Ey...bist Du aber echt witzig...nee...man könnte aber ne Simulation starten...damals ging das sicher noch nicht...aber heutzutage sind wir da wohl schon wesentlich weiter...und es gibt Gott sei Dank immer mehr Studenten und Wissenschaftler, die keine Tierversuche wollen und nach Alternativen forschen...bei Deiner Sturheit und der von einigen anderen hier...wäre wohl nie Forschung betrieben worden und wir wären tatsächlich noch bei Aderlaß und Brechwurz...
Sage
Nein, eben NICHT, und mein "Witz" hatte durchaus einen ernsten Kern:
Man kann eine Simulation nicht aus dem nichts machen. Um solche Simulationen zu machen, braucht man DATEN. Eine Simulation kann vorhandene Daten auswerten oder teilweise sogar Prognosen erstellen. Diese vorhandenen Daten muss man irgendwoher beschaffen. Gut funktioniert das natürlich mit in vitro Versuchen - da kann man nämlich hunderttausende Datensätze in kurzer Zeit produzieren und sehr exakt auswerten.
Bei Fällen wie Contergan hilft das aber vorerst mal nix - wenn du ein völlig neues Medikament hast und noch keinerlei toxikologische Studien gemacht hast, wie willst du dabei die Tausenden und Millionen von physiologischen Interaktionen, die es in einem lebenden Körper gibt, vorhersagen, ohne einen einzigen Test mit einem echten Lebewesen gemacht zu haben?
Wir können gern beim Thema Thalidomid (Contergan) bleiben, denn das eignet sich durchaus gut für dieses Beispiel. Erstmal muss gesagt werden: es gibt über 2000 Forschungsarbeiten, die zu verstehen versuchen, wie Thalidomid überhaupt diese schrecklichen Missbildungen bei Kindern verursacht hat. Bis heute kennt man den exakten Mechanismus nicht, es gibt ungefähr 15 verschiedene Erklärungsansätze. Prinzipiell geht man aber davon aus (und das gilt als relativ sicher), dass es mit der Hemmung der Angiogenese zu tun hat, also dem Wachstum von Blutgefäßen. Dort werden gewisse Wachstumsfaktoren gehemmt, sodass die Angiogenese gestoppt wird und als Folge unterbleibt die normale Ausbildung der Körperteile, einfach weil nicht die erforderlichen Stoffe durch das Blut zu den benötigten Regionen transportiert werden kann. Der Grund, warum das in Babies so verheerende Folgen hat, in Erwachsenen aber im regelfall völlig unproblematisch ist liegt darin, dass das Gefäßsystem in diesem Stadium noch nicht voll entwickelt und daher extrem anfällig ist.
Wir nehmen also jetzt (rein hypothetisch) an, dass es Thalidomid nie gab, und dass es jetzt erst erforscht werden soll, und dass das - wie von dir gefordert - NUR über in vivo Versuche und Computersimulationen passieren soll.
Jetzt stehen wir vor
Problem 1:
Jetzt könnten wir sagen: "
Ist ja kein Problem, wir machen in vivo Tests mit diesen Wachstumsfaktoren." - ja, im
Nachhinein, wenn man schon
weiß, wo das Problem liegt, ist das einfach gesagt. Aber mach das doch bitte mal im Vorhinein, wenn du ein unscheinbares Molekül hast und keinen blassen Dunst, welche Effekte das haben könnte. Es gibt hunderttausende verschiedene Proteine im Körper, die alle verschiedene Funktionen haben und in verschiedenen Situationen synergistische oder antagonistische Effekte zueinander aufweisen können. Es ist ein unvorstellbarer Aufwand, mögliche Reaktionen dieser einzelnen Proteine in vitro zu testen. Aber da gibt es noch ein viel größeres Problem, nämlich...
Problem 2:
Wir
kennen noch gar nicht alle diese Faktoren! Es könnte sein, dass sich in vivo durch natürliche Prozesse Umstände ergeben, die in vitro nicht nachgestellt werden können. Dann könnte es sein, dass ein in vitro-Test negativ ausfällt, obwohl in vivo eine ganz verheerende Reaktion passiert. Andersrum könnte natürlich ein in vitro Test positiv ausfallen, obwohl es in vivo nie zu so einer Reaktion kommt. Das heißt: Womöglich landen gut wirksame und nebenwirkungsarme Wirkstoffe in der Rundablage und gefährliche am Ende in der Apotheke.
Aber damit nicht genug. Selbst, wenn man eine gewisse Reaktion identifiziert hat, kann man nicht ohne weiteres darauf schließen, welche praktischen Auswirkungen diese Reaktion dann haben wird. Das führt uns zu...
Problem 3:
Nehmen wir an, wir haben jetzt - nach hunderttausenden Tests - durch in vitro Methoden herausgefunden, dass Thalidomid auf gewisse Wachstumsfaktoren einen hemmenden Effekt hat. Dieser Effekt tritt bei Erwachsenen genauso wie bei Embryos auf - bei Erwachsenen ist er praktisch bedeutungslos, weil deren Gefäßsystem nicht mehr anfällig ist, bei Embryos in der Entwicklung ist er verheerend. Heute vermuten wir stark, dass das mit der mangelnden Ausprägung und damit Anfälligkeit von deren Gefäßsystem zusammenhängt. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber wie soll man eine realistische Risikoanalyse erstellen, wenn man diese Information eben
noch nicht hat? Wie gesagt, man kennt ja noch nichtmal den genauen Mechanismus, wie Thalidomid zu diesen Missbildungen führt. Da können was weiß ich welche Reaktionen und Zwischenstufen eine Rolle spielen, die wir durch einen einfachen in vitro-Test nicht nachvollziehen können. Jetzt, wo wir Thalidomid kennen, können wir natürlich die Gefahr, die durch die Hemmung dieser konkreten Wachstumsfaktoren ausgeht, sinnvoll bestimmen und damit sinnvolle Risikoanalysen anstellen. Aber was, wenn eine neue, bis dahin unbekannte Nebenwirkung auftaucht, deren (zumindest groben) Mechanismus wir nie zuvor gesehen und damit nicht antizipiert haben? Dann sterben erstmal hunderte oder tausende von Leuten, bevor wir ein Medikament vom Markt ziehen und es untersuchen, damit uns dieser Fehler nicht nochmal passiert. Damit wird zwar die Forschung immer sicherer, aber das wird auf dem Rücken derer ausgetragen, die bis dahin an durch in vitro Methoden nicht identifizierbaren Nebenwirkungen krepieren. Viele dieser Nebenwirkungen kann man aber durch einfache in vivo Versuchen an Ratten frühzeitig erkennen, Dank dem Thalidomid-Skandal ist es heute Standard, dass Medikamente auch auf ihre Nebenwirkungen an Schwangeren getestet werden müssen. Hätte man damals den Wirkstoff an trächtigen Ratten getestet, wären viele Menschenleben gerettet worden.
Damit aber nicht genug. Nehmen wir an, wir testen Thalidomid weiter und bekommen keine beunruhigenden Ergebnisse. Wir bringen das Medikament auf den Markt und - whops - plötzlich tausende Kinder tot. Was ist passiert?
Problem 4:
Medikamente bleiben nicht einfach wie sie sind im Körper. Viele Wirkstoffe sind von sich aus eigentlich wirkungslos, werden dann aber im Körper zu einer aktivierten Version umgewandelt und entfalten dann ihre Wirkung. Bei Thalidomid könnte man als Beispiel hernehmen, dass es zwei chemisch spiegelbildliche Versionen davon gibt, sog. Enantiomere. Der (+)-(R)-Enantiomer ist ein guter Wirkstoff und löst keine Missbildungen bei Embryos aus. Der (-)-(S)-Enantiomer hingegen ist für die Missbildungen verantwortlich, hat man festgestellt. Jetzt halten wir uns für klug und sagen: HAH! Wir geben einfach keine racemische Mischung aus, sondern einen isolierten Enantiomer! Das Medikament kommt auf den Markt, und tausende Kinder sterben. Was ist passiert? Wir haben nicht bedacht, dass unser bevorzugter Enantiomer im Körper noch weiteren chemischen Reaktionen unterworfen ist und in der Tat vom Körper wieder in eine racemische Mischung umgewandelt wird, also im Endeffekt wieder der (schlechte) (-)-(S)-Enantiomer im Patienten landet. Pech gehabt.
Das ist jetzt ein sehr simples Beispiel, In der Praxis muss man natürlich alle Metaboliten beachten, die beim Abbau des jeweiligen Wirkstoffes in vivo passieren. Aber woher wollen wir überhaupt wissen, welche Metaboliten da entstehen, wenn nicht durch Versuche am Lebewesen? Manche Reaktionen können wir vorhersagen, weil wir schon Daten über ähnliche Stoffe haben - andere nicht. Unser Wissen ist schlichtweg noch nicht so weit. Wir wollen zudem nicht vergessen, dass man dann in vitro alle jene hunderttausend Tests, die ich in "Problem 1" thematisiert habe jeweils wiederholen müsste, um festzustellen, ob da irgendwo Risiken auftreten - mit den Folgeproblemen 2 und 3 natürlich gleich mit dran. Wenn man den Wirkstoff einfach in vivo testet, bekommt man das Ergebnis (wenn es denn wirklich ein erhebliches Risiko darstellt) direkt serviert - z.b. in Form eines missgebildeten oder toten Rattenbabies.
Ich will nicht ausschließen, dass wir irgendwann mal auf Tierversuche verzichten können, aber mit dem derzeitigen Wissensstand und Stand der Technik ist das einfach eine unrealistische Forderung.