Dass Vegetarier trotz aller Untersuchungen, die ihren biologisch sinnvolleren Ernährungsstil bestätigen, ein so schlechtes Image in der Bevölkerung haben, dürfte in der Angst der Mehrheit vor jedem Umdenken liegen, aber auch an der teilweise überzogenen Selbstdarstellung der Vegetarier, die sich gern nicht nur als die gesünderen, sondern auch als die besseren Menschen geben. Oft wird der Vegetarismus von seinen Anhängern sogar in grotesker Weise als Hinweis auf fortgeschrittenen geistige Entwicklungsstufen stilisiert.
Zu all den recht eindeutigen gesundheitlichen Argumenten für ein überwiegend vegetarisches Leben kommt natürlich noch eine Reihe ethischer Erwägungen. Immerhin waren auch viele Heilige, allen voran Franziskus von Assisi, Vegetarier. Aber gerade bei ihm sollte man nicht vergessen, dass auch er anders angefangen hat, als er noch ein Lebemann und Genießer war. Ganz unzweifelhaft ist die strikt vegetarische Lebensweise nicht nur für Menschen, sondern erst recht für die (ansonsten verspeisten) Tiere von Vorteil. Dass wir Weihnachten, das höchste Fest des Christentums, das sich ja als Religion der Liebe versteht, zu einem Schlachtfest für Geflügel gemacht haben, ist sicherlich bedenkenswert und wohl nicht im Sinne des Heilands, dessen Geburt mit Fressorgien und Konsumräuschen gefeiert wird.
Würden wir noch verbunden mit der Natur leben, würde uns die Entscheidung natürlich leichter fallen. Wer öfter in die großen braunen Augen eines Kälbchen schaut, wird sein Fleisch anders bewerten als jener, der es nur in Scheibenform kennt. Wer Enten- und Gänsefamilien im Teich vor seinem Haus schwimmen sieht, wird sie zu Weihnachten nicht unbedingt braten wollen.
An Kindern können wir noch häufig erleben, wie zartfühlend unsere Seele eigentlich ist, bevor wir sie recht brutal abhärten. Es auch noch Erziehung zu nennen, wenn wir ein sensibles Kind endlich über Fischstäbchen und Hühnerwürfel (neudeutsch Chicken-nuggets) zum widerwilligen Verzehr dieser Tiere bewegt haben, ist zumindest eine Geschmacksfrage. Kleine Kinder sind oft durchaus entsetzt über den Gedanken, ein Tier zu verspeisen, abgesehen davon, dass es vielen anfangs auch gar nicht schmeckt, weil ihr Geschmackssensorium noch natürlicher ist.
Eine ehrliche Variante für unentschlossene Erwachsene ist es, nur das zu essen, was sie von Anfang bis Ende zubereiten können. Wer, nachdem er ein Kalb erschossen und dessen brechenden Blick standgehalten hat oder auch nur ein Huhn eigenhändig geköpft und dessen kopfloses minutenlanges Gezappel ertragen hat, es danach ausnehmen, braten und mit Genuss verspeisen mag, kann sich immerhin ehrlich nennen. Den meisten Menschen in unseren Gesellschaften würde wohl schon der bloße Besuch in einem modernen Schlachthof zu viel Ehrlichkeit ins Leben bringen, von Ausflügen auf fast ausnahmslos tierquälerisch organisierte Hühnerfarmen ganz abgesehen. Unsere Unehrlichkeit besteht darin, dass wir solche Grausamkeiten durch unsere Lebensart nötig machen, aber nicht dazu stehen.
Bei all diesen Überlegungen sollten wir uns trotz der mitschwingenden Emotionen und bei aller Tierliebe hüten, andere Menschen in ihren Ernährungsgewohnheiten zu bewerten. Wenn jeder für sich versucht, seiner Seele zu entsprechen und seinem Anspruch an Ehrlichkeit gerecht zu werden, ist uns allen letztlich am meisten gedient. Erfahrungsgemäß wird nicht fanatisches Beschimpfen Andersdenkender und essender etwas ändern, sondern nur das eigene Beispiel, wenn es in anderen Seelen jenen Bereich anrührt, der wachsen will und immer entwicklungsbereit ist.