Erinnerungen an meine Kindheit, zurück zum Anfang, wie alles begann

Tolkien

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Ich möchte hier vom Angebot des Forums Gebrauch machen, hier unter "Aufgeschrieben" ungestört meine Gedanken zu diesem Thema zusammenzutragen. Ich möchte darum bitten, diesen Thread nicht als eine Einladung zu verstehen, sich über alles Mögliche OT zu unterhalten. Bitte auch keine Videos posten.

Sinnvolle Beiträge, die sich direkt auf meine Posts und deren Inhalt beziehen, sind mir hingegen willkommen.
Diese würde ich als bereichernde Impulse ansehen.

Ich bin jetzt selbst Vater von 2 erwachsenen Kindern und seit einigen Jahren auch Grossvater. Jetzt weiss ich aus eigener Erfahung, wie schwierig und anstrengend es sein kann, Kinder gross zu ziehen. Und wie man da auch hier da, auch manchmal mal ganz schön an die eigenen Grenzen kommen kann und durchaus auch versagen kann. Aber auch, wie schön und wie bereichernd diese Erfahrung für das eigene Leben ist und sein kann.

Mit der Erfahrung von damals und dem Wissen von heute, erscheinen manche Dinge für mich rückblickend -heute auch in einem ganz anderem Licht. Wie von 2 Treppen höher aus betrachtet. Erkenntnisse blitzen durch die Erinnerungen, Erkenntnisse, die ich damals, so voll mitten im Stress noch gar nicht (zur Verfügung) hatte.

Ich habe festgestellt, dass es etwas in mir bewegt hier über diese Dinge zu schreiben und dass es mir gut tut, diese Innenschau zu halten und es hier niederzuschreiben. Ich könnte das natürlich auch in ein privates Buch schreiben, aber es hier auf diesem Forum niederzuschreiben, hat für mich schon eine eigenartige, energetisch irgendwie besondere Wirkung.

Ich empfinde es so, dass ich es mit Abstand betrachten kann und durch stille Mitleser auch noch Impulse dazu bekomme. Wenn ich nach einer Woche wieder herkomme und darauf schaue, hat sich gefühlt an allem hier wieder noch etwas neu verändert und der Blickwinkel ist wieder ein anderer. Es tut mir selbst sehr gut, dies hier zu tun, von diesem Forums-Angebot hier unter "Aufgeschrieben" -ungestört- in dieser Weise Gebrauch machen zu können. Es bringt mir persönlich etwas, in einer Weise, wie ich es nie gedacht hätte..

Ich kann Diejenigen, die es hier auch auf ihren Threads tun, jetzt sehr gut verstehen.


Nun denn....der kleine Junge in mir....

Beim Aufräumen im Keller fällt mir ein Karton ins Auge und als ich ihn öffne, fällt mir ein Baby-Foto von mir direkt vor die Füße. Diesem kleinen Jungen, der das Leben noch vor sich hatte, will ich, der die Hälfte seines Lebens schon hinter sich hat, auf diesem Thread gerne nach und nach ein paar Gedanken widmen.

Und so fing damals alles an..

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Das war mein erstes Weihnachtsfest.

Auf diesem Foto erlebe ich mit dreieinhalb Monaten mein erstes Weihnachtsfest gemeinsam mit meinem ersten Freund, der aber schon vor längerer Zeit von uns gegangen ist. Deutlich zu sehen ist der widerspenstige Wirbel links am Haaransatz meiner Stirn, an dem sich auch Jahre später noch etliche Frisöre die Zähne ausgebissen haben.

Das Weihnachtsfest wurde in der Wohnung meines heissgeliebten Opas gefeiert. Hier wohnten wir am Anfang alle, bis meine Eltern eine eigene Wohnung bekamen. An das Radio werde ich oft erinnert, wenn ich "Bares für Rares" anschaue - dort steht auch so ein toller Kasten.

Auch an das Schiff hinter mir, welches eigentlich ein Holzschuh war, kann ich mich noch gut erinnern. Es war halt ein typisches Accessoir in diesen Tagen. Tja das waren noch Zeiten.....1958.

Und hier ist mein stolzer Opa Friedrich Wilhelm, Baujahr 1897. Maschinenschlosser bei Krupp in Essen, U-Boot Maschinist im 1. WK.
Ein gütiger Mensch, den ich nie vergessen werde und obwohl er viel Schlimmes erlebt hatte, war er im Besitz von etwas, um das ihn viele beneideten.

Er war ein zufriedener Mann....

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Bis ich in die Schule kam lebte ich die Woche über bei Opa und Oma, da meine Eltern beide arbeiten gingen. Eine Krupp-Siedlung mit jeweils 6-Parteien im Haus. Ein kleinerer Spielplatz direkt vor der Haustür und ein grösserer 100 Meter entfernt.

Es gab viele grüne Wiesen zum Spielen, Gebüsche zum Verstecken, Bäume zum Klettern und jede Menge Spielkameraden. Also für einen kleinen Jungen optimal.

Wenn ich über diese Zeit nachdachte, hatte ich auch schon mal den Gedanken von "Abschieben." Letztlich denke ich dass es in diesem Lebensabschnitt aber eher ein Segen war und es gut war dass ich in diesen ersten sechs prägenden Jahren bei den Grosseltern aufwachsen konnte.

Denn Eines wurde mir später klar: Es war damals sehr sehr schwer eine Wohnung zu bekommen und meine Mutter hatte da für ihren Wunsch die passende Idee: Wir brauchen ein Kind!

Dadurch ging es schneller und als die Wohnung endlich da war, wurde ich zu den Grosseltern abgeschoben. Wer weiss wie es in der Wohnung bei meinen Eltern geworden wäre. Ich glaube dass mein Opa letztlich mein Lebensretter war. Er war immer da und zeigte mir seine kleine Welt in der er glücklich war.

Ich war als Mittel zum Zweck auf die Welt gekommen... benutzt... als Erfüllungsgehilfe für die Bedürfnisse meiner Mutter...

Nicht schön, aber die Wahrheit. Ich weiss es genau.

Als kleiner Junge wurde es mir nicht klar aber dieses Gefühl als Mittel zum Zweck ins Leben gekommen zu sein, hat mich unterbewusst lange begleitet und mein Leben beeinflusst und dies nicht auf positive Weise.

Mit fünf Jahren dann bekam ich Probleme mit meinem rechten Ohr. Es begann zu laufen und wollte nicht besser werden. Nach unzähligen Terminen beim Ohrenarzt machter der Doktor meinem Opa klar, dass nur eine OP helfen würde.

Als ich vom Termin wieder mit ihm bei Oma war und sie fragte was der Arzt gesagt hatte, wollte ich scherzen und sagte, dass ich ins Krankenhaus müsste. Ich wusste nicht wie Recht ich damit hatte.

Dann kam der Tag der Einweisung ins Krankenhaus. Opa brachte mich. Das Bethesda-Krankenhaus war schwesterngeführt und es herrschte ein strenges Regime. Dann die OP. Ich habe gezittert vor Angst und im OP-Zimmer den Arzt gefragt, ob er meine Hand halten könnte. Er tat es tatsächlich! Dann bekam ich Lachgas und schlief endlich ein.

Mit dickem Kopfverband wachte ich irgendwann auf und musste dann noch lange sechs Wochen in diesem fürchterlichen Krankenhaus bleiben. Besucht hatte mich meine Mutter ganze zwei Mal in dieser Zeit, mein Vater kam zwei oder drei mal abends allein vorbei.

Ich war im ersten Schuljahr und lebte nun komplett bei meinen Eltern. Sie stritten sehr oft. Mein Ohr begann wieder zu laufen. Ein zweiter Krankenhausaufenthalt war unvermeidlich. Ich hatte inzwischen ein Loch im rechten Trommelfell, schon so gross wie eine Bohne. Das Hyssenstift in Essen war nun sieben Wochen lang mein Ersatz-Zuhause.

Dann kam die OP. Man setzte mir ein Plastik-Trommelfell ein. Den Kopf dick verbunden brachte ich die nächsten Woche zu. Es juckte wie verrückt und ich kratzte ständig an meinem Ohr herum.

Besuche nur spärlich und am Wochenende - ausser mein Vater - der kam nach Feierabend einige Male zu Besuch.
Weil ich mit dem Kratzen nicht aufhören konnte, verpasste man mir Plastikschienen an den Armen über den Armbeugen, so dass ich sie nicht mehr beugen konnte und nicht an mein Ohr kam. Wie ein Behinderter ruderte ich mit meinen Armen herum und man nahm sie mir nur zum Essen und für die Toilette ab.

Als mein Vater dies bei einem seiner Abendbesuche sah, rief er sofort nach der Schwester und nach dem Arzt. Er sagte: "Diese Dinger machen Sie bei meinem Sohn sofort ab! Und wenn Sie es nicht machen wollen, dann mache ich es. So etwas machen Sie mit meinem Kind nicht!"

Mein Vater konnte sehr energisch sein und sein Auftritt hatte keinen Zweifel gelassen. Drei Minuten später konnte ich mich wieder frei bewegen. Er schärfte mir ein, dass ich nun nicht mehr am Ohr kratzen dürfte und irgendwie schaffte ich es auch.

Am letzten Sonntag vor der Entlassungswoche kamen noch einmal alle zu Besuch. Opa und meine Eltern. Meine Mutter fragte mich was ich mir denn wünschen würde nach dem langen Krankenhausaufenthalt und ich antwortete: Eine Katze! Überraschenderweise stimmte sie zu und ich freute mich umso mehr auf den ersten Tag daheim.

Doch was fehlte war eine Katze. Meine Mutter sagte mir nur, dass sie sich darum nicht auch noch kümmern könnte und dass wir keinen Platz dafür hätten.

Ich hatte nie ein eigenes Zimmer und beneidete Schulfreunde wenn ich sie besuchte und wir in "ihr eigenes" Zimmer gehen durften. Das Leben spielte sich zum grossen Teil in der Küche ab, in der sich auch in einer Ecke mein Bett befand. Wenn ich ganz selten mal einen Freund zu Besuch hatte und wir spielten, musste sofort alles abgeräumt werden, wenn mein Vater von der Arbeit kam.

Irgendwann später dann hatte ich meinen ersten eigenen Raum und ich hatte grosse Probleme ihn einzurichten. Es war nichts Eigenes da. Ich war ja zu anderen Zwecken gerufen worden und fühlte grosse Leere in mir. Es war ein verdammtes Scheißgefühl!

Nach all diesen langen Jahren merke ich jetzt gerade beim Schreiben wie immer noch etwas festsitzt in mir und ich platzen könnte. Und dass ich diese ganze alte Scheisse einfach herausreissen möchte!

Ich will frei sein davon und mein Leben einfach ganz in Besitz nehmen. Ohne irgendwelche Zwänge und alte Muster, die mich so lange behindert haben. Finden, kennen lernen und leben was in mir steckt. Zu 100%.

Kurz bevor ich ganz bei meinen Eltern war starb plötzlich meine Oma. Sie war die zweite Frau meines Opas gewesen und ich spürte wie ihn der Verlust schmerzte. Und ich verstand nicht, dass sie plötzlich nicht mehr da war. Im zweiten Weltkrieg hatte er seine erste Frau verloren. Zweimal wurden sie in Essen ausgebombt und sind dann in eine Notwohnung in Berlin gekommen, zu entfernten Bekannten.

Vor Kriegsende war Luftalarm in Berlin. Alle liefen in den Luftschutzkeller im Haus. Das Haus erhielt einen Volltreffer und stürzte ein. Seine erste Frau - meine richtige Oma - warf sich auf meine Mutter um sie zu schützen und starb dabei. Meine Mutter überlebte und wurde aus den Trümmern gerettet. Meine richtige Oma habe ich leider nie kennen gelernt.

Opa hat es das Herz gebrochen. Er war allein, ich lebte nun bei meinen Eltern. Er veränderte sich. Zweimal die Woche besuchte ich ihn. Einmal alleine, einmal mit meiner Mutter, weil sie bei ihm sauber machte.

Nach einiger Zeit wollte meine Mutter einen Hund haben. Ein kleiner Zwergpudel (Jerry) kam zu uns in die Wohnung. Verhätschelt und verwöhnt genoss er ein schönes Leben. Ständig auf Mutters Schoss und von meinem Vater mit Leckereien verwöhnt - er war Metzgermeister.

Das Gassigehen wurde mir aufgebrummt und als meine Mutter eine neue Arbeit annahm, musste ich das Tier mit dem Fahrrad zu meinem Opa bringen und nach der Schule wieder abholen. Ich mag keine Zwergpudel mehr.

Als ich elf Jahre alt war, starb mein Opa. Er hatte einen schnellen Tod. Beim Zubettgehen ist er über den Bettvorleger gestolpert und mit der Schläfe auf die Kante des Nachttisches aufgeschlagen. Er war sofort tot. Meine Mutter fand ihn, als sie zum Saubermachen kam.

Mich hat sein Tod total erschüttert und ich erinnere mich wie ich mich darüber gewundert habe, dass bei meiner Mutter keine Träne floss. Opa war in einem Marinekameradschaftsverein gewesen und bei seiner Beerdigung spielte eine Marinekapelle. Es war so traurig! Ich konnte mich kurz beherrschen, doch dann heulte ich laut los. Mein Vater herrschte mich an, ich sollte mich gefälligst zusammenreissen...

Einige Monate später wurde unser Hund frühmorgens von einem Bus überfahren. Mein Vater war mit ihm Gassi gegangen und brachte ihn sofort zu einem Tierarzt. Ich blieb von der Schule zuhause an diesem Tag. Alle sassen wir im Wohnzimmer und warteten auf den Anruf des Tierarztes, ob er ihn durchgebracht hätte. Dann kam der Anruf.... er hatte es nicht geschafft. Meine Mutter brach in Tränen aus und konnte sich nicht mehr beruhigen. Sie war völlig ausser sich und war tagelang neben der Spur. Auch ich musste weinen, denn er gehörte doch zu unserer Familie. Das war nun alles O.K.

Ich musste an die Beerdigung meines Opas denken.... reiss Dich zusammen...

Ich könnte kotzen über so viel Verlogenheit!

Wir waren in eine andere Wohnung gezogen. Etwas grösser, etwas schöner. Ein eigenes Zimmer hatte ich immer noch nicht. Wieder bekam ich den Platz in der Küchenecke, an den ich schon gewöhnt war.

Meine Mutter kam über den Verlust des Hundes nicht hinweg. Es wurde ein neuer Pudel angeschafft. Gleicher Name, gleiche Rituale, gleicher Ablauf.

Er hatte nur eine schlimme Angewohnheit... er pinkelte ständig in mein Bett. Irgendwann war es dann mal soweit. Ich wurde nachts wach und bemerkte wie meine Hand etwas Nasses fühlte. Schäumend vor Wut warf ich den Hund aus meinem Bett, der laut aufjaulte. Meine Eltern kamen gleich angerannt und obwohl sie schon öfter mitbekommen hatten, dass er in mein Bett machte hörte ich nur ein: "Stell Dich nicht so an, dann beziehen wir das Bett eben neu und Du legst ein Handtuch unter."

Ich kann mich daran erinnern als ich Zwölf oder Dreizehn war, dass ich am Morgen einen Flecken auf der Bettdecke sah. Er war aber nicht von unserem Hund, nein - er war von mir. Die ersten Schritte vom Jungen zum jungen Mann hatten mich im Schlaf überrascht und einen Fleck auf dem Bettuch hinterlassen. Es war mir total peinlich.

Die Reaktion meiner Mutter war, dass sie mir schwerste Vorwürfe machte. "Meinst Du ich weiss nicht, was Du da tust? So eine Sauerei!" Ich bin fast im Erdboden versunken und fühlte mich so, als hätte ich gerade jemanden umgebracht. Etwas ganz Natürliches was einem in diesem Alter halt passiert wurde so verdreht, dass man sich schuldig fühlte dabei.

Ein Hund war mehr wert als ich.

So eine verlogene Scheisse!
 
Hier ein Bild von mir kurz nach meiner Einschulung.

Ein Fotografenpaar hatte Erstklässler "abgepasst" und gesagt, dass sie Fotos von uns machen sollten. Meine Adresse sollte ich auch angeben. Kurz darauf waren sie bei uns und wollten für das Bild 10 oder 20 Mark haben, ich weiss nicht mehr genau wie viel.

Meine Mutter war sauer auf mich, weil wir schon ein Bild hatten mit meiner Tüte.

Ich finds schön und würde es wieder machen...extra!

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Ich erinnere mich an meine Geburtstage als ich bei bei meinem Opa lebte. Pünktlich, schon zum Frühstück stand er auf dem Tisch: Der Gugelhupf!




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Und dann erhielt ich ihn.... immer persönlich und aus seiner Hand.... mit einem wohlwollenden Blick:
Er holte seine Geldbörse hervor und kramte etwas darin herum um es spannend zu machen....

Der Fünfer als Schein...

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Ich durfte an die Bude in der Nähe gehen und mir etwas zu "Schnuppen" holen. "Klümpchen", wie wir sagten, aber nur für höchstens 1 Mark. Den Rest habe ich gespart und war ganz stolz, soooo viel Geld zu haben.

Und ich durfte mir an diesem Tag etwas Besonderes zum Essen wünschen und es war immer das Gleiche:
Griespudding!

Meist war es nebelig morgens auf dem Weg zur Bude und ich fand es ganz toll.

Dieses "Geburtstagsritual" und Opas wohlwollender Blick haben mir das Gefühl gegeben etwas wert zu sein und ich habe mich immer auf Geschenke gefreut. Dies hat mich durch mein ganzes Leben positiv begleitet.

So hatte ich z. B. einen Freund der mich immer wieder mit neuen Arbeitsstellen "beschenkte". Immer wenn es mir irgendwo nicht mehr gefiel und ich dort weg wollte, rief er mich wie auf Bestellung an und berichtete von seinem neuen Job und das dort noch jemand gebraucht würde. Das Gehalt hatte er auch schon für mich verhandelt. Ich musste quasi nur noch vorbeigehen und unterschreiben.

Bis heute lasse ich mich gerne beschenken von Menschen, die gerne und von Herzen schenken und sich selber daran freuen können....
 
Als ich etwa 10 Jahre alt war, brach bei meinen Kumpels und mir der "Bauboom" aus. Irgendwo her war ein Spaten aufgetaucht und wollte gebraucht werden. Damals gab es noch viele freie Flächen und Wiesen und wir konnten uns aussuchen, wo wir unsere Löcher für unsere "Buden" graben wollten.

Gleich neben unserem Haus gab es ein verwildertes Grundstück, schön mit Büschen und Sträuchern bewachsen, so dass man nicht gleich gesehen wurde. Hier sollte der Spaten zu Beginn der Sommerferien zum Einsatz kommen. Wir gruben ein etwa 1,50 mtr. tiefes Loch, organisierten Holzbalken und Schaltafeln von diversen Baustellen und verschlossen damit die Decke. Eine aufklappbare Holzluke ermöglichte uns den Ein- und Ausstieg. Zum Schluss wurde das Dach mit Grasplatten belegt. Wäre nicht ein unscheinbarer kleiner Trampelpfad gewesen, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass mitten in dem Wildwuchs unser kleines Paradies entstanden war.

Jeder brachte etwas von Zuhause mit. Geschirr, Besteck, Milch, eine Tüte Haferflocken, Trinkbecher, Zucker, Süssigkeiten u.s.w. Es wurde richtig wohnlich dort und wir hatten unseren Spass. Jedenfalls einige Tage lang.

Doch eines Morgens standen wir alle geschockt auf dem Bürgersteig vor unserem Feld mit der Paradiesbude.
Bagger waren angerollt und eine Planierraupe. Fast alles war schon gerodet. Und der grösste Schock war.... ein Bagger war mit einem Rad auf unsere Bude gefahren und eingestürzt. :eek: Wenn herauskam, dass wir das waren.... nicht auszudenken.

Traurig aber tapfer sahen wir dem Treiben zu. Letztlich zog die Planierraupe den Bagger wieder ins Leben zurück und wir waren erleichtert, dass der Schaden sich in Grenzen hielt. Die Sache wurde Tagesgespräch und abends fragte mich mein Vater beim Essen, was denn dort passiert sei. Ich erzählte ihm dass ein Bagger in ein Loch gestürzt wäre und dass die Planierraupe ihn wieder herausgezogen hatte.

Mein Vater arbeitete direkt neben dem Grundstück in einer Metzgerei und sein Blick verriet mir... er wusste Bescheid.

Ich war heilfroh, dass er kein Aufhebens darum gemacht hatte und am nächsten Morgen suchten wir uns ein neues Grundstück....
 
Nach einer darüber geschlafenen Nacht ist mir etwas klar geworden.

Als ich zur Welt kam, war mein Vater noch nicht volljährig (damals noch mit 21 Jahren) Und es gab jemanden, dem dies ganz und gar nicht gepasst hat. Meinem Opa. Opa war noch einer vom "alten Schlag". Da hatte alles seine Ordnung und alles musste korrekt ablaufen. Er hat es meinen Vater bestimmt spüren lassen.

Meine Mutter war damals 26 Jahre alt, sie war fünf Jahre älter als mein Vater. Bei ihr war also alles "in Ordnung."

Soweit ich weiss, musste im Falle einer Heirat ohne Volljährigkeit das Einverständnis der Eltern eingeholt werden. Ein neues Problem, denn Vater war mit 18 Jahren unter abenteuerlichen und lebensbedrohlichen Umständen von Zuhause weggegangen und dies nicht im besten Einvernehmen mit seinen Eltern.

Aber irgendwie hat er es geschafft....
 
Mein Grossvater väterlicherseits hatte ein kleines Fuhrunternehmen in Neuruppin.

Wie mir als Kind erzählt wurde .....
kam irgendwann beim Grossvater väterlicherseit der Gedanke auf,mit Sack und Pack in den Westen zu ziehen, auszuwandern. Was damals wohl nicht so ganz einfach war.

Mein Vater war begeistert. Er kundschaftete mögliche Wege aus durch Wälder und einen Schlagbaum, der einfach durchbrochen werde sollte mit dem LKW meines Grossvaters und mein Vater begann die Route z organisieren. Das Ganze ging soweit, dass dann ein Termin feststand, an dem die ganze Sache stattfinden sollte.

Einen Tag vor diesem Termin machte der Vater meines Vaters einen Rückzieher. Mein Vater war total enttäuscht und beschloss, sich alleine auf den Weg zu machen.

Mit einem kleinen Koffer und seinem Gesellenbrief als Metzger in der Tasche zog er zu Fuss nachts alleine los. Jetzt nun gegen den Willen seines Vaters, der als sehr strenger Patriarch, der nun auf sein Recht als "ansagendes Familienoberhaupt" pochte und nicht wollte, dass die Familie auseinander gerissen wird.

Aber mein Vater war fest entschlossen den Weg nach Westen zu gehen und schlug sich alleine durch bis nach Essen. Kam dann in einem Heim für alleinstehende Männer unter. Er fand schnell Arbeit und s lernte dann später meine Mutter kennen. Das Wie habe ich nie erfahren. Was dann letztlich zu meinem Erscheinen hier führte.

Seine eigene kleine Familie hatte für meinen Vater immer einen sehr hohen Stellenwert, wahrscheinlich weil er seiine Herkunftsfamilie hinter sich gelassen hatte. Mein Vater stand immer bis fast zuletzt sorgend und beschützend vor uns, als seiner Familie. Dies ist etwas, dass ich ihm bis heute hoch anrechne, damit hat er mir als Kind etwas sehr Wertvolles, eigentlich Unbezahlbares fürs Leben mitgegeben. Das Selbstverständnis , dass ich etwas wert bin, meine Existenz, mein Sein - wie ich bin, wertvoll und schützenswert ist. Das ist etwas, was ich im Leben dann auch immer als selbstverständlich aus mir heraus empfand, wodurch ich tatsächlich auch wenig Stress mit anderen Menschen hatte - ein Hänseln in der Schule und auch später, nie erlebt habe.

Auch der gute Ruf seiner Familie wie seines Sohnes war ihm sehr wichtig. Ich erinnere mich an eine Geburtstagsfeier bei meinem Opa, bei der ein Verwandter eine blöde Bemerkung machte, die auf eine möglicherweise schlechte Erziehung bei mir hindeuten sollte. So schön von hinten durchs Ohr und durch die Nase wieder raus mit einem bunten Blümchen dran...

Mein Vater stand auf, ging auf den Mann zu und stellte ihn zur Rede. So etwas liess er nicht auf sich sitzen. Es wurde laut - mein Vater konnte sehr laut werden und war eine stattliche Erscheinung - und kurz darauf zogen die blöden Typen von dannen. Die Feier war geschrottet, aber das war ihm egal. Meiner Mutter war die Sache mehr als peinlich, aber ich glaube dass sie letztlich im Nachhinein sogar auch ein wenig stolz auf ihn war.

Er war immer ohne Umschweife direkt und geradeheraus, sagte was zu sagen war. War ein immer fleissiger Mann, der überall bei Kollegen und Chefs einen guten Ruf hatte - auch als Kumpel.

Über die Jahre und Jahrzehnte hatte er sich alles selbst und allein angeschafft und aufgebaut und er war stolz darauf. Es war klein, überschaubar, aber fein. Jeder seiner Arbeitgeber lobte ihn in den höchsten Tönen und wenn er einmal eine Stelle wechselte, waren die Chefs immer sehr traurig darüber. Auch nach seinem Tod - wenn ich mal ehemalige Kollegen von ihm traf, sprachen alle nur in den besten Tönen von ihm als fleissiger und immer hilfsbereiter Kumpel.

Ja, so war das...
 
Mein Stammbaum und meine Ahnenreihe sind gut ausgeglichen.

So liebenswert und gutmütig wie mein Opa mütterlicherseits war, so gegenteilig war mein Opa väterlicherseits. Meinen "normalen" Opa konnte ich jeden Tag sehen, wenn ich wollte. Der andere Opa lebte in der damaligen DDR und Kontakte beschränkten sich auf gelegentliche Briefe der Oma oder seltene Telefonate mit ihr. Der Vater meines Vaters kam nie ans Telefon.

Als Drei- oder Vierjähriger hatten meine Mutter und ich die Grosseltern in Neuruppin für ein paar Tage besucht. Aber meine Erinnerung daran war fast gänzlich verblasst. Umso mehr freute ich mich, als ich hörte dass mein zweiter Opa uns besuchen würde. Ich freute mich wirklich darauf ihn zu sehen. Doch hatte ich das Gefühl dass sich die Freude bei meinen Eltern, besonders bei meinem Vater ziemlich in Grenzen hielt.

Der Tag seiner Ankunft war gekommen und mein Vater und ich fuhren zum Bahnhof um ihn dort abzuholen. Wir standen am Bahnsteig und sein Zug fuhr ein. Ein kurzer Blick, dann sagte mein Vater: Da isser! Selbst heute noch läuft mir ein Schauer den Rücken herunter, wenn ich mir den Tonfall meines Vaters ins Gedächtnis rufe. Es war wie eine Mischung aus Wut und Verachtung, aber es schwang auch irgendwie Stolz mit in seiner Stimme. Er hatte etwas erreicht hier und nun würde er seinem Vater zeigen was. Und Hoffnung. Die Hoffnung darauf, seine Liebe zu spüren.

Die Begrüssung der beiden war sehr kühl. Ein Händedruck, keine Umarmung, "Hallo Vatter", "hallo A. Ich ging auf ihn zu und drückt ihn, doch es war keine Wärme zu spüren. Ich war ein wenig enttäuscht aber dennoch glücklich ihn zu sehen. Zuhause angekommen begrüsste er meine Mutter mit der gleichen Reserviertheit und ich hatte das Gefühl dass dieser Mann nicht zur Familie gehört.

Sein runder Kopf mit dem Mondgesicht wirkte mehr und mehr abschreckend auf mich doch seine Piepsstimme liess mich irgendwie hoffen, dass er ein liebevoller Mensch wäre. Am nächsten Morgen hörte ich aus einem Gespräch meiner Eltern heraus, dass sie am Abend gestritten hatten als ich schon schlief. Als wir später gemeinsam am Küchentisch sassen, kam unser Hund heran und beschnüffelte ihn unter dem Tisch. Er trat nach ihm. Der Kennenlernbesuch bei meinem anderen Opa machte dann klar, dass die beiden so verschieden waren wie Tag und Nacht. Sie waren sich nicht sympathisch. Und auch bei mir hatte "Opa" nun verloren....

Mein Vater wollte seinem Vater zeigen was er hier erreicht hatte. Er wollte dass er ein wenig Stolz auf seinen Sohn ist und dies schönerweise auch zeigen würde. Ein kleines Stückchen von seiner Liebe, dass wäre meinem Vater viel wert gewesen. Doch er war kalt wie ein Fisch. Im Laufe der Zeit erfuhr ich, wie hart und verletzend er zu seinen Kindern gewesen war. Mein Vater hatte noch einen jüngeren Bruder und eine kleine Schwester. Gefühle wurden unterdrückt und das erwartete er auch von seinen Sprösslingen.

Mein Vater hatte eine künstlerische Begabung. Ich habe ein Foto von ihm, wo er sich als Mann aus dem Mittelalter verkleidet hatte. WOW! Es sah ganz toll aus. All dies muste unterdrückt gehalten werden, denn Künstler waren ein NoGo für seinen Vater. Doch es kam bei meinem Vater doch noch einmal zum Ausdruck. Aus seiner Entzugstherapie brachte er eine Baumwurzel mit, die er selbst bearbeitet und lackiert hatte. Sie war wunderschön und bekam einen Ehrenplatz in unserem Wohnzimmer und er hütete sie wie seinen Augapfel. Er selbst kam völlig verändert wieder nach Hause. Doch leider hielt es nicht an....

Ja und dann gab es da noch meine Oma väterlicherseits...

Als Drei/Vierjähriger hatte ich sie bei unserem Besuch in Neuruppin gesehen, danach nicht mehr. Aber sie war es, die den Briefkontakt aufrecht erhielt und ab und zu einmal anrief. Sie war Stationsschwester in einer Polio-Kinderklinik und ich freute mich über jeden Brief von ihr und besonders, wenn sie einmal anrief. Sie hatte eine so angenehme und beruhigende Stimme und ein freundliches Wesen. Sie kümmerte sich um alle und alles und hielt den Laden zusammen.

Eine Gemeinsamkeit hatten meine beiden Opas allerdings doch: Sie waren beide "Bierkutscher" gewesen.
 
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Passiert Dir bei dem Rückblick nicht, dass eventuell auch Reue oder Schuldgefühle hochkommen über bestimmte Handlungen oder Aussagen?
Natürlich! Ich bin ein Mensch wie alle und kann nicht behaupten, dass ich in meinem Leben immer alles richtig gemacht habe. Es gab auch Situationen, in denen ich mich nicht mit Ruhm bekleckert habe oder in denen ich mich aus heutiger Sicht falsch verhalten habe. Manchmal war ich tatsächlich ein Arsch, ja!

Ich denke wenn einem das klar wird, hat man schon eine Menge gewonnen.


Da gab es ein dickes Paket...

Ich hatte mit meinen Eltern gebrochen und etwa 10 Jahre keinen Kontakt zu ihnen, da sie hoffnungslos dem Alkohol verfallen waren. Mein Vater rief mich an und teilte mir mit, dass meine Mutter verstorben sei. Ich fuhr zu ihm und kümmerte mich um ihre Beerdigung, holte ihre Sachen aus dem Krankenhaus ab und brachte alles meinem Vater. Es waren vier Leute bei der Trauerfeier.

Es war eine Hassliebe geworden zwischen meinen Eltern. Trotzdem konnte mein Vater nicht ohne sie. Vier Wochen später erhielt ich die Nachricht von seinem Tod. Ich kümmerte mich um alles und dann kam der Tag seiner Beisetzung. Es war so beklemmend! Ausser mir war niemand da und die Beisetzung erschien mir wie eine Farce.

Meine Grosseltern und nun auch meine Eltern lagen auf diesem Friedhof und ich ging nun durch die Wege an vielen Gräbern vorbei und musste an meine Eltern, besonders an meinen Vater denken. Erinnerungen stiegen auf, Bilder, Gefühle.... Ich setze mich auf eine Bank und plötzlich wurde mir klar, dass es nun zu spät war. Zu spät für jedes Wort, jede Geste, jede Berührung und jedes Zuhören.

Ich habe dort erfahren was Reue bedeutet. Und ich habe dort gesessen und geheult wie ein Schlosshund.

Glücklicherweise habe ich es im Nachhinein geschafft, meinen Frieden mit meinem Vater und meiner Mutter zu machen.

Das alles ist nun über dreissig Jahre her....
 
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