Jetzt muss um es Plan B gehen
Von Michael Müller
Naomi Klein kritisiert in der FR, dass auf der UN-Klimaschutzkonferenz das "Zwei-Grad-Ziel" als Rettung der Welt ausgegeben wurde, obwohl es für weite Teile unseres Planeten bereits katastrophale Folgen hätte. Schon in den achtziger Jahren wies die Klimaforschung darauf hin, dass in ökologisch sensiblen Regionen die Aufheizung zwei bis drei Mal stärker sein werde als im Weltdurchschnitt.
Diese regionalen Folgen wurden 2007 im 4. Sachstandsbericht des Weltklimarates konkret beschrieben. Bei einer globalen Erwärmung um zwei Grad werden auf dem afrikanischen Kontinent, wo bereits rund 230 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung leiden, die Ernteerträge bis zu 40 Prozent zurückgehen. In Asien werden rund 40 Prozent der 635 Millionen Menschen, die in Flussdeltas oder niedrigen Küstenzonen leben, von Hochwasser und steigendem Meeresspiegel existenziell betroffen sein. In Lateinamerika wird das Abschmelzen der Andengletscher die Trinkwasserversorgung und Energiebereitstellung von bis zu 100 Millionen Menschen gefährden.
Tatsächlich bedeutet bereits das Zwei-Grad-Ziel ein eklatantes Versagen der Politik, nicht frühzeitig und schon gar nicht konsequent gehandelt zu haben. In Kopenhagen, so Klein, wurde Afrika geopfert. Tatsächlich sind von der Aufheizung die Antarktis die pazifischen Inselstaaten und die ärmsten Weltregionen, in erster Linie Afrika und Bangladesh, am stärksten betroffen. Doch Kopenhagen legte sich nicht einmal auf dieses unzureichende Ziel fest. Die COP 15 droht als Sterbehilfe für das Weltklima in die Geschichte einzugehen, auch wenn es falsch ist, Klimaschutz allein an "Weltkonferenzen" festzumachen.
Eine Folge des Kolonialismus
Auch der Kyoto-Vertrag blieb weit hinter dem Notwendigen zurück. Doch die EU kann, wenn sie sich gegen die Wirtschaft durchsetzt und die Lasten des Umbaus gerecht verteilt, auch ohne einen solchen Vertrag weit mehr für den Schutz der Atmosphäre tun.
Warum kommt der Klimaschutz nicht voran, obwohl sich alle Regierungschefs dazu bekennen? Wo es im Vorfeld von Kopenhagen faktisch keinen Multi mehr gab, der nicht mit und für Green Tech geworben hat. Naomi Klein behauptet, dass die Industriestaaten die Atmosphäre als Wertstoffquelle zu Lasten der armen Länder nutzen wollen. Deshalb sei kein Abschluss immer noch besser als ein schlechter. Keine Frage, der Kapitalismus ist eine wesentliche Ursache für die Zerstörung des Klimas. Ohne mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd wird es keinen Fortschritt geben, denn die Klimagefahren sind eine Folge des Kolonialismus´, der die sozialen und ökologischen Folgen des maßlosen Gewinnstrebens auf Natur, Arme und Zukunft abwälzt.
Dennoch ist die Antwort von Naomi Klein zu simpel. Sie bleibt perspektivlos. Beim Emissionshandel lässt Klein wichtige Fakten weg, denn die Mehrheit der Europäer wollte in Kyoto kein Zertifikatesystem, sondern eine Energiesteuer. Sie hat den auch von mir kritisch gesehenen Emissionshandel aufgegriffen, um die USA, wo auch unter Clinton/Gore die Blockaden immer größer wurden, ins Boot zu holen. In Amerika wurde dieses Instrument nämlich im Clean-Air-Act gegen Schwefel und Stickoxide genutzt. Dennoch hat sich die kapitalistische Supermacht USA dem Kyoto-Vertrag und auch dem Emissionshandel verweigert, während in Deutschland, das zu wenig - aber mehr als andere Industriestaaten - für den Klimaschutz tut, heute knapp 55 Prozent der CO2-Emissionen vom Zertifikatehandel erfasst werden. Und das Umweltministerium gibt ein Drittel seiner Einnahmen daraus für Klimaschutzprojekte in der Dritten Welt aus.
Heute ist China der größte Emittent
Die Geburtsfehler des Kyoto-Vertrages entsprangen der Angst Washingtons, dass ein anderes Abkommen den USA, damals weitaus größter Emittent, weitergehende Minderungen abverlangt hätte. Deshalb sollten die Reduktionsverpflichtungen in der ersten Phase auf die Industriestaaten beschränkt bleiben, die alle einen behutsamen Einstieg wollten. Trotz dieser taktischen Rücksichtnahme lehnte George W. Bush den Vertrag mit der Begründung ab, dass die Schwellenländer nicht einbezogen sind.
Vor 20 Jahren verursachten die Industriestaaten noch 74 Prozent der globalen Kohlendioxidemissionen. Das hat sich völlig verschoben. Heute ist China der größte Emittent. Auf die Schwellen- und Entwicklungsländer entfallen bereits 52 Prozent des CO2-Ausstosses. Pro Kopf werden die Industriestaaten noch lange Zeit die Hauptverantwortlichen des Klimawandels bleiben, doch aus der Quantität der nachholenden Industrialisierung und wachsenden Weltbevölkerung entsteht eine neue Qualität der Naturzerstörung. Brasilien, China, Indien und Indonesien gehören zu den Top Ten der Klimasünder.
Das Scheitern von Kopenhagen muss vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die künftige Weltordnung gesehen werden. Die Konflikte um Macht, Wachstum und Wirtschaftsinteressen spitzen sich zu. Kopenhagen stand nicht mehr unter der Regie von Nordamerika und Europa. Indien und vor allem China sind zu gleichberechtigten Akteuren aufgestiegen. Hinzu kam das selbstbewusste Auftreten Afrikas und der Inselstaaten, die nicht bereit waren, ihren Niedergang kampflos hinzunehmen. Die Reaktionen auf die Intervention Tuvalus, dem vom Klimawandel bedrohten Inselstaat im Pazifik, zeigten: Es geht um die Interessen der reichen Staaten und der Aufsteiger, nicht aber um eine faire und gerechte Weltordnung. Deshalb fand Tuvalu, dessen Bewohner bereits den völligen Umzug nach Australien oder Neuseeland planen, nicht die Unterstützung der Global Player, eine verbindliche Erwärmungsobergrenze bei 1,5 Grad Celsius festzulegen.
In Kopenhagen wurde die zynische Ignoranz und Arroganz der wuchtig wie blockierend auftretenden Staatschefs vieler Schwellen- und Industriestaaten deutlich. Sie verhandelten in kleinen exklusiven Runden und hielten die Hauptbetroffenen des Klimawandels weitgehend raus. Daran war die Bundeskanzlerin mit ihren eilfertigen Verhandlungen nicht unbeteiligt. Nachdem sie vor zwei Jahren für mutige Vorschläge den Titel "Klimakanzlerin" bekommen hatte, operierte sie diesmal mit angezogener Handbremse, schaltete sich erst spät in die Verhandlungen ein und verlor an Glaubwürdigkeit, weil sie in Brüssel energie- und verkehrspolitische Maßnahmen abgelehnt hat, die den Klimaschutz vorangebracht hätten.
Keine Zeit zu warten
Und doch geht die These von Naomi Klein, lieber kein Abschluss als ein schlechter, an der Wirklichkeit vorbei: Auch kein Abschluss ist schlecht, denn die Zeit läuft weg. Die Natur nimmt keine Rücksicht auf politische Befindlichkeiten. Der Klimawandel hat eine "Zeitverzögerung", bis sich die Treibhausgase im System umsetzen, von 40 bis 50 Jahren. Wir sind kurz vor dem Punkt, an dem die Katastrophe nicht mehr zu verhindern sein wird. Die Konsequenz von Kopenhagen muss ein Plan B sein, mit dem einzelne Länder, Unternehmen, Kommunen und Akteure notwendige Klimaziele verfolgen.
Es bleibt keine Zeit, erst ein neues internationales Übereinkommen abzuwarten, um - wie die Wirtschaftsverbände, die wieder einmal nur kurzfristige Interessen kennen, schon fordern - keine Wettbewerbsnachteile zu erleiden. Was sollen das für Nachteile sein, wenn der Klima-Gau nicht mehr zu stoppen ist? Im Gegenteil: Jetzt muss mit den großen Bekundungen für den Schutz des Klimas ernst gemacht werden.
Angela Merkel kann schnell einen Beitrag leisten: eine Sonderkonferenz der EU, die unkonditioniert mindestens ein Minus von 30 Prozent Treibhausgase bis 2020 beschließt. Und ein Klimaschutz- und Effizienzgesetz, das den Bau neuer Kohlekraftwerke beendet und Maßnahmen beschließt, mit denen es tatsächlich zu einer Reduktion der das Klima schädigenden Gase um 40 Prozent kommt.
Michael Müller, 61, ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde. Der Sozialdemokrat war von 1983 bis 2009 für die SPD Mitglied des Bundestags; von 2005 bis 2009 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Müller antwortet auf einen Text Naomi Kleins (FR vom 24.12.).
http://www.fr-online.de/top_news/?em_cnt=2182092&em_cnt_page=2