Wer jedoch einmal zum Islam übertrat, durfte den Islam nicht wieder verlassen. Sure 2,256 bedeutet nach überwiegender Meinung der Theologen daher nicht, dass der Islam für den freien Religionswechsel in beide Richtungen und die Gleichberechtigung aller Religionen eintreten würde. Vielmehr wird er oft so ausgelegt, dass man keinen Menschen zum Akt des „Glaubens“ (im Sinne eines Überzeugt-Seins) zwingen könne.
In der Tatsache, dass schon der Koran das Juden- und Christentum als minderwertige Religionen ansieht, liegt ein Grund, warum die Konversion zum Christentum als grundlegend falsch gilt:Sie scheint ein Rückschritt zu einem überholten Glauben zu sein, der aus Sicht des Islam korrigiert und durch Muhammad, das „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40), abgelöst wurde. Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte“ nennt in Art. 10 etwa den Islam „die Religion der reinen Wesensart“, also die unverfälschte Religion, die jedem Menschen natürlicherweise entspricht; jede Abweichung davon gilt als minderwertig. Zudem erscheint das Christentum vielen Theologen als „westliche“ Religion, als Religion der Kreuzfahrer und Kolonialherren und wird mit westlich-politischer Dominanz verknüpft.
Ein weiterer Grund für die Ablehnung des freien Religionswechsels liegt in der Tatsache, dass die Abwendung vom Islam von vielen Muslimen nicht als Privatangelegenheit betrachtet wird, sondern als Schande für die ganze Familie oder sogar als politisches Handeln, als Unruhestiftung, Aufruhr oder Kriegserklärung an die muslimische Gemeinschaft. Weil sich nach Muhammads Tod im Jahr 632 mehrere Stämme auf der Arabischen Halbinsel, die den Islam zunächst angenommen hatten, wieder von ihm abwandten, bekämpfte Abu Bakr, der erste Kalif nach Muhammad, diese Stämme in den sogenannten ridda-Kriegen (Abfall-Kriegen) und schlug ihren Aufstand erfolgreich nieder. Aufgrund dieser „Abfall-Kriege“ des Frühislam ist die Apostasie im kollektiven Gedächtnis der muslimischen Gemeinschaft von der Frühzeit an mit politischem Aufruhr, mit Verrat und mit der Niederschlagung dieses Verrats verknüpft.
Theologische Quellen (II): Wann liegt überhaupt Apostasie vor?
Der Koran selbst spricht einerseits vom Unglauben der Menschen und vom „Abirren“ (Sure 2,108), dem der „Zorn Gottes“ (9,74) sowie die „Strafe der Hölle“ (4,115) drohen, definiert aber kein irdisches Strafmaß und benennt kein Verfahren zur einwandfreien Feststellung der Apostasie.