. Mein Vater war mit ihm Gassi gegangen und brachte ihn sofort zu einem Tierarzt. Ich blieb von der Schule zuhause an diesem Tag. Alle sassen wir im Wohnzimmer und warteten auf den Anruf des Tierarztes, ob er ihn durchgebracht hätte. Dann kam der Anruf.... er hatte es nicht geschafft. Meine Mutter brach in Tränen aus und konnte sich nicht mehr beruhigen. Sie war völlig ausser sich und war tagelang neben der Spur. Auch ich musste weinen, denn er gehörte doch zu unserer Familie. Das war nun alles O.K.
Ich musste an die Beerdigung meines Opas denken.... reiss Dich zusammen...
Ich könnte kotzen über so viel Verlogenheit!
Wir waren in eine andere Wohnung gezogen. Etwas grösser, etwas schöner. Ein eigenes Zimmer hatte ich immer noch nicht. Wieder bekam ich den Platz in der Küchenecke, an den ich schon gewöhnt war.
Meine Mutter kam über den Verlust des Hundes nicht hinweg. Es wurde ein neuer Pudel angeschafft. Gleicher Name, gleiche Rituale, gleicher Ablauf.
Er hatte nur eine schlimme Angewohnheit... er pinkelte ständig in mein Bett. Irgendwann war es dann mal soweit. Ich wurde nachts wach und bemerkte wie meine Hand etwas Nasses fühlte. Schäumend vor Wut warf ich den Hund aus meinem Bett, der laut aufjaulte. Meine Eltern kamen gleich angerannt und obwohl sie schon öfter mitbekommen hatten, dass er in mein Bett machte hörte ich nur ein: "Stell Dich nicht so an, dann beziehen wir das Bett eben neu und Du legst ein Handtuch unter."
Ich kann mich daran erinnern als ich Zwölf oder Dreizehn war, dass ich am Morgen einen Flecken auf der Bettdecke sah. Er war aber nicht von unserem Hund, nein - er war von mir. Die ersten Schritte vom Jungen zum jungen Mann hatten mich im Schlaf überrascht und einen Fleck auf dem Bettuch hinterlassen. Es war mir total peinlich.
Die Reaktion meiner Mutter war, dass sie mir schwerste Vorwürfe machte. "Meinst Du ich weiss nicht, was Du da tust? So eine Sauerei!" Ich bin fast im Erdboden versunken und fühlte mich so, als hätte ich gerade jemanden umgebracht. Etwas ganz Natürliches was einem in diesem Alter halt passiert wurde so verdreht, dass man sich schuldig fühlte dabei.
Ein Hund war mehr wert als ich.
So eine verlogene Scheisse!