Sich gegen ein ansteckendes Virus nicht impfen zu lassen, obschon man könnte (was bei Covid-19 ja bislang nicht der Fall ist), bedeutet ja, dass man sich selbst das Privileg herausnimmt, als möglicher Träger der Krankheit andere potentiell anstecken zu dürfen, obschon man etwas dagegen tun könnte.
Man kann es durchaus als "gewalttätig" bezeichnen, dass Menschen die Ansteckung und somit den Tod oder langwieriges Leiden anderer in Kauf nehmen wollen, um auf ihrem Recht zu beharren, sich selbst nicht impfen zu lassen.
Kurz: es handelt sich um ein typisches "Allmendproblem". Das ist eine Reihe ökonomischer Probleme, die unter anderem von der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom untersucht wurde, wo es um die Frage geht, ob Einzelne auf Kosten der Allgemeinheit gewisse Rechte für sich in Anspruch nehmen dürfen, was dieses Inanspruchnehmen für die Allgemeinheit impliziert, und wie man Anreize schaffen kann, dass eben möglichst ohne Gewaltanwendung oder -Drohung die Menschen von sich aus einen Anreiz zur Kooperation mit anderen haben. Dieselbe Art von Problem entsteht beispielsweise beim Überfischen von Seen, bei der Zerstörung der Umwelt und so weiter.
Ein Beispiel. In der Schweiz haben wir jedes Jahr (ausser in 2020) den Osterstau am Gotthardtunnel. Alle Reisenden nehmen sich das Recht heraus, zur gleichen Zeit in den wärmeren Süden zu fahren. Das Ergebnis ist, dass alle dann für Stunden im Stau sitzen. Natürlich, man könnte da jetzt Zölle oder Kontingente und sowas einführen, aber die meisten Menschen würden das als eine Beschränkung ihrer Rechte ansehen, zu jeder beliebigen Zeit von A nach B fahren zu dürfen. Und das Ergebnis ist dann halt, dass der Gotthard überfüllt ist. Ist das jetzt gut? Was haben die Menschen denn jetzt von ihrer "Freiheit", zu jeder Zeit Auto fahren zu dürfen? Wäre es nicht vorteilhafter für alle, man hätte eine vorgeschriebene Reisezeit, und dafür müsste man nicht im Stau stehen? Man könnte ja beispielsweise an den Grenzen Warteplätze schaffen, wo dann jeder ein Ticket mit einem Zeitkorridor erhält, wann er losfahren darf. Klar entstünden dann Wartezeiten dadurch, aber diese wären im Durchschnitt nicht nur kürzer als am Gotthard, sie wären auch angenehmer, weil man nicht im Auto drin sitzt ohne Aussteigen zu dürfen, sondern sich die Beine vertreten kann, während man wartet.
Ein Gegenbeispiel ist Singapur. Um in dem Stadtstaat ein Auto fahren zu dürfen braucht man eine zusätzliche Lizenz, die schnell so viel wie das Auto selbst kosten kann. Das ist natürlich eine gewaltige Beschränkung der Rechte des Einzelnen, aber dafür hat Singapur viel weniger Stau als andere asiatische Grossstädte. Es ist tatsächlich oft am günstigsten und am einfachsten, man ruft sich ein Taxi herbei, welche wegen der grossen Nachfrage auch verhältnismässig günstig sind.
Was eben in dieser Debatte oft nicht klar ausgesprochen wird: Während eine allgemeine Impfpflicht eine ganze Reihe ethischer Fragen aufwirft, wirft das Weglassen einer allgemeinen Impfpflicht genau dieselben ethischen Fragen auf.
So einfach ist die Sache eben nicht.