Lotusz schrieb:
Weisst Du wie genial es ist, wenn man vollkommen ohne jede Angst lebt? Es ist das Paradies. Und das ist unser Normalzustand.
Nein, das ist nicht das Paradies. Es ist eine schöne, bunte Plastikwelt, voller vergnügter Barbie-Puppen. "Liebst du mich? Knuddel mich!" Lieber lebe ich mit all meinen Ängsten als in einer solchen Welt der Stasis, wo der Mensch der Würde beraubt wird, diejenigen Seiten an sich annehmen zu dürfen und zu können, die zutiefst menschlich sind. Beispielsweise die Angst.
Eine Welt ohne Angst ist auch eine Welt ohne Mut. Es ist eine Welt ohne Wut und daher auch eine Welt ohne Hass und daher auch ohne Liebe. Es ist eine Welt der vollkommenen Flachheit.
Was du suchst, Lotusz, ist ganz offensichtlich: Glück ohne Ende und Schranken, einen permanenten Ausnahmezustand. Denn einen "Normalzustand" gibt es nicht. Normal ist es ewig zwischen A und Nicht-A hin- und herzuschwanken. Das ist normal, weil es jeder tut. Was du als "normal" behauptest, wurde noch nie von einem Menschen erlebt. 18 Monate hin oder her. Nichts zeigt besser, dass du das Unmögliche suchst, als deine eigene Geschichte: Dauert der Glückszustand auch noch so lange, irgendwann hört auch der längste davon auf und man kehrt zur ernüchternden Banalität des Alltags zurück. Dennoch erhebst du den Ausnahmefall zum "Normalzustand".
Es ist die Banalität, vor der du dich fürchtest. Das ist mein Eindruck. Es ist deine Angst, dass das Leben furchtbar gewöhnlich und banal sein könnte. Darum brauchst du die Hoffnung auf endloses Glück.
Aber diese Hoffnung ist Selbst-Missbrauch. Sie zwingt dich, aus dem vielbeschworenen Hier & Jetzt herauszufallen und deine Aufmerksamkeit auf eine Zukunft zu leiten, von welcher du dir erhoffst, dass du sie jemals erreichen wirst. Dadurch verblasst das Heute. Du verpasst dein Leben, denn dieses findet jetzt statt. Wenn du bis jetzt noch nicht das grenzenlose Glück gefunden hast, wann denn? Wenn das Glück nicht bereits stattfindet und vollständig vorhanden ist - wo denn sonst? Wie denn sonst?
Aber es ist zu gewöhnlich für dich. Es ist zu alltäglich, zu langweilig, zu kleinbürgerlich, zu
beschämend. Denn
du strebst nach höherem. Nach einem Zustand, den sonst kaum jemand erreicht. Du möchtest aussergewöhnlich werden in diesem Zustand. Du fliehst genau vor dem, was eigentlich "Normalzustand" ist, und suchst den "Ausnahmezustand".
Aber weisst du: Es ist egal, ob das alles zutrifft oder nicht. Mir ist es egal, ob ich recht habe oder nicht mit diesem ganzen Eintrag. Mich berührt es nicht, was du tust, denn es ist dein Leben, nicht meins. Es ist mir sogar egal, ob du mir zustimmst oder nicht, weil es gleichgültig ist, was ich tue oder was du tust. Wir spulen beide nur unser vorgegebenes Programm ab, und darin liegt ein ganz eigener Reiz der Sache.
Das ist die ganze Komödie.