Ich wollte mich da gar nicht unbedingt auf das beziehen, was du geschrieben hast, sondern nur mal loswerden, was ich dazu denke. Der Bericht, den ich verlinkt habe, zeigt ja, wie die Maschinerie im Kleinen funktionierte, wie noch die zehn Reichsmark Erlös für den versteigerten Besitz eines vier Jahre alten, deportierten Kindes fein säuberlich verbucht wurden. Das ist für mich das wirklich unbegreifliche. Ich kann zwar noch versuchen, mir irgendwie ein sadistisches Monster vorzustellen, das im KZ Menschen quält. Aber bei dem Beamten, der seinen Stempel auf diesen Beleg über 10 RM setzt, oder demHandwerker, der auf seiner Quittung "Versteigerung Judenmöbel" notiert, endet meine Vorstellungskraft. Wahrscheinlich, weil mir das zu nahe kommt, das auch ich hätte sein können, hätte ich damals gelebt.
Ja, das war bis ins kleinste Detail durchorganisiert und damit wurde ja sofort begonnen. Anfangs, also unmittelbar nach der Machtergreifung, wurden Juden noch nicht deportiert und ermordet sondern man versuchte sie mittels Terror zum Auswandern zu bewegen. Enteignungen waren Teil dessen und man kann wohl annehmen das die organisatorischen Strukturen schon damals schrittweise aufgebaut wurden und dann alles bereit war als die Massenmorde begannen - aber das ging eben über Jahre.
Und wenn ich jetzt eine Formulierung von dir als Aufhänger benutze, dann mit dem Hinweis vorweg, dass du die natürlich in einem ganz anderen Zusammenhang benutzt hast, nicht um irgendwas kleinzureden oder so. Es geht um das "lediglich deportiert" werden.
Ich finde die Debatte darüber, wie weit das Ausmaß der industrielle Ermordung in der deutschen Bevölkerung bekannt war, eigentlich müßig. Vielleicht kann sie nie beantwortet werden. Aber reicht es nicht, dass die Enteignung, Entrechtung und Deportation von Juden von der Öffentlichkeit geduldet und billigend in Kauf genommen wurde? Die
Nürnberger Gesetze wurden schon 1935 erlassen, das war ja nichts, was irgendwie im Geheimen ablief.
Es gibt da ja schon einen sehr großen Unterschied zwischen „lediglich deportiert“ und „Millionen von Menschen vergast“. Stell Dir mal vor der gesamte Nazi-Terror wäre genau so abgelaufen wie er ablief, Enteignungen und Deportationen ins Ausland - aber ohne die Massenmorde. Natürlich wäre das auch grausam, aber der Unterschied ist einfach sehr extrem. Wir schauen heute auf all das zurück und sehen es in gewisser Weise als „eins“, ein Prozess sozusagen. Aber es lief schrittweise über einige Jahre ab, verschärfte sich immer weiter.
Trotzdem, oder gerade deshalb, ist m.A.n. durchaus verständlich das das Ausmaß damals kaum erkannt werden konnte, kaum geglaubt werden konnte. Wir sprechen heute von der Unvorstellbarkeit dieser Verbrechen, aber da kommt es zu einem Paradox: Wir haben ja keinen Zweifel daran das sie geschahen. Wir haben Fotos und Filme, wir haben Berichte von Tätern und Überlebenden. Wir haben all das geballt vor uns und so denken wir auch darüber. Wir können die zeitliche Dimension und den Mangel an Information und die Effektivität der Propaganda aus unserer Perspektive gar nicht begreifen weil wir den zeitlichen Prozess nicht nachvollziehen können und weil wir nicht einfach löschen können was wir wissen um die Propaganda erfahrbar zu machen. Bei den Menschen damals war das anders, sowohl die Deutschen betreffend wie auch die Opfer des Genozids - für die meisten war es daher tatsächlich unvorstellbar.
Und inwiefern eine Mehrheit der Deutschen davon wusste und es zumindest indirekt, von den eigenen Überzeugungen her unterstützte, oder ob eine Mehrheit es nicht wusste, hat mit der Frage zu tun was so etwas überhaupt möglich macht. Das erste Szenario macht es natürlich möglich - das wäre sozusagen das eine Mehrheit das Morden zumindest indirekt unterstützte. Mein Punkt ist: Es braucht das nicht. Ich bin davon überzeugt das eine Mehrheit das Ausmaß nicht kannte und sich nicht vorstellen konnte. Es braucht keine Mehrheit um Völkermorde an Millionen zu begehen.
Die „Formel“ ist: Eine gut organisierte und vollkommen rücksichtslose Gruppe dominiert eine Mehrheit die unorganisiert ist über Informationen (Propaganda) und Emotionen (ebenfalls Propaganda). Bei letzterem wird sowohl ein Feindbild erschaffen auf das Schuld projeziert wird, es wird Angst erzeugt und es wird v.a. „Herrsche durch Teile“ angewandt und zwar psychologisch. Jene Deutsche die eigentlich nicht antisemitisch waren konnten sich zum großen Teil kaum trauen das offen zu sagen, Partei für Juden zu ergreifen weil sie nicht wussten ob sie Unterstützer finden würden, weil sie alleine sich ohnmächtig fühlen mussten. Es ist möglich eine Mehrheit in Einzelteile zu zerlegen - rein psychologisch - so dass sich jeder individuell ohnmächtig und weitgehend alleine fühlt. (Das Prinzip wird übrigens überall angewandt, schon für normale Regierungsarbeit. Es ist ja z.B. kein Zufall das eine Mehrheit wenig oder kein Vermögen hat und trotzdem beständig Parteien gewählt werden die gegen Vermögenssteuer sind.)
Jedenfalls ist es auf diese Art möglich das vergleichsweise wenige direkte Täter (womit ich jene meine die in irgendeiner Weise direkt und aktiv an den Massenmorden beteiligt waren) Millionen von Menschen umbringen, ohne das die Widerstand leisten während gleichzeitig Millionen von Menschen nicht dagegen aufstehen. Es ist ein Mangel an Wissen und ein Mangel an Organisation und auch ein Mangel an Konsequenz - letzteres entsteht aber aus den ersten zwei Aspekten. Sonst hätten solche Regime keine Chance.
Ich bin auch davon überzeugt, dass die Nazis niemals an die Macht gekommen wären wenn den Deutschen klar gewesen wäre wie weit sie Juden betreffend gehen. Die Deutschen waren noch zu Anfang der Machtergreifung kein besonders antisemitisches Volk und haben den ersten Aufrufen gegen Juden oft nicht Folge geleistet. Auch das war ein Prozess über Zeit. Irgendwann verfing die Propaganda immer mehr und dann wurden die Deutschen immer antisemitischer und möglicherweise befürwortete eine Mehrheit dann die Deportationen von Juden. Nur: Auch das bedeutet noch nicht Unterstützung der Massenmorde. Natürlich gab es auch das und vermutlich gab es einen noch größeren Teil der zwar davon wusste oder es zumindest vermutete, die Augen aber verschließen wollte. Aber wirklich unterstützt wurde das m.A.n. nicht von einer Mehrheit sondern von einer vergleichsweise kleinen Minderheit.
Ich weiß nicht, ob das ein Argument ist. Einerseits ist der Mensch geneigt, die persönliche, individuelle Zukunft besser einzuschätzen, als es die Wahrscheinlichkeit erwarten lasst. Andererseits blieb jüdischen Deutschen nur die Alternative, ihre Heimat zu verlassen. Das ist eine hohe emotionale Hürde und ist in vielen Fällen aus schlicht nicht möglich gewesen, weil dafür das Geld fehlte oder eine Anlaufstelle im Ausland. Da konnte man vielleicht nur abwarten und hoffen, dass es nicht so schlimm werden würde, auch wenn alles dagegen sprach. Mir fällt es schwer, mich in eine solche Situation hineinzudenken, weil ich glücklicherweise noch nie in einer auch nur annähernd vergleichbaren Lage war.
Hätten die Juden gewusst wie weit es gehen würde wären sie alle geflohen solange sie noch konnten. Es gibt ja viele Zeitzeugen-Berichte von Juden die glaubten sie müssten dieses Terror-Regime einfach nur einige Jahre aushalten und dann würde es sich wieder ändern. Deutschland war ja, wie gesagt, vorher vergleichsweise wenig antisemitisch und Juden haben sich recht wohl in Deutschland gefühlt und waren gut integriert, Teil der Gesellschaft. Die Nazis haben gerade das ja zur Hetze benutzt, also die vielen Juden die eine starke Stellung in der Gesellschaft hatten, vermögend waren, mächtige Positionen inne hatten usw.