SPIEGEL ONLINE: Die US-Geheimdienste spionieren massiv in Deutschland und der EU. Sie sind seit Jahren in der ersten Reihe der Politik. Wie schützen Sie Ihre persönliche Kommunikation?
Gabriel: Ich weiß, dass ich meine Mails verschlüsseln könnte. Aber ich sehe, ehrlich gesagt, nicht ein, dass die verfassungsmäßige Garantie des Postgeheimnisses jetzt privatisiert wird. Unser Staat hat dafür zu sorgen, dass die Privatsphäre jedes Menschen geschützt ist. Dieses Grundrecht wird aber gerade zerstört, wenn wir alle einer modernen Hybridüberwachung ausgeliefert werden.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Gabriel: Private Unternehmen wie Facebook und Google sammeln unsere Daten, und Geheimdienste beschaffen sich dazu Zugang. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit werden die Datensammelstellen des Kapitalismus mit den Datensammelstellen der Geheimdienste verknüpft. Dagegen wirkt der so gefürchtete Big Brother von George Orwell ziemlich antiquiert.
SPIEGEL ONLINE: Viele Menschen gehen heutzutage sehr freizügig mit ihren Daten um, sie haben Twitter-Konten und Facebook-Profile. Da denkt sich mancher: Was ist so schlimm an der Überwachung, wenn wir uns ohnehin bereitwillig entblößen?
Gabriel: Nach der Argumentation wäre jeder, der das Internet nutzt, selbst schuld daran, dass irgendein Geheimdienst ihn scannt. Nach unserer Verfassung hat der Staat dabei nichts zu suchen. Wenn das im Internetzeitalter nicht mehr gelten soll, zerstören wir das Wertefundament unserer Gesellschaft. Und übrigens auch die Wertegemeinschaft, die uns mit den USA und in Europa seit Jahrzehnten verbindet. Denn in dieser Wertegemeinschaft gehen die individuelle Freiheit und der Schutz der Persönlichkeit vor. Genau das hat uns einst vom Ostblock unterschieden. Dort war es umgekehrt.
SPIEGEL ONLINE: Was ist aus Ihrer Sicht das Kernproblem der Überwachungsmaßnahmen?
Gabriel: Artikel 10 unserer Verfassung schützt das Post- und Fernmeldegeheimnis. Dieser Artikel macht keinen Sinn mehr, wenn Geheimdienste millionenfach Deutsche ausspähen. Dann steht der Schutz der Persönlichkeit nur noch auf dem Papier. Ich fände es angemessen, wenn die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen der amerikanischen und britischen Geheimdienste anstrengt. Im Zweifel natürlich auch gegen ihre deutschen Helfershelfer.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit wird in Deutschland darüber gestritten, ob der NSA-Informant Edward Snowden in Deutschland Asyl bekommen sollte. Die Bundesregierung lehnt das ab. Handelt sie richtig?
Gabriel: Der erste Schritt muss doch sein, dass die Bundesanwaltschaft nach Moskau reist, um Herrn Snowden als Zeugen zu vernehmen. Und wenn sie den Eindruck hat, dass er ein verlässlicher Zeuge ist, muss man überlegen, ob er in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden sollte. Wir brauchen eigentlich nur unser ganz normales Rechtssystem wirken zu lassen. Das erwarte ich auch von der Bundesregierung.
SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie ausschließen, dass unsere Nachrichtendienste, etwa der BND, im Ausland nicht ähnlich arbeiten wie die amerikanischen Kollegen?
Gabriel: Wenn der BND über den ihm gesetzten Rahmen hinausgehen oder mit anderen Geheimdiensten zusammenarbeiten sollte, um gesetzliche Beschränkungen zu umgehen, ist das eine Straftat und muss verfolgt werden. Was wir aktuell erleben, ist kein kleiner Geheimdienstskandal, bei dem mal wieder ein paar Schlapphüte zu weit gegangen sind. Durch die Vernetzung der Daten großer Konzerne mit denen von Geheimdiensten wird unser Rechtssystem ausgehebelt. Man muss aufpassen, dass man das nicht verniedlicht. Das ist kein Betriebsunfall. Wir befinden uns an einem Wendepunkt im Umgang mit personenbezogenen Daten und brauchen endlich europäische und internationale Regeln dafür.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben der Kanzlerin eine Mitwisserschaft bei den US-Spähaktivitäten unterstellt. War das nicht ein bisschen dick aufgetragen?
Gabriel: Ich glaube einfach nicht, dass der BND von all dem nichts wusste. Und die Kontrolle des BND liegt nun mal im Bundeskanzleramt.