Erinnerungen an meine Kindheit, zurück zum Anfang, wie alles begann

....Aber manchmal sind dreissig Jahre nicht genug, um zu vergessen und das Thema Reue wird passend zum nun bevorstehenden Osterfest noch einmal an die Oberfläche gespült.

Was der Beerdigung meines Vaters vorausging, war eine Szene bei der ich mich wahrhaft schäbig verhalten habe.

Mein Vater hatte vier Wochen vorher seine Frau verloren und nach der Beerdigung meiner Mutter begleitete ich den Wagen des Arbeiter Samariter Bundes der ihn zurück brachte und ging kurz mit hoch in seine Wohnung.

Er war nun auf sich allein gestellt, hatte niemanden mehr und hauste in einer verwahrlosten Wohnung, dem Alkohol weiterhin hoffnungslos verfallen und ohne menschliche Kontakte.

Ich blieb nur kurz und beim Abschied sagte ich ihm dann diesen Satz mitten ins Gesicht, der mich bis heute verfolgt:


"Rufe Du mich nie wieder an!"​

Ich werde nie in meinem Leben den Blick in seine Augen vergessen. Enttäuschung, Fassungslosigkeit, Unverständnis, ein Tiefschlag der ihm den Boden unter den Füssen entzog, eine unmenschliche Tat, ihn in dieser Situation so allein zu lassen.

Obwohl ich mir zu 100% sicher bin, dass er niemals "die Kurve gekriegt hätte" und dass weitere Kontakte der reine Krampf geworden wären, habe ich in diesem Moment grosse Schuld auf mich geladen und mich unmenschlich verhalten.

Selbst heute noch treibt mir der Gedanke daran die Tränen in die Augen und ich fühle mich wie ein Verräter, der einen fast hilflosen Vater einfach seinem Schicksal überlassen hat und ich fühle mich mies und schuldig dabei.

Die Reue holte mich schnell ein, denn schon als ich es ausgesprochen hatte merkte ich was es in ihm anrührte. Ich unterdrückte das Gefühl, wie so oft.

Doch dann, nach vier Wochen verstarb auch er und nach seiner Beerdigung bei der ausser mir und dem Pfarrer niemand mehr anwesend war, brach es dann beim Gang durch die Friedhofsanlage auf dem Rückweg über mich herein.

Mit voller Wucht wurde mir mein Verhalten klar. Doch nun war es zu spät.

Er würde mich nie wieder anrufen...
 
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Natürlich! Ich bin ein Mensch wie alle und kann nicht behaupten, dass ich in meinem Leben immer alles richtig gemacht habe. Es gab auch Situationen, in denen ich mich nicht mit Ruhm bekleckert habe oder in denen ich mich aus heutiger Sicht falsch verhalten habe. Manchmal war ich tatsächlich ein Arsch, ja!

Ich denke wenn einem das klar wird, hat man schon eine Menge gewonnen.


Da gab es ein dickes Paket...

Ich hatte mit meinen Eltern gebrochen und etwa 10 Jahre keinen Kontakt zu ihnen, da sie hoffnungslos dem Alkohol verfallen waren. Mein Vater rief mich an und teilte mir mit, dass meine Mutter verstorben sei. Ich fuhr zu ihm und kümmerte mich um ihre Beerdigung, holte ihre Sachen aus dem Krankenhaus ab und brachte alles meinem Vater. Es waren vier Leute bei der Trauerfeier.

Es war eine Hassliebe geworden zwischen meinen Eltern. Trotzdem konnte mein Vater nicht ohne sie. Vier Wochen später erhielt ich die Nachricht von seinem Tod. Ich kümmerte mich um alles und dann kam der Tag seiner Beisetzung. Es war so beklemmend! Ausser mir war niemand da und die Beisetzung erschien mir wie eine Farce.

Meine Grosseltern und nun auch meine Eltern lagen auf diesem Friedhof und ich ging nun durch die Wege an vielen Gräbern vorbei und musste an meine Eltern, besonders an meinen Vater denken. Erinnerungen stiegen auf, Bilder, Gefühle.... Ich setze mich auf eine Bank und plötzlich wurde mir klar, dass es nun zu spät war. Zu spät für jedes Wort, jede Geste, jede Berührung und jedes Zuhören.

Ich habe dort erfahren was Reue bedeutet. Und ich habe dort gesessen und geheult wie ein Schlosshund.

Glücklicherweise habe ich es im Nachhinein geschafft, meinen Frieden mit meinem Vater und meiner Mutter zu machen.

Das alles ist nun über dreissig Jahre her....


Ich kann Deine Gefühle sehr gut nachvollziehen!:umarmen:
 
....Aber manchmal sind dreissig Jahre nicht genug, um zu vergessen und das Thema Reue wird passend zum nun bevorstehenden Osterfest noch einmal an die Oberfläche gespült.

Was der Beerdigung meines Vaters vorausging, war eine Szene bei der ich mich wahrhaft schäbig verhalten habe.

Mein Vater hatte vier Wochen vorher seine Frau verloren und nach der Beerdigung meiner Mutter begleitete ich den Wagen des Arbeiter Samariter Bundes der ihn zurück brachte und ging kurz mit hoch in seine Wohnung.

Er war nun auf sich allein gestellt, hatte niemanden mehr und hauste in einer verwahrlosten Wohnung, dem Alkohol weiterhin hoffnungslos verfallen und ohne menschliche Kontakte.

Ich blieb nur kurz und beim Abschied sagte ich ihm dann diesen Satz mitten ins Gesicht, der mich bis heute verfolgt:


"Rufe Du mich nie wieder an!"​

Ich werde nie in meinem Leben den Blick in seine Augen vergessen. Enttäuschung, Fassungslosigkeit, Unverständnis, ein Tiefschlag der ihm den Boden unter den Füssen entzog, eine unmenschliche Tat, ihn in dieser Situation so allein zu lassen.

Obwohl ich mir zu 100% sicher bin, dass er niemals "die Kurve gekriegt hätte" und dass weitere Kontakte der reine Krampf geworden wären, habe ich in diesem Moment grosse Schuld auf mich geladen und mich unmenschlich verhalten.

Selbst heute noch treibt mir der Gedanke daran die Tränen in die Augen und ich fühle mich wie ein Verräter, der einen fast hilflosen Vater einfach seinem Schicksal überlassen hat und ich fühle mich mies und schuldig dabei.

Die Reue holte mich schnell ein, denn schon als ich es ausgesprochen hatte merkte ich was es in ihm anrührte. Ich unterdrückte das Gefühl, wie so oft.

Doch dann, nach vier Wochen verstarb auch er und nach seiner Beerdigung bei der ausser mir und dem Pfarrer niemand mehr anwesend war, brach es dann beim Gang durch die Friedhofsanlage auf dem Rückweg über mich herein.

Mit voller Wucht wurde mir mein Verhalten klar. Doch nun war es zu spät.

Er würde mich nie wieder anrufen...


Auch wenn es keine Entschuldigung ist und auch keine Rechtfertigung, aber Du hast durch das Suchtverhalten Deiner Eltern auch sehr gelitten und viel Wut in Dir gehabt, von dem Standpunkt ist Deine Reaktion völlig normal. Die Wut muss raus, man möchte sich selber schützen, damit man nicht zerbricht. Und erst danach, wenn der Blick nach der Wuterleichterung klarer geworden ist, merkt man, dass man es auch anders hätte machen können!

Ich denke mal, dass Du auch die Überzeugung hast, dass der Tod nicht das endgültige Ende ist oder? Und dass die Verbindung zu den Verstorbenen bleibt?!? Deshalb würde ich sagen, dass Dein Vater von seinem jetzigen Zustand weiß, wie Du Dich fühltest, was Dein Beweggrund war und das versteht.
 
Mit der Beerdigung meiner Eltern war die Sache noch nicht zu Ende.

Es galt nun ihr Erbe anzutreten. Von der Vermieterin erhielt ich den Schlüssel zur Wohnung. Der Hausstand musste aufgelöst werden und die Wohnung geräumt werden.

Ich ging durch die einzelnen Zimmer. Erinnerungen kamen hoch. Hier war ich aufgewachsen und gross geworden. Mein Bett stand noch immer an seinem alten Platz in der Küche. Es hatte sich in der Wohnung nichts verändert. Zumindest nicht, was die Einrichtung anging. Das Mobilar jedoch war total herunter gekommen und beschädigt. Es war ein Chaos hier.

Das Bett meiner Eltern war auf einer Seite herunter gebrochen und so schief, dass man Sorge haben musste heraus zu rollen. Couch und Sessel im Wohnzimmer waren übersät mit Brandlöchern. Der Teppich in der Diele war so verdreckt, dass man das Muster darauf nicht mehr erkennen konnte. Dreck und Müll lagen überall herum.

Ich öffnete die Türen des Wohnzimmerschrankes und dessen Schubladen. Ein Umschlag mit knapp 200,00 DM lag darin. Ich legte ihn zurück. Einige Bilder nahm ich als Erinnerung mit. Das war das Einzige.

Das Erbe meiner Eltern lehnte ich ab. Ich informierte die Vermieterin darüber und als ich ihr den Schlüssel zurück gab, meinte sie dass ich das doch nicht machen könnte, es wären doch schliesslich meine Eltern gewesen. Doch ich wollte dieses Erbe damals auf keinen Fall antreten und machte dies dann auch bei Gericht amtlich.

Über die Jahre gab es immer wieder Momente und Situationen, die mich an diese schlimme Zeit zurückdenken liessen. Auch heute noch fahre ich manchmal beruflich durch die Strasse und komme an dem Haus vorbei in dem wir damals wohnten und ich schaue immer hoch in die 1. Etage...

Mir wurde bewusst dass es auch schöne Tage dort gab, besonders zu Anfang. Ein kleines Stück "Zuhause-Gefühl" konnte ich erhaschen bei dem Gedanken.

Ich konnte über die Zeit ein Stück weit Frieden mit meinen Eltern machen und denke, dass wir im nächsten Leben alle etwas besser machen können...
 
....Aber manchmal sind dreissig Jahre nicht genug, um zu vergessen und das Thema Reue wird passend zum nun bevorstehenden Osterfest noch einmal an die Oberfläche gespült.

Was der Beerdigung meines Vaters vorausging, war eine Szene bei der ich mich wahrhaft schäbig verhalten habe.

Mein Vater hatte vier Wochen vorher seine Frau verloren und nach der Beerdigung meiner Mutter begleitete ich den Wagen des Arbeiter Samariter Bundes der ihn zurück brachte und ging kurz mit hoch in seine Wohnung.

Er war nun auf sich allein gestellt, hatte niemanden mehr und hauste in einer verwahrlosten Wohnung, dem Alkohol weiterhin hoffnungslos verfallen und ohne menschliche Kontakte.

Ich blieb nur kurz und beim Abschied sagte ich ihm dann diesen Satz mitten ins Gesicht, der mich bis heute verfolgt:


"Rufe Du mich nie wieder an!"​

Ich werde nie in meinem Leben den Blick in seine Augen vergessen. Enttäuschung, Fassungslosigkeit, Unverständnis, ein Tiefschlag der ihm den Boden unter den Füssen entzog, eine unmenschliche Tat, ihn in dieser Situation so allein zu lassen.

Obwohl ich mir zu 100% sicher bin, dass er niemals "die Kurve gekriegt hätte" und dass weitere Kontakte der reine Krampf geworden wären, habe ich in diesem Moment grosse Schuld auf mich geladen und mich unmenschlich verhalten.

Selbst heute noch treibt mir der Gedanke daran die Tränen in die Augen und ich fühle mich wie ein Verräter, der einen fast hilflosen Vater einfach seinem Schicksal überlassen hat und ich fühle mich mies und schuldig dabei.

Die Reue holte mich schnell ein, denn schon als ich es ausgesprochen hatte merkte ich was es in ihm anrührte. Ich unterdrückte das Gefühl, wie so oft.

Doch dann, nach vier Wochen verstarb auch er und nach seiner Beerdigung bei der ausser mir und dem Pfarrer niemand mehr anwesend war, brach es dann beim Gang durch die Friedhofsanlage auf dem Rückweg über mich herein.

Mit voller Wucht wurde mir mein Verhalten klar. Doch nun war es zu spät.

Er würde mich nie wieder anrufen...

Das berührt mich tief, @Tolkien und auch ich kann gut nachvollziehen, wie du dich fühlst.
Ich kann mich da @Siriuskind nur anschließen, ich sehe das alles so wie sie, und habe es auch so erfahren.

Danke, dass du das mit uns teilst.
 
Der Gedanke an diesen Tag, an dem ich nach Jahren wieder die Wohnung meiner Eltern betrat, ruft noch einige Erinnerungen in mir wach.

So stand in der Küche - in der ich auch schlief - der Küchentisch an dem quasi tagsüber das Leben stattfand. Hier wurde gegessen, geredet und ich machte meine Schularbeiten dort. Wenn mein Vater von der Arbeit zurück kam, war dies die erste Anlaufstelle. Auch seine Arbeiten für seine Prüfung als Metzgermeister verrichtete mein Vater dort oft bis spät in die Nacht. Auf diesem Tisch lag immer eine farbig bedruckte Wachstuchtischdecke mit Mustern die damals so üblich waren.

Neu sah sie eigentlich nach meinem damaligen Empfinden ganz O.K. aus, aber nach kurzer Zeit war sie übersät mit Brandlöchern. Meine Eltern waren beide Raucher, doch nicht ein einziges Loch war von meinem Vater, sie waren alle von meiner Mutter! Und dies war etwas, dass meinem Vater totel gegen den Strich ging und er regte sich jedesmal über einen neuen Brandflecken auf. Der Kommentar meiner Mutter war dann: "Mein Gott, jetzt mach doch nicht so ein Theater wegen einem Brandloch, das kann doch mal passieren!" Es war aber schon das achtundzwanzigste Brandloch und mein Vater hatte kein Verständnis mehr dafür. Wenn es zu doll wurde, schaffte meine Mutter eine neue Tischdecke an.

Mein Vater hatte es gerne ordentlich und liebte gewisse Strukturen. So konnte er es auch z. B. überhaupt nicht ab, wenn bei einer Wurst die auf dem Frühstückstisch lag, der Inhalt herausgepuhlt wurde und die Pelle labberich herum hing. Er schnitt dann die Wurst schräg an, damit es wieder appetitlicher aussah. Dies war zum Teil sicher auch seinem Beruf geschuldet. Ich fand es so auch schöner, aber meine Mutter nahm weder daran noch an den vielen Brandlöchern Anteil. Dies machte meinen Vater immer total wütend und es gab so manchen Krach deswegen. Er nahm ihr übel, dass sie bei solchen Kleinigkeiten nicht auf ihn ein ging, wo sie doch wusste, dass diese Dinge ihm wichtig waren. Es wäre eigentlich ein Leichtes gewesen, aber es war wohl ihre Art und Weise meinem Vater so hinterrücks etwas "heimzuzahlen" für seine aggressiven und lautstarken Beschimpfungen.

Überhaupt hatte meine Mutter Marotten an sich, die einen schon auf die Palme bringen konnten. Ich erinnere mich an zig Situationen, in denen sie etwas vergessen hatte. Sie kochte etwas und es fehlte z. B. ein Gewürz, Sahne oder etwas Anderes was ausgegangen war. Gegenüber auf der anderen Strassenseite war direkt ein Edeka Laden. Anstatt zu sagen: "Gehe doch mal bitte eben rüber und hole mir Dies oder Das," (Oder es selbst zu holen) wollte sie wohl nicht zugeben, dass sie etwas vergessen hatte. Stattdessen kam: "Haaaach, jetzt fehlt mir das Gewürz und ich komme garnicht weiter. Was mache ich denn jetzt? Wie komme ich denn nun bloss da dran." Es war einfach nur zum Kotzen und machte mich wütend.

Ich konnte als Kind und Jugendlicher schon ganz gut auf stur schalten, aber wenn der Spruch dann zum 10. Mal kam, verlor ich die Nerven und ging hinüber, weil ich es nicht mehr hören konnte. (Da kommen mir meine beiden Ohr-OP's in den Sinn, die ich als Kind hatte). Es war eine ganz miese Tour von ihr und ich hasste sie dafür.

Diese hinterhältige Art mochte mein Vater auch überhaupt nicht. Er war jemand, der gerade heraus sagte was Sache war und im Wiederholungsfall wurde er dabei auch immer lauter. Im Laufe der Jahre wurden die Streitigkeiten immer mehr und immer lauter. Es war im ganzen Haus zu hören und weil er derjenige war der laut schrie, war er natürlich in den Augen aller der "Böse." Wenn ich die Wohnung mal verliess und Nachbarn im Hausflur traf, war mir dies peinlich weil klar war, dass sie dies auch mitbekommen hatten. Ja, Vater war der Böse. Leider habe ich mich diesbezüglich viel zu lange auf die Seite meiner Mutter geschlagen, denn die Ursache hatte meistens sie mit ihrem Verhalten gesetzt.

Als ich nach Jahren dann das Haus nach dem Tod meiner Mutter wieder betrat, traf ich im Erdgeschoss die Nachbarn. Sie erzählten mir von schlimmen Streitigkeiten und von einem Gespräch mit meiner Mutter in dem sie ihnen gesagt hatte, dass sie ins Krankenhaus müsste. Wenn sie wieder heraus käme, würde sie sich von meinem Vater scheiden lassen. Sie hatte Leberkrebs und starb im Krankenhaus. Es gab wohl nur diesen einen Weg für sie. Sie hätte das nicht geschafft.

Das Erbe meiner Eltern....

Ich hatte es ja abgelehnt, doch "erbt" man ja auch auf andere Weise von seinen Eltern. Über Verhaltensweisen, Sichtweisen, erlernten Strukturen und Meinungen haben wir alle jede Menge Erbe im Gepäck. In Anlehnung an meinen lauten und oft aggressiven Vater hatte ich lange Zeit für mich entschieden: Wer laut ist und schreit ist böse und im Unrecht. So verhält man sich nicht. Man kann doch alles in Ruhe regeln. Dies war so eine Art Wahlspruch meiner Mutter. Leider bin ich ihrer Ansicht diesbezüglich viel zu lange gefolgt.

Aber, man kann eben nicht alles in Ruhe regeln!

Manchmal ist ein Mass eben voll und es geht nicht mehr in Ruhe. So ging es meinem Vater mit meiner Mutter.
Irgendwann platzt der Kragen und das Fass läuft über. Wut ist auch ein Gefühl und sie immer zu unterdrücken ist nicht gut und krankmachend.

Wenn ich auf mein Leben zurück blicke finde ich viele Situationen, in denen ich mir durch das lange Zeit übernommene Verhalten von meiner Mutter im Bezug auf Wut unterdrücken, nicht Klartext reden wollen, keine notwendigen Veränderungen vornehmen wollen u.s.w. selbst geschadet habe. Im Rückblick lässt es mich heute feige, mutlos, selbst erniedrigt und hinter meinen Möglichkeiten zurückgeblieben aussehen. Es ist schon beschämend.

* * * * * * * * * *​

Die Erinnerung an mein Bett in der Küche liess ein Bild vor meinem geistigen Auge entstehen, in dem ich auf dem Bett sass und ein Zeugnis in meiner Hand hielt. Es war das Abgangszeugnis vom Gymnasium. Nachdem ich in der Volksschule nur Einser abgeliefert hatte war klar: Der Junge muss auf's Gymnasium. Besonders meine Mutter hatte dies sehr stolz gemacht. In ihrer Vorstellung sollte ich später einmal studieren. Beim Gymnasium ging mein Vater mit, allerdings waren Studenten und Akademiker gar nicht sein Ding. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und da wollte er auch bleiben. Hier gehörte er hin.

Umso grösser war Mutters Enttäuschung, als ich nach fünf Jahren auf dem Gymnasium das Handtuch werfen musste. Ich war einfach zu faul und bequem gewesen und hatte die Versetzung nicht geschafft. Auf dem Zeugnis stand: Er verlässt die Schule, um einen Beruf zu ergreifen. Ich begann ein Lehre...

Im zweiten Lehrjahr begann ich die Berufsschule zu schwänzen. Ich musste um 6.00 Uhr morgens aufstehen, um zur Arbeit zu fahren. Manchmal verschlief ich. Meine Mutter sagte dann. "Komm bleib heute hier, ich schreibe Dir eine Entschuldigung." Wenn mein Vater davon gewusst hätte, er hätte mir kräftig in den Arsch getreten - zu Recht!

Und irgendwann dann... der Abbruch meiner Ausbildung. Zwei verlorenen Jahre und die Enttäuschung war gross, besonders bei meinem Vater. Ich habe später zwar noch zwei Ausbildungsberufe abgeschlossen, aber diese Zeit war erst einmal vertan.


* * * * * * * * * *

In der elterlichen Wohnung fiel mein Blick auf einen alten Einkaufsbeutel. Kunstleder. Grau. Völlig abgegriffen und zerschlissen. Es gab ihn immer noch...

Ich war wohl zehn oder elf Jahre alt, als meine Mutter mich damit losschickte. Sechs oder sieben Häuser weiter gab es in unserer Strasse eine Schnapsbrennerei. Aus zwei Gründen konnte ich sie nicht leiden. Einerseits stank es bestialisch, wenn dort Schnaps gebrannt wurde, andererseits musste ich genau dorthin, um Schnaps für meine Eltern abfüllen zu lassen. Man konnte dort leere Flaschen abgeben, um sie wieder befüllen zu lassen. Zwei Schoppen mit Doppelkorn und direkt von gegenüber an der Bude noch zwei Flaschen Bier für meinen Vater, wenn er von der Arbeit kam.

Zwei Schoppen (später dann halbe Liter) und zwei Flaschen Bier in dem Beutel... das klapperte schon mal und genau das war mir dann peinlich, besonders im Treppenhaus. Eine Haustüre weiter wohnte mein Freund Peter. Sein Stiefvater war Alkoholiker und jeder kannte ihn hier. Er hatte schon nachts vor seiner Haustüre betrunken an einem Baum übernachtet, weil er es nicht mehr hoch geschafft hat. Meine Eltern waren auf dem gleichen Weg. Ich spürte dies und wusste nicht, was ich dagegen machen kann. Der Gang zur Brennerei war mir verhasst doch irgendwann ging ich ihn täglich. Heute noch kann ich meine Wut darüber spüren, weil ich nichts dagegen machen konnte.

Etwas später wurde dann aus den zwei Flaschen Bier ein Kasten. Der Getränkeladen war etwa 700-800 Meter entfernt. Der Vorteil war, dass ich nicht jeden Tag dorthin musste, aber das Klappern war bei jedem Schritt zu hören....

Was macht sowas mit einem Elfjährigen?

Mir war es peinlich dass die Nachbarn all dies immer deutlicher mitbekamen. Es gefiel mir überhaupt nicht, dass meine Eltern mich und sich selber in diese Abwärtsspirale brachten. Aber es war komischerweise auch noch etwas Anderes im Spiel. Mir fiel der wohlwollende Blick meiner Mutter ein, wenn ich mit meiner "Ladung" zurück kam und Bier, Schnaps und Zigaretten auspackte oder den Kasten Bier auf dem Balkon abstellte.

Ich hatte mir ihr Wohlwollen verdient. Ich hatte etwas beigetragen. Es war irgendwie ein schönes Gefühl. Zusammengehörigkeit. Familie.

Hierzu fällt mir spontan noch eine Situation ein, in der ich mit meiner Mutter bei meinem Opa war. Ich war vielleicht Fünf und spielte mit den Nachbarkindern vor der Tür. Meine Mutter kam herunter und wollte mich zu einem kleinen Laden schicken, etwas zu besorgen. (Sie hatte wieder etwas vergessen) Nun war ich aber gerade so mit dem Spielen beschäftigt, dass ich keine Lust hatte. Daraufhin sprach sie einen der Nachbarsjungen an, ob er ihr nicht die Dinge besorgen würde und zu diesem Laden gehen würde. Er war dazu bereit aber ich nahm dem Jungen das Geld aus der Hand und ging dann doch selber für sie zum Laden. Ich war total eifersüchtig.
 
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Der Gedanke an diesen Tag, an dem ich nach Jahren wieder die Wohnung meiner Eltern betrat, ruft noch einige Erinnerungen in mir wach.

So stand in der Küche - in der ich auch schlief - der Küchentisch an dem quasi tagsüber das Leben stattfand. Hier wurde gegessen, geredet und ich machte meine Schularbeiten dort. Wenn mein Vater von der Arbeit zurück kam, war dies die erste Anlaufstelle. Auch seine Arbeiten für seine Prüfung als Metzgermeister verrichtete mein Vater dort oft bis spät in die Nacht. Auf diesem Tisch lag immer eine farbig bedruckte Wachstuchtischdecke mit Mustern die damals so üblich waren.

Neu sah sie eigentlich nach meinem damaligen Empfinden ganz O.K. aus, aber nach kurzer Zeit war sie übersät mit Brandlöchern. Meine Eltern waren beide Raucher, doch nicht ein einziges Loch war von meinem Vater, sie waren alle von meiner Mutter! Und dies war etwas, dass meinem Vater totel gegen den Strich ging und er regte sich jedesmal über einen neuen Brandflecken auf. Der Kommentar meiner Mutter war dann: "Mein Gott, jetzt mach doch nicht so ein Theater wegen einem Brandloch, das kann doch mal passieren!" Es war aber schon das achtundzwanzigste Brandloch und mein Vater hatte kein Verständnis mehr dafür. Wenn es zu doll wurde, schaffte meine Mutter eine neue Tischdecke an.

Mein Vater hatte es gerne ordentlich und liebte gewisse Strukturen. So konnte er es auch z. B. überhaupt nicht ab, wenn bei einer Wurst die auf dem Frühstückstisch lag, der Inhalt herausgepuhlt wurde und die Pelle labberich herum hing. Er schnitt dann die Wurst schräg an, damit es wieder appetitlicher aussah. Dies war zum Teil sicher auch seinem Beruf geschuldet. Ich fand es so auch schöner, aber meine Mutter nahm weder daran noch an den vielen Brandlöchern Anteil. Dies machte meinen Vater immer total wütend und es gab so manchen Krach deswegen. Er nahm ihr übel, dass sie bei solchen Kleinigkeiten nicht auf ihn ein ging, wo sie doch wusste, dass diese Dinge ihm wichtig waren. Es wäre eigentlich ein Leichtes gewesen, aber es war wohl ihre Art und Weise meinem Vater so hinterrücks etwas "heimzuzahlen" für seine aggressiven und lautstarken Beschimpfungen.

Überhaupt hatte meine Mutter Marotten an sich, die einen schon auf die Palme bringen konnten. Ich erinnere mich an zig Situationen, in denen sie etwas vergessen hatte. Sie kochte etwas und es fehlte z. B. ein Gewürz, Sahne oder etwas Anderes was ausgegangen war. Gegenüber auf der anderen Strassenseite war direkt ein Edeka Laden. Anstatt zu sagen: "Gehe doch mal bitte eben rüber und hole mir Dies oder Das," (Oder es selbst zu holen) wollte sie wohl nicht zugeben, dass sie etwas vergessen hatte. Stattdessen kam: "Haaaach, jetzt fehlt mir das Gewürz und ich komme garnicht weiter. Was mache ich denn jetzt? Wie komme ich denn nun bloss da dran." Es war einfach nur zum Kotzen und machte mich wütend.

Ich konnte als Kind und Jugendlicher schon ganz gut auf stur schalten, aber wenn der Spruch dann zum 10. Mal kam, verlor ich die Nerven und ging hinüber, weil ich es nicht mehr hören konnte. (Da kommen mir meine beiden Ohr-OP's in den Sinn, die ich als Kind hatte). Es war eine ganz miese Tour von ihr und ich hasste sie dafür.

Diese hinterhältige Art mochte mein Vater auch überhaupt nicht. Er war jemand, der gerade heraus sagte was Sache war und im Wiederholungsfall wurde er dabei auch immer lauter. Im Laufe der Jahre wurden die Streitigkeiten immer mehr und immer lauter. Es war im ganzen Haus zu hören und weil er derjenige war der laut schrie, war er natürlich in den Augen aller der "Böse." Wenn ich die Wohnung mal verliess und Nachbarn im Hausflur traf, war mir dies peinlich weil klar war, dass sie dies auch mitbekommen hatten. Ja, Vater war der Böse. Leider habe ich mich diesbezüglich viel zu lange auf die Seite meiner Mutter geschlagen, denn die Ursache hatte meistens sie mit ihrem Verhalten gesetzt.

Als ich nach Jahren dann das Haus nach dem Tod meiner Mutter wieder betrat, traf ich im Erdgeschoss die Nachbarn. Sie erzählten mir von schlimmen Streitigkeiten und von einem Gespräch mit meiner Mutter in dem sie ihnen gesagt hatte, dass sie ins Krankenhaus müsste. Wenn sie wieder heraus käme, würde sie sich von meinem Vater scheiden lassen. Sie hatte Leberkrebs und starb im Krankenhaus. Es gab wohl nur diesen einen Weg für sie. Sie hätte das nicht geschafft.

Das Erbe meiner Eltern....

Ich hatte es ja abgelehnt, doch "erbt" man ja auch auf andere Weise von seinen Eltern. Über Verhaltensweisen, Sichtweisen, erlernten Strukturen und Meinungen haben wir alle jede Menge Erbe im Gepäck. In Anlehnung an meinen lauten und oft aggressiven Vater hatte ich lange Zeit für mich entschieden: Wer laut ist und schreit ist böse und im Unrecht. So verhält man sich nicht. Man kann doch alles in Ruhe regeln. Dies war so eine Art Wahlspruch meiner Mutter. Leider bin ich ihrer Ansicht diesbezüglich viel zu lange gefolgt.

Aber, man kann eben nicht alles in Ruhe regeln!

Manchmal ist ein Mass eben voll und es geht nicht mehr in Ruhe. So ging es meinem Vater mit meiner Mutter.
Irgendwann platzt der Kragen und das Fass läuft über. Wut ist auch ein Gefühl und sie immer zu unterdrücken ist nicht gut und krankmachend.

Wenn ich auf mein Leben zurück blicke finde ich viele Situationen, in denen ich mir durch das lange Zeit übernommene Verhalten von meiner Mutter im Bezug auf Wut unterdrücken, nicht Klartext reden wollen, keine notwendigen Veränderungen vornehmen wollen u.s.w. selbst geschadet habe. Im Rückblick lässt es mich heute feige, mutlos, selbst erniedrigt und hinter meinen Möglichkeiten zurückgeblieben aussehen. Es ist schon beschämend.

* * * * * * * * * *​

Die Erinnerung an mein Bett in der Küche liess ein Bild vor meinem geistigen Auge entstehen, in dem ich auf dem Bett sass und ein Zeugnis in meiner Hand hielt. Es war das Abgangszeugnis vom Gymnasium. Nachdem ich in der Volksschule nur Einser abgeliefert hatte war klar: Der Junge muss auf's Gymnasium. Besonders meine Mutter hatte dies sehr stolz gemacht. In ihrer Vorstellung sollte ich später einmal studieren. Beim Gymnasium ging mein Vater mit, allerdings waren Studenten und Akademiker gar nicht sein Ding. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und da wollte er auch bleiben. Hier gehörte er hin.

Umso grösser war Mutters Enttäuschung, als ich nach fünf Jahren auf dem Gymnasium das Handtuch werfen musste. Ich war einfach zu faul und bequem gewesen und hatte die Versetzung nicht geschafft. Auf dem Zeugnis stand: Er verlässt die Schule, um einen Beruf zu ergreifen. Ich begann ein Lehre...

Im zweiten Lehrjahr begann ich die Berufsschule zu schwänzen. Ich musste um 6.00 Uhr morgens aufstehen, um zur Arbeit zu fahren. Manchmal verschlief ich. Meine Mutter sagte dann. "Komm bleib heute hier, ich schreibe Dir eine Entschuldigung." Wenn mein Vater davon gewusst hätte, er hätte mir kräftig in den Arsch getreten - zu Recht!

Und irgendwann dann... der Abbruch meiner Ausbildung. Zwei verlorenen Jahre und die Enttäuschung war gross, besonders bei meinem Vater. Ich habe später zwar noch zwei Ausbildungsberufe abgeschlossen, aber diese Zeit war erst einmal vertan.


* * * * * * * * * *

In der elterlichen Wohnung fiel mein Blick auf einen alten Einkaufsbeutel. Kunstleder. Grau. Völlig abgegriffen und zerschlissen. Es gab ihn immer noch...

Ich war wohl zehn oder elf Jahre alt, als meine Mutter mich damit losschickte. Sechs oder sieben Häuser weiter gab es in unserer Strasse eine Schnapsbrennerei. Aus zwei Gründen konnte ich sie nicht leiden. Einerseits stank es bestialisch, wenn dort Schnaps gebrannt wurde, andererseits musste ich genau dorthin, um Schnaps für meine Eltern abfüllen zu lassen. Man konnte dort leere Flaschen abgeben, um sie wieder befüllen zu lassen. Zwei Schoppen mit Doppelkorn und direkt von gegenüber an der Bude noch zwei Flaschen Bier für meinen Vater, wenn er von der Arbeit kam.

Zwei Schoppen (später dann halbe Liter) und zwei Flaschen Bier in dem Beutel... das klapperte schon mal und genau das war mir dann peinlich, besonders im Treppenhaus. Eine Haustüre weiter wohnte mein Freund Peter. Sein Stiefvater war Alkoholiker und jeder kannte ihn hier. Er hatte schon nachts vor seiner Haustüre betrunken an einem Baum übernachtet, weil er es nicht mehr hoch geschafft hat. Meine Eltern waren auf dem gleichen Weg. Ich spürte dies und wusste nicht, was ich dagegen machen kann. Der Gang zur Brennerei war mir verhasst doch irgendwann ging ich ihn täglich. Heute noch kann ich meine Wut darüber spüren, weil ich nichts dagegen machen konnte.

Etwas später wurde dann aus den zwei Flaschen Bier ein Kasten. Der Getränkeladen war etwa 700-800 Meter entfernt. Der Vorteil war, dass ich nicht jeden Tag dorthin musste, aber das Klappern war bei jedem Schritt zu hören....

Was macht sowas mit einem Elfjährigen?

Mir war es peinlich dass die Nachbarn all dies immer deutlicher mitbekamen. Es gefiel mir überhaupt nicht, dass meine Eltern mich und sich selber in diese Abwärtsspirale brachten. Aber es war komischerweise auch noch etwas Anderes im Spiel. Mir fiel der wohlwollende Blick meiner Mutter ein, wenn ich mit meiner "Ladung" zurück kam und Bier, Schnaps und Zigaretten auspackte oder den Kasten Bier auf dem Balkon abstellte.

Ich hatte mir ihr Wohlwollen verdient. Ich hatte etwas beigetragen. Es war irgendwie ein schönes Gefühl. Zusammengehörigkeit. Familie.

Hierzu fällt mir spontan noch eine Situation ein, in der ich mit meiner Mutter bei meinem Opa war. Ich war vielleicht Fünf und spielte mit den Nachbarkindern vor der Tür. Meine Mutter kam herunter und wollte mich zu einem kleinen Laden schicken, etwas zu besorgen. (Sie hatte wieder etwas vergessen) Nun war ich aber gerade so mit dem Spielen beschäftigt, dass ich keine Lust hatte. Daraufhin sprach sie einen der Nachbarsjungen an, ob er ihr nicht die Dinge besorgen würde und zu diesem Laden gehen würde. Er war dazu bereit aber ich nahm dem Jungen das Geld aus der Hand und ging dann doch selber für sie zum Laden. Ich war total eifersüchtig.
Sehr berührend und schmerzlich zu lesen... 😥
 
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