Eigentlich habe ich keinen allzu grossen Antrieb, das jetzt niederzuschreiben. Ich habe mich aber dennoch dazu entschieden, ich hoffe, das möge irgendjemandem helfen.
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht:
"Niemand versteht mich." Es ist der Schmerz, dass dich die anderen nicht verstehen, die Erwachsenen, die Gleichaltrigen, dass sie nicht verstehen wer du bist und was du sagst und damit meinst. Da ist so viel Schönheit und du willst es ihnen zeigen, aber sie verstehen es nicht. [...] Und die logische Folge lautet: Ich bin alleine. Alleine in meiner Unverstandenheit. Die andern sind nicht in der Lage, mich zu verstehen. Es gibt niemanden, der mich versteht, auch nicht wirklich meine Eltern, also bin ich alleine, komplett, das heisst existentiell isoliert.
Also muss ich besser sein als sie. Ich werde Perfektionist. Besser als all die anderen. Ich werde klüger als sie. Schöner, schneller, besser."
Weitergeholfen hat mir im Endeffekt ein Text aus "Zen-Buddhismsus und Psychoanalyse", geschrieben von Richard de Martino (Co-Autoren sind Erich Fromm und Daisetz Teitaro Suzuki).
Ich habe eingesehen, dass dies eine typische Projektion nach Aussen war, eine Projektion eines immanenten Widerspruchs meines Ichs. Es passt genau zusammen. Seit ich zurückdenken kann, hatten die oben aufgeführten Gedanken für mich Gültigkeit. So lange ich mich erinnern kann, war in mir der Eindruck vorhanden des getrennt Seins, des isoliert Seins. Da war immer eine Kluft zum "Rest der Welt", die absolut unüberbrückbar blieb. Jezt habe ich eingesehen, dass es so sein muss, dass dahinter eine zwingende Logik steckt, die unweigerlich zu jenem fatalen Widerspruch führt, welcher überhaut erst der Motor für den Menschen darstellt, tätig zu werden. Um das zu erklären, muss ich ein bisschen weiter ausholen.
Zuerst muss einmal klargestellt werden, dass das menschliche Ich, beziehungsweise jedes "Gefühl von Ich" oder jeder "Glaube an ein Ich" letztlich auf einen Dualismus zurückzuführen ist, welchen ich den Subjekt/Objekt-Dualismus nennen will. So viel ich weiss, entwickelt sich im Alter von zwei bis fünf Jahren beim Menschen überhaupt erst eine Art Identitätsgefühl, eine Idee des Ichs. Ein Neugeborenes besitzt kein solches Identitätsgefühl. Für das Neugeborene gibt es keinen Unterschied zwischen sich selbst und dem Rest der Welt. Hat es Hunger, so hat die ganze Welt Hunger. Erst in einem gewissen Alter wird dem Kind klar, dass es nicht alleine ist, die erste zarte Unterscheidung zwischen Ich und dem Rest der Welt (vor allem in Form der es umsorgenden Mutter) bildet sich heraus. Doch noch ist es lange nicht in der Lage, zwischen den eigenen Wünschen und Bedürfnissen und denjenigen der anderen zu unterscheiden. Es benötigt noch eine längere Zeit der Entwicklung, bis es schliesslich in der Lage zum Verständnis ist, dass andere Menschen wie es selbst "aktiv handelnde, mit einem Ich-Bewusstsein ausgestattete Entitäten" sind.
Im Verlaufe der Adoleszenz und auch darüber hinaus vertieft sich diese Entwicklung immer stärker. Der Mensch wird fähig, zwischen subtile psychologische Signale von anderen aufzunehmen, sie richtig zu deuten und entsprechend zu reagieren. Er lernt, zur Umwelt in Kontakt zu treten, diese zu manipulieren usw.
Und doch: Der Sündenfall ist schon geschehen. Seine "existentielle Isolierung" hat bereits stattgefunden damals, als sich noch im Kleinkindalter das erste Bewusstsein einer eigenen Existenz, eines eigenen Ichs herausbildete. Alles, was später kommt, vermag diese tiefste aller Trennungen nicht mehr richtig zu überbrücken. Wenn der Mensch sich als eine Ich-Entität erfährt, dann erfährt er sich mit andern Worten als Sitz eines Subjektes, zu welchem dann "der Rest der Welt" als Objekt in Beziehung gesetzt wird. Dem Menschen widerfährt als subjektive Ich-Entität das Erleben einer ihm äusseren, objekthaften Welt. Gleichzeitig aber erfährt der Mensch sich selbst ebenso als Teil jener äusseren objekthaften Welt, ist er doch selbst ebenso Teilnehmer dieser ihm äusseren Welt. Folglich ist der Mensch immer in zweifacher Hinsicht der Welt und sich selbst als konstitutiver Teil dieser Welt entfremdet: Einmal indem das subjekthafte Ich die eigenen Bestrebungen und inneren Vorgänge als Objekte seiner selbst betrachtet und sich dadurch von ihnen entfernt, zweitens indem sich das sujekthafte Ich selbst als Objekt innerhalb der Welt erfährt, nämlich als Handelnder unter Handelnden, als Person unter Personen, als biologischer Körper in der Natur.
Die Entfremdung des Menschen von sich selbst geschieht also in zweifacher Hinsicht. Und sie ist untrennbar mit dem Ich-Bewusstsein verbunden.
"Niemand versteht micht. Da ist Schönheit, ich möchte sie aufzeigen, bin aber nicht dazu in der Lage. Ich bin anders als die anderen." Diese Aussage ist eine typische psychologische Verzerrung. Die ursprünglich dahinter versteckte Aussage lautet ähnlich, sie bezieht sich in Wahrheit auf die soeben beschriebene an das Ich-Bewusstsein gekoppelte doppelte Entfremdung des Menschen einerseits von sich selbst, andererseits vom Rest der Welt. In dem Moment, als sich bei mir ein Ich-Bewusstsein herausbildete, begann ich diese Entfremdung intuitiv zu spüren. Doch ich war nicht in der Lage, meine unbewussten Gefühle und Regungen, diesen versteckten Widerspruch, diese unüberbrückbare Kluft zwischen zu mir selbst und zum Rest der Welt richtig zu fassen. Also entwickelte ich eine Strategie, damit umzugehen. Ich projizierte die in meinem Ich vorhandene Kluft auf andere. Jetzt war nicht mehr Ich von mir selbst entfremdet, sondern die anderen von mir. Der Bruch der Entfremdung ging jetzt nicht mehr mitten durch meine Person hindurch, mitten durch mein Ich, sondern die ursprüngliche Verletzung dieses Ichs durch die aus dem Ich entstehende Entfremdung wurde von mir nach Aussen projiziert. Jetzt waren es die anderen, welche entfremdet waren. Ich hatte mich sozusagen gerettet, "wieder ganz gemacht", doch nur zum Preis der Isolierung vor den anderen.
Die angesprochene "Schönheit, die sie nicht verstehen" ist letztlich nichts anderes als "die Welt da draussen, von welcher Ich gleichzeitig Teil bin". Das tiefe Empfinden meiner Entfremdung vor der Welt konnte ich nicht anders bewältigen, als indem ich begann die anderen als Holzköpfe darzustellen, welche ebendiese Schönheit nicht verstehen konnten. Im Grunde genommen war ich es selbst, dem sich das Verständnis für die Welt verschloss, im Grunde genommen war ich derjenige, welcher von der Welt entfremdet war. Ich (als Subjekt) nahm die Welt als von mir getrennt wahr (als ein Objekt), und diese Trennung ertrug ich einfach nicht. Also proklamierte ich irgendeinen Grund ("die Dummheit aller anderen"), welcher die Dinge wieder gerade rücken sollte. Mit der Welt ("der Schönheit") war demnach eigentlich alles in Ordnung, mit mir selbst eigentlich auch, bloss die anderen warem "so dumm", die Welt nicht richtig erkennen zu können. Meine eigene Unfähigkeit zur Überbrückung der Entfremdung kaschierte ich, indem ich einfach die anderen als unfähig deklarierte.
Erich Fromm umschreibt das so: "Ich bin mir selbst ein Fremder, und in dem gleichen Grade ist auch jeder andere ein Fremder für mich. Ich bin von dem unermesslichen Bereich menschlichen Empfindens abgeschnitten und bleibe ein menschliches Fragment, ein Krüppel, der nur einen kleinen Teil dessen empfindet, was in ihm und in anderen wirklich ist."
Entsprechend das daraus entstehende Lebensgefühl, ständige Trennung von allen anderen. Statt meine eigene Widersprüchlichkeit zu erkennen und anzunehmen.
Verständlich auch die daraus entspringende Strategie. Ich muss "besser werden" als die anderen. In Wahrheit versuchte ich verzweifelt meine zutiefst empfundene Entfremdung zu überbrücken, was mir natürlich nicht gelang. Durch meine Projektion der inneren Widersprüchlichkeit nach Aussen wählte ich die Strategie des "besser Seins als andere", doch, "wieviel reicher ein solches Ego auch ist, in welch höherem Grade es sich auch selbst besitzen mag, es besitzt sich doch nicht selbst als Ego, noch hat es sich selbst letztlich als Mensch verwirklicht." (Richard de Martino) Durch das "besser sein als andere" versuchte ich mir selbst näher zu kommen, sozusagen mich selbst als Objekt noch besser zu besitzen. Ich wurde zu einem sehr verstandesgeleiteten Menschen, der alles und jedes erstmal objektivierte, zu einem Objekt machte, zu einem Aussen machte, in der Hoffnung, es danach als "mein Wissen besitzen zu können", also es mir näher zu bringen indem ich es als intellektuelles Wissen besitze!
Das dürfte der Grund sein, warum ich tatsächlich heutzutage ein intellektuelles Schwergewicht geworden bin. Richard de Martino nennt weitere Strategien, mit dieser Entfremdung umzugehen, beispielsweise in der Negation des Objektes als völliges Aufgehen im Subjekt, z.B. zwanghafter Genusswahn (durch Essen, Sex, Drogen u.a.).
Die naheliegendste Strategie ist der Aufbau eine Scheinidentität, welche man nachher besitzen kann. Der von sich selbst entfremdete Mensch versucht sich näherzukommen, indem er eine Scheinidentität aufbaut (z.B. "Lehrer, Vater, Wissenschaftler, Freund, Angehöriger einer Nation, BMW-Fahrer usw."), welche er dann besitzen kann. Er beginnt sich mit dieser Scheinidentität zu identifizieren und hofft fälschlicherweise, dadurch sich und dem Rest der Welt näherzukommen. Meine Scheinidentität lautete also: Ein "Wissender" zu werden, z.B. Wissenschaftler oder Philosoph oder etwas in der Art. Die meisten Menschen wählen anscheinend mehrere Strategien in Kombination.
Ich möchte am Schluss noch darauf hinweisen, dass die ganze soeben aufgeführte Abhandlung über Ich und den Subjekt/Objekt-Dualismus nur scheinbar philosophischer oder höchst theoretischer Natur ist, bzw. nur so zu sein scheint. Was sich in Wahrheit dahinter verbirgt ist von zutiefst praktischer Art. Der Mensch lebt diesen Widerspruch, er ist der vollkommene Ausdruck davon. Der Mensch spürt und fühlt diesen Widerspruch, er treibt ihn an - und doch kann er keinen Frieden finden. So erschaffen sich irgendwann die meisten Menschen im Leben eine Illusion, eine (Schein-)Identität, welche den Zweck erfüllen soll, den immanenten Widerspruch ihres Lebens zu verbergen. So gehen sie dann durch den grössten Teil ihres Lebens, glauben aufrichtig an die aufgebaute Identität, an ihr Ich und sterben irgendwann in hohem Alter einen Tod, ihren Tod. In diesem Moment erkennen sie ihren Irrtum an, verstehen sie ihren Irrglauben, dekonstruieren sie ihre Scheinidentität. Ihr Leben wird so im Nachhinein zu einer Tragödie, zu einem Scheingebilde und es geht dann nur noch darum, ob sie dieses Gebilde annehmen und als den eigenen Versuch ansehen können, den nicht auflösbaren Widerspruch zu schliessen, an welchem sie zeitlebens gescheitert sind.
Doch es gibt sozusagen eine Lösung des Konflikts (wobei man nicht von Lösung sprechen sollte, oder wenn schon, dann von "Lösung zweiter Ordnung"). Das weiss ich inzwischen, ich habe es erlebt. Ich will hier nicht näher darauf eingehen, aber es sei doch noch erwähnt, dass der immanente Widerspruch und damit die Entfremdung des Menschen untrennbar mit dem Ich-Bewusstsein des Menschen verbunden sind. Ist dieses Ich-Bewusstsein nicht vorhanden, dann gibt es keine Entfremdung. Damit meine Ich nicht Suizid als Lösung zur Zerstörung des Ich-Bewusstseins (Suizid vermag die Entfremdung von sich selbst nicht zu überbrücken, und das ist der tragische Irrtum dahinter), sondern das, was im Zen durch den Term "Satori" bezeichnet wird. Denn: "Anders als das Ego im Stadium vor dem Selbstmord hat der Schüler mit einem richtigen Lehrer die lebendige Versicherung vor sich, dass eine Lösung seines Problems möglich ist. [...] Der Schüler fühlt irgendwie, dass der Meister noch mehr Schüler ist als er selbst und dass der Lehrer von der Prüfung mit ihren Leiden und ihrer Not ebensosehr betroffen ist wie er." (Richard de Martino)
Es gibt eine Lösung. Und sie kann gefunden werden. Der Zen-Meister (und andere) gilt als lebendiges Beispiel dafür, dass es möglich ist.
Und ich? Ich weiss es nicht. Ich bin mir jetzt dieser Entfremdung gewahr. Ich weiss auch, dass ich sie nie werde überbrücken können. Ich brauche jetzt keine Strategie mehr zu suchen, ich lasse die Entfremdung einfach sein. Eine Wunde, die nie verheilen kann, so lange Ich bin.