Angst vor dem Tod habe ich schon lange nicht mehr...
Ausschnitt aus der Himmel über Rio:
Der Aufstieg war beschwerlich. Nach zwei Stunden erreichten sie endlich das große Felsplateau. Der Ausblick war gewaltig. Unter ihnen die Stadt im Dunst, klein und unbedeutend. Urú hatte sich dicht an ihn geschmiegt.
Und?, fragte sie.
Ich bin glücklich , antwortete er leise. Nur, wie wird es weitergehen in meinem Leben? Er wurde traurig. Sie hatte ihren Arm um ihn gelegt.
Das war ja jene Frage, die du heute morgen gestellt hast. Darum sitzen wir hier oben. Damit du eine Antwort darauf findest und eine höhere Sichtweise bekommst.
Und er sah sein zukünftiges Leben zeitgerafft vor sich abrollen. Das ist wie im Kino, dachte er. Der Himmel über Rio als riesige Kinoleinwand und der Klang dazu von ihrer melodiösen Stimme.
Du hast ein reiches und erfülltes Leben und wirst es zusammen mit deiner Frau verbringen.
Er sah noch zwei weitere seiner Kinder auf die Welt kommen. Oh ja, ein reiches und erfülltes Leben, dachte er glücklich. Aber dann sah sich älter werden. Die Menschen die er kannte, wurden alt, ihre Gesichter bekamen Falten, ihre Körper gebeugt, verwandelten sich zu Greisen.
Viele Menschen erreichen nicht einmal dieses Alter hörte er ihre tröstende Stimme. Sie sterben vorher.
Er musste weinen.
Warum weinst du?
Weil alles vergänglich und dem Tod geweiht ist.
Ich hoffe, sprach sie, du kannst ein wenig von dieser Traurigkeit, diesem Bedauern, mit hinübernehmen, in Eure Welt. So hättest du die Chance, aus dieser Erfahrung zu lernen. Deine Zeit auf der Erde ist begrenzt und du könntest sie besser nutzen. Du hast alles in dir selbst, fuhr sie fort. Du brauchst es nirgendwo zu suchen, aber es ist schön sich ab und zu mal zu erquicken...
Und er sah sich an vielen Plätzen in der Welt, er sah sich in Delphi an der Orakelstätte in Griechenland und musste lächeln. Wir Menschen wollen immer unsere Zukunft wissen.
Du selbst machst dir deine Zukunft, hörte er sie erklärend. Das was du sähst, wirst du ernten, manchmal dauert es ein paar tausend Jahre...
Was? In welchen Dimensionen soll ich noch denken?, seine Stimme wurde skeptisch.
In grenzenlosen Dimensionen, sie erweitern sich mit dir.
Da sah er sich zusammen mit seiner Frau, auf einem Schiff auf dem Nil und er liebte seine Frau. Die Reise führte an Tempeln und Pyramiden vorbei... aber dann war er plötzlich im alten Ägypten, fuhr einen Streitwagen im Kampf gegen die Hyksos...
Das war in der vierzehnten Dynastie, vor viertausend Jahren, erläuterte sie die Bilder, die er schaute.
Dafür gibt es keine Beweise, meinte er lahm. Und er nahm Prozak und sah sein Elend. Er wollte nicht mehr leben, es war alles sinnlos. Kein Anfang, kein Ende, kein Ziel und die Evolution reiner Zufall...
Wenn du das willst, wirst du es erhalten, sagte sie düster. Er sah den Himmel mit den Engeln, projektiert auf dem Himmel über Rio, aber die Engel weinten.
Warum weinen sie Urú?
Sie haben umsonst für etwas gearbeitet, was sich nicht erfüllen wird. Es ist so ähnlich, wie wenn man ein großes Fest vorbereitet und niemand kommt. Die Menschen glauben, man will sie irre führen, meinte sie traurig.
Sei bitte nicht traurig. Wie geht es weiter? wollte er wissen.
Es geht darum, wie weit du gehst. Zeit spielt keine Rolle, aber nütze deine dir gegebene Zeit und sei dankbar für so viel Schönheit.
Schweigend standen sie auf und begaben sich auf den Rückweg. Urú führte ihn sicher hinunter. Es dämmerte bereits, als sie auf die Avenida Niemayer kamen. Hupende Autos und der Berufsverkehr der Millionenstadt mit seinen stinkenden Auspuffgasen und er dachte daran, wie schön es da oben war. Er wäre eigentlich lieber da oben geblieben.
Sie aber schritt entschlossen voran und bald waren sie am Kanal. Dann gingen sie den Ipanema Strand entlang, bis zu jenem Platz, wo sie heute morgen saßen. Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss zum Abschied.
Wann sehen wir uns wieder?, fragte er.
Ich bin immer in deiner Nähe, meinte sie lächelnd. Richtig sehen wirst du mich erst wieder, wenn ich dich holen komme, auf unsere Reise durch die Sternenwelten. Die Ägypter wussten es noch. In ihren Grabkammern wurden die Decken mit dem Himmelsgewölbe und der Göttin Nut ausgemalt... Und weg war sie. Er meinte noch ihren Duft wahrzunehmen, aber auch verflüchtigte sich.
Als er zum Himmel sah, bemerkte er, dass es nicht abends sein konnte. Es war frühmorgens und begann heller und heller zu werden. Dann ging die Sonne hell und strahlend auf.
Er stand auf und ging nach Hause. Ich fühle mich glücklich, dachte er. Ein reiches und erfülltes Leben, so wird es sein.
Text von Ali 2004
Ali