Jade1 schrieb:
Welche Relevanz hat das für die Welt? Keine. (Es war auch schon beim Ich-Thread so, dass alle erst fragten, warum die Frage nach dem Ich überhaupt so relevant sei, bis sie dann mal die Anstrengung unternahmen, selbst drüber nachzudenken.)
Aber ich denke hier mal brav jeden Gedankenschritt vor, damit möglichst niemand durch Selbstdenken überfordert wird:
1. Die Motivation für Selbsterkenntnis ist nichts anderes, als dass ein besserer, schönerer, angenehmerer, bewussterer Zustand eintreten möge, als der, der momentan gerade ist.
2. Dabei handelt es sich um eine Projektion in die Zukunft. Es wird etwas angestrebt, was momentan noch nicht vollständig vorhanden ist. Es gibt etwas zu erreichen, etwas zu verbessern, zu vertiefen oder zu gewinnen.
Die Projektion in die Zukunft heisst auf subtile Weise: Der, der ich jetzt bin, ist noch nicht bereits vollkommen, da fehlt noch ein kleines Stückchen. Dieses Stückchen kann dann gewonnen werden, wenn Selbsterkenntnis stattfindet. Dies bedeutet, es wird ein Ziel errichtet, das es zu erreichen gilt. Dieses Ziel ist mit dem Jetztzustand nicht identisch (sonst könnte es sich nicht um ein Ziel handeln).
3. Das Ziel liegt deshalb ausserhalb der Ich-Persönlichkeit, wie sie momentan gerade ist - und erst dadurch gewinnt diese Ich-Persönlichkeit überhaupt an Kontur, erst durch diese Projektion in die Zukunft entsteht sie überhaupt als Idee. Sie ist jetzt abgegrenzt gegenüber einer imaginierten zukünftigen Ich-Persönlichkeit, die sich von der jetztigen dadurch unterscheidet, dass die zukünftige in gewissem Sinne "bewusster" sein soll, durch die dazwischenliegenden Schritte der Selbsterkenntnis.
4. Selbsterkenntnis führt also dazu, dass der Mensch einen Anreiz erhält, sich aus dem Hier und Jetzt
wegzubewegen, hin auf jenes in die Zukunft projizierte Ziel zu. Es handelt sich um eine Bewegung weg vom Punkt, wo man gerade ist, hin zu einem andern Punkt, der momentan gerade nicht ist, aber von dem erhofft wird, dass er in Zukunft sein möge.
5. Selbst wenn die Person es tatsächlich schafft, in Zukunft den erwünschten Grad an Selbsterkenntnis zu erreichen, so gibt es darüberhinaus aber eine weitere Zukunft, wo das Ich NOCH bewusster sein wird. Es wird ein neues Ziel gesetzt, in eine neue imaginäre Zukunft, was wiederum dem Menschen einen Ansporn gibt, sich nicht mit der banalen Gegenwart zu beschäftigen, sondern sich auf eine Zukunft hin auszurichten, die besser als die Gegenwart zu sein verspricht. Auch dies untermauert die Trennung des Ich vom Rest der Welt.
6. So lebt der Mensch hoffend mit dem Blick in die Zukunft und verpasst andauernd, was JETZT und JETZT und JETZT gerade da ist. Egal, wie man es dreht und wendet, es läuft alles darauf hinaus, dass der zentrale Dreh- und Angelpunkt der Versuch ist, die Ich-Vorstellung aufrechtzuerhalten, also die grundsätzliche Trennung zwischen dem Ich und der Welt, die Idee, dass da ein Ich sei, eine Persönlichkeit, die abgrenzbar vom Rest der Welt existiere.
So, und nun darf jeder und jede selbst überlegen, ob es mit gerade seinem/ihrem System anders sei.